Homo Magi und die Schleppnetzfischer Ein heidnischer Krimi Boulevard of broken dreams
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Marianne Faithfull hat eine Stimme, die mir immer wieder Schauer über den Rücken jagt. Und Kurt Weill ist ein Komponist, den ich sehr schätze (nicht nur wegen seiner Zusammenarbeit mit Bert Brecht). Was liegt also näher, als sich Marianne Faithfull anzuhören, die Weill singt? Das ist wie mit dem Mann, der gerne Hering oder Marmelade isst. Aber Hering mit Marmelade schmeckt nicht gut. Eine solche Kombination muss also nicht funktionieren. Aber manchmal (wie bei Faithfull und Weill) hat man Glück. Ich hatte mir inzwischen einen Kaffee gekocht, ihn mit ein wenig Milch trinkbar gemacht, mir ein paar Pralinen in den Mund gestopft und war dann zu meinen Aufzeichnungen zurückgekehrt. Leider näherte ich mich einem Punkt, den ich nicht als Lieblingserlebnis verbuchen möchte ... „Ich glaube, er ist hier, um mich wiederzusehen.“ Die Zeit schien eingefroren zu sein. Das würde auch erklären, warum der Schweiß, der an meinem ganzen Körper mit irrer Gewalt aus den Poren drang, auf der Körperoberfläche sofort zu kleinen Eiskristallen zu werden schien. Von vorne schaute mich der Prediger an, als sei ich ein Insekt in einem großen Panorama, das aus unerfindlichen Gründen als einziges keine Metallnadel durch den Körper hätte, die es auf das Holz unter sich bannte. Und jetzt würde er gleich ausholen um mir einem Ruck die Nadel mir durch die Körpermitte zu rammen. Umdrehen wollte ich mich, um mich der Stimme zu stellen, die ich an allen Orten der Welt hätte wiederhören wollen – nur nicht hier! Doch die Luft um mich herum schien sich in Melasse verwandelt zu haben. Meine galante Drehung verkam mehr zu einer Drehung auf einem anfahrenden Karussell, das einem genug Beschleunigung mitgab, dass man auch nach dem Ende der Drehung sich noch im Momentum der Beschleunigung weiterbewegen wollte. Ich schaffte trotzdem meine Drehung. Leider wurde ich nicht von einem gestaltwandlerischen Außerirdischen erwartet, sondern meine Augen trafen genau die von Esther, die mich mit spöttisch hochgezogenen Mundwinkeln ansah. Und ihre formvollendeten Lippen öffneten sich erneut: „Ich denke, dass er diesen Gottesdienst als Vorwand benutzt, um mich noch einmal zu treffen.“ Jedes ihrer Worte schien von den Lippen nur zu tropfen, so voll war es von dickflüssiger Häme. Doch das machte es mir fast einfacher, als wenn sie verletzt oder traurig geschaut hätte. So war es für mich leichter machbar, den Schmerz, den Worte und Mimik erzeugten, erst einmal in den Hintergrund zu drängen und zu versuchen, mich und meine beiden jugendlichen Schutzbefohlenen aus dieser etwas unangenehmen, aber noch nicht explosiven Situation zu führen. Ich räusperte mich. „Nein, ich muss dich leider enttäuschen.“ Und mir tat es an dieser Stelle fast leid, dass ich sie enttäuschen musste, dass ich nicht der Typ von Mann war, den sie offensichtlich erwartet hatte – ein Mann, der ihr nachforschte und ihr folgte. „Es ist nicht deine Anwesenheit, die mich hierher gebracht hat.“ Ich wandte mich nun den Leuten zu, die um unsere kleine Gruppe herum Aufstellung genommen hatten. Unwillkürlich stellte ich meine Stimme um, verwendete jene Intonation, die ich früher in der Schule immer benutzt hatte, wenn ich meinen Schülern etwas erklären wollte. „Ich bin von einer ehemaligen Schülerin, die ich gestern getroffen habe,“ ich deutete auf Trix und bat sie mit Blicken, mir bei meiner Version der Geschichte nicht in den Rücken zu fallen, „eingeladen worden, sie in einen Gottesdienst zu begleiten.“ Der Prediger folgte meiner Geste und fixierte Trix. Der Vergleich mit dem Insekt drängte sich mir erneut auf, nur war sie jetzt durch die Nadel bedroht und nicht mehr ich. Ob das eine Verbesserung war ... Er schaute sie eine Weile lang intensiv an, ohne dass sie den Blickkontakt brach. „Stimmt das?“ Trix war souverän wie immer, wenn sie merkte, dass sie in die Bredouille geriet. Am liebsten hätte ich sie jetzt für diese Nummer umarmt und geküsst – ich verkniff es mir aus nachvollziehbaren Gründen im Moment und verschob es auf einen späteren Moment. Da meine amourösen Phantasien gerade den Bach runter gingen, wollte ich mich nicht durch den öffentlichen, ansatzweisen Missbrauch von Schutzbefohlenen noch stärker in den Sumpf treiben, als ich es schon geschafft hatte. Trix schaute den Prediger ruhig an. „Herr Acht war früher Lehrer in der Schule, die ich im Rahmen eines Kurses für arbeitslose Jugendliche besucht habe. Wir haben uns gestern in der Stadt getroffen und wir haben uns über den Gottesdienst heute unterhalten.“ Eine reife Leistung. Einige Sätze, um die Menge zufriedenzustellen, und darunter nicht eine einzige offensichtliche Lüge. Sie sagte nicht, dass wir uns wegen des Gottesdienstes getroffen und uns deswegen darüber unterhalten hatten. Sie log nicht, sagte aber auch nicht die Wahrheit. Jetzt, lange nach ihrer Zeit in meiner Klasse, verstand ich, wie sie ihre Eltern immer hatte um den Finger wickeln können, wenn ihr danach war. Der Prediger musterte sie einige Atemzüge lang, dann wandte er sich wieder mir zu. „Ich habe euch eben gefragt, und ihr habt mir nicht direkt geantwortet. Ich frage euch erneut: Glaubt ihr daran, das Jesus Christus für unsere Sünden gestorben ist?“ Toll. Aus dem Regen in die Traufe. Dem einen Problem war ich entkommen, der Scheiterhafen war noch nicht entzündet, aber noch immer stand ich in Ketten vor dem Stapel aus Scheiten. Das war irgendwie nicht mein Tag. Aber wenn schon Trix nicht log, dann würde ich jetzt nicht anfangen, mich um Kopf und Kragen zu lügen. Das war die Sache definitiv nicht wert. „Nein, ich glaube nicht, dass Jesus Christus für unsere Sünden gestorben ist. Wenn es das Konzept der Sünde wirklich gibt und wenn ich wirklich für meine Sünden vor einem Richterstuhl welcher Art auch immer zur Rechenschaft gezogen werde, dann bin ich bereit, für meine Sünden auch selbst zu büßen. Für euere Sünden“ – dabei warf ich einen Blick in die Runde – „bin ich nicht zuständig.“ Er schüttelte fast resignierend die Schultern. „Dann gehört ihr zu jenen, deren Schreie aus dem Fegefeuer Millionen Jahre lang aus den Tiefen der Hölle dröhnen werden, nachdem der Tag des jüngsten Gerichts gekommen ist.“ Das war so pathetisch, so dick aufgetragen, dass ich mir einen Kommentar nicht verkneifen konnte. „Wenn ihr meint ...“. Doch dann musste sich Esther in das Gespräch mischen. Warum? Warum sind Menschen nicht bereit, einen Gesprächsgegenstand ruhen zu lassen, der ihnen Schmerzen bereitet, um sich selbst noch tiefer und tiefer zu verletzen? Sie schaute mich aus diesen wunderschönen Augen an und dann holte sie mit einem Dolch aus, stieß ihn in mein Herz und drehte ihm am Heft herum. In diesem Augenblick glaubte ich, dass sie eine Seite gewählt hatte, und diese Seite war nicht die meine. „Wer ist denn deiner Meinung nach für die Sünden des Predigers zuständig?“ Verblüfft schaute ich erst sie, dann den Prediger, dann wieder sie an. In seinen Augen schien ich ein wenig Verständnis für die Szene zu sehen, die sich hier abspielte, aber Esther schien nicht wirklich zu begreifen, was sie gerade getan hatte. Ich versuchte es mit einer gewundenen Formulierung. „Heißt das, du willst wissen, wie meine Meinung zu eurer ...“ Sie unterbrach mich mit einer ausholenden Armbewegung, welche die ganzen Anwesenden im Raum einzuschließen schien. „Glaubst du daran, dass Jesus Christus für unsere Sünden gestorben ist – oder warum bist du wirklich hier?“ Irgendwie hatte ich den Eindruck, als hätte sich eben etwas im Gespräch verändert. Vielleicht war ich nicht mehr für das Verbrennen vorgesehen, sondern nur noch für lebenslang Kerker ... Aus den Augenwinkeln fiel mir auf, wie sich Alex und Trix unauffällig in den Reihen der Menschen nach außen bewegten. Sie sah mich fragend an. Ich nickte fast unmerklich. Mir sollte es recht sein, wenn sich die beiden in bessere Positionen brachten – auch wenn das vielleicht nur hieß, dass sie näher am Ausgang waren, wenn hier wirklich ein Tumult ausbrach. „Frauen und Kinder zuerst in die Boote!“ schoss mir durch den Kopf – ein passender Kommentar, um ein Kirchenschiff zu räumen. Also war es wohl an mir, das Gespräch alleine zu führen, damit die beiden ein paar Schritte Raum gewinnen konnten. Ich schaute erst Esther an, dann kurz den Prediger, dann wieder sie. „Ich bin jetzt drei Mal gefragt worden, ob ich glaube, dass Jesus Christus für unsere,“ – ich machte eine ausholende Bewegung mit beiden Armen, die alle Anwesenden einschloss – „meine“ – dabei deutete ich auf mich – „oder eure“ – hierbei deutete ich auf den Kreis um mich herum, der mich ausschloss – „Sünden gestorben ist. Meine Antwort ist und bleibt ein »Nein«.“ Ich holte Luft, und sei es auch nur, um ihnen Gelegenheit zu geben, die Scheite schon einmal zu entzünden. Nein, sie gingen nicht gleich auf mich los. Also konnte ich in meiner Schau ein wenig weiter machen. Trix und Alex näherten sich weiterhin dem Ausgang. „Ich bin gefragt worden, warum ich wirklich hier bin. Ich bin nicht hier, um dich zu sehen.“ Hierbei zog ich den rechten Unterarm vor den Oberkörper, verbeugte mich kurz ein wenig vor Esther, richtete mich wieder auf. „Obwohl das ein guter Grund gewesen wäre. Ich bin eingeladen worden und bin dieser Einladung gefolgt.“ Dabei wandte ich mich dem Prediger zu. Er hatte inzwischen die Arme vor der Brust verschränkt und schaute mich ein wenig herablassend an. Nebenbei ist das ein Gesichtsausdruck, den Fernsehprediger sich vorher abtrainieren, weil er bei ihnen nie vorkommt, aber bei fast allen anderen Priestern und Pfarrern, denen ich in meinem Leben bisher begegnet bin. „Ist es üblich, dass jeder Anwesende im Gottesdienst gefragt wird, warum er wirklich hier ist? Wahrscheinlich nicht. Ich bin hier wirklich, aber ich sage nicht, warum ich wirklich hier bin.“ Der Priester entfaltete seine Arme, hob sie zu einer jener Gesten, die ich immer mit Verdammnis und Fegefeuer assoziiere. „Wenn ihr keiner von uns seid oder sein wollt, dann seid ihr einer des Versuchers, des Teufels, des Satans, des Verwirrers!“ hob der Prediger zu einer Entgegnung an. „Euer Weltbild ist mir zu einfach, wenn man sich nur zwischen eurem Gott und eurem Teufel entscheiden kann.“ Von hinten schoben sich zwei Gemeindemitglieder an mich heran, ihre Hände spürte ich an meinen Ellenbogen. Scheinbar war die Zeit meines freundlichen Asyls hier vorbei und ich sollte aus dem Gottesgebäude entfernt werden. Nun gut, Hauptsache die Verbrennung war damit offensichtlich vom Programm gestrichen worden. Wieder hörte ich die Stimme des Predigers. „Dann ist es für euch besser, wenn ihr jetzt geht!“ Das sollte wohl das Stichwort für meine beiden Möbelschieber werden, mich aus dem Gebäude zu entfernen. Doch mir war noch nicht danach. Ich duckte mich kurz, schüttelte die fremden Arme von meinen Ellbogen ab, machte einen halben Schritt nach vorne und richtete mich auf. Dann hob ich meine Stimme. „Erinnert euch daran,
dass ich als Gast eurer Gemeinde hier war, dass ich die Wahrheit auf
euere Fragen geantwortet habe, aber ihr nicht die Wahrheit auf meine
Fragen.“ Dann wandte ich mich den umstehenden Gesichtern zu, die
scheinbar noch nicht ganz begriffen hatten, dass ich gerade meiner
Meinung nach das Gespräch mit ihrem Spiritus Rector nach Punkten
gewonnen hatte, warf einen freundlichen Blick über sie, hob die rechte
freundlich grüßend und wurde ein „Einen schönen Sonntag noch!“
los, bevor ich halb geschoben halb gehend das Gebäude verließ. *** Man geleitete mich bis zum Eingang des Gotteshauses. Einen Tritt in den Hintern erhielt ich nicht zum Abschied, aber viele freundliche Blicke wurden beim Auseinandergehen auch nicht gewechselt. Draußen warteten schon Trix und Alex, beide mit selbstgedrehten Zigaretten im Mundwinkel, auf mich. „Alles okay?“, fragte mich Alex gleich. Trix hatte wohl noch etwas von der Unterhaltung mitbekommen, denn sie lächelte breit und hielt mir den gehobenen Daumen der rechten Hand entgegen. „Alles okay!“ meinte ich beruhigend. „Jetzt aber flott: Weg hier, Alkohol, ich zahle!“ Trix lächelte ihr freundlichstes Lächeln, machte einen beinahe perfekten Hofknicks und sagte „Immer die Ihre!“. Alex lächelte nur. Dann gingen wir.
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