Homo Magi 

Interpret und Stück

20.04.2025

Homo Magi

[1]Interpret und Stück

Hallo Salamander,

irgendwann in den letzten 50 Jahren hat eine inhaltliche Verschiebung stattgefunden, die wir jeden Tag beim Konsum von Musik wahrnehmen.

Die klassische Musik (manchmal auch E-Musik genannt, als Umschreibung für „ernste Musik“) trennt sich von der Unterhaltungsmusik (U-Musik, was ich als Name echt schlimm finde) an der Frage des Interpreten bzw. an der Bindung zum Stück.

Und die E-Musik wird künstlich am Leben gehalten, sozusagen finanziell beatmet. Wie heißt es über die Musik-Verwertungsgesellschaft GEMA:

Bisher trennt die GEMA zwischen E-Musik (ernste Musik, z. B. Klassik) und U-Musik (unterhaltende Musik, zum Beispiel Pop). Obwohl 97 Prozent der Einnahmen aus dem U-Musik-Bereich kommen und nur 3 Prozent aus der Klassik, wird die E-Musik trotzdem noch überproportional gefördert. Das möchte die GEMA ändern.[1]

Verwirrend und anachronistisch.

Was heißt das aber mit der Verschiebung?

Bei klassischen Komponisten achten wir auf das Werk, erst in zweiter Linie auf den Interpreten oder gar den Dirigenten. Wer in meinem Alter auf einer Veranstaltung groß herauskommen will, der erkennt immerhin als Werk (!) die „Ode an die Freude“, „Pomp and circumstances“[2], irgendwas aus „Peer Gynt“[3] und „das Lied aus 2001“, besser bekannt als „Also sprach Zarathustra“[4]. Die meisten meiner Mitalternden haben aber (wie ich) keine Ahnung, wer das wo eingespielt hat, wer das geleitet hat oder wie alt die Aufnahme ist. Warum auch? Es geht um die Musik, das Stück, das Werk.

Heute haben wir aber in der Popmusik (und damit meine ich „populäre Musik“, ohne eine Wertung einbringen zu wollen) Titel, die klar an den bekanntesten Interpreten geknüpft sind. Natürlich gibt es Neuaufnahmen von alten Stücken, aber das Stück bleibt so im Ohr, wie wir es das erste Mal gehört haben (oder wie es populär wurde), und nicht in der Originalversion.[5]

Bei Pop möchten wir nicht, dass irgendeine unbekannte Coverband das nachspielt, sondern wir wollen das Original hören, wenn wir tanzen oder feiern gehen. Die Wahrnehmung hat sich verschoben – es gibt nur noch „das Stück“ in der Originalversion, und das wird auch im Radio rauf und runter gedudelt („die besten Hits der 80er, 90er …“ – und wie diese Anpreisungen alle auch heißen mögen, die uns täglich aus dem Radio bedudeln).

Es kommt noch schlimmer: Die Generation nach „uns“ hört auf Partys erschreckenderweise dieselbe Musik wie „wir“. Und dadurch, dass Teile der „Rolling Stones“ offensichtlich untot sind, können sie – und andere Bands, die seit gefühlt 50+ Jahren im Geschäft sind – weiterhin touren.

Das nimmt manchmal groteske Züge an, wenn der „Rolling Stone“ (!) über den Widerstand gegen Präsident Trump berichtet, der musikalisch anscheinend von Joan Baez und Neill Young getragen wird.[6] Anderer Präsident, okay – aber machen die das nicht gefühlt seit 50 Jahren? Wer nimmt ihre Stelle ein, wenn sie tot sind – vielleicht wie bei ABBA und ihren ABBAtars[7] Avatare, in denen dann verschiedene Popfiguren zu einer verschmelzen? Eine all-time-band des Rock, in der alles erklingen darf, was jemals im Rock eine Rolle gespielt hat. Eine obskure Beschwörung der eigenen Art.

Man wird älter. Ich hätte mich früher massiv dagegen gewehrt, dieselbe Musik hören zu müssen wie meine Eltern. Heute tue ich das ab und an, weil mich Operetten an meinen toten Vater erinnern und meine noch lebende Mutter über meine Hermann Heesters-Interpretationen lachen kann.

Alles ändert sich, alles bleibt gleich.

Und: Wir müssen mehr gemeinsam singen.


 

 

 


 

 

 

 

 


 

 

 


[

 


 

Kolumnen

vorherige

nächste

Mail an Homo Magi

Inhalt

Beiträge des Teams:

RezensionenMär & Satire
Essais
Sachartikel
Krimi
Nachrufe
Bücherbriefe
PR-Kolumnen
Lyrik