Homo Magi Archiv Wöchentliche Ansichten eines Magiers über den Jahreslauf und die Welt Teil 1
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Statt eines VorwortsDie hier gesammelten Kolumnen des „Homo Magi“ sind wöchentliche Briefe, die ich zwischen Samhain 2000 und 2001 im Internet veröffentlicht habe. Für diese Publikation habe ich sie gründlich überarbeitet. Wie jeder Jungautor habe auch ich versucht, sie über normale Verlage an den Mann zu bringen. Hoffnungslos. Jetzt besitze ich einen Ordner mit Ablehnungsbriefen – und wenn ich das Buch gedruckt sehen will, dann muss ich es selbst herausbringen. Nun gut. Insgesamt 18 Verlage habe mein Manuskript bekommen. Als unzustellbar kam 1 Manuskript zurück. Nun gut, scheinbar ist das Internet als Quelle für aktuelle Verlagsadressen nicht immer tauglich – und Nachsendeanträge scheinen in der freien Wirtschaft unbekannt zu sein. Ohne Antwort beließen mich 3 Verlage. Demgegenüber stehen insgesamt 3 nette Briefe, die z.T. sehr persönlich auf mein eingesandtes Werk eingehen. Das sind nebenbei auch die einzigen, bei denen ich den Eindruck hatte, jemand habe mal einen Blick in das Werk geworfen. Ich verfüge jetzt über einen beachtlichen Berg von Ablehnungs-Standardbriefen (10) und über immerhin einen Brief als Ankreuzblatter („Leider müssen wir Ihnen mitteilen, dass wir von einer Veröffentlichung Ihres Manuskripts Abstand nehmen, weil unser Verlagsprogramm einen anderen Schwerpunkt aufweist.“). Die Konsequenz ist eindeutig: Wenn ich nicht auf die Veröffentlichung verzichten will, muss ich das Buch selbst veröffentlichen. Was ich hiermit tue.
Ihr Hermann Ritter / Homo Magi
November
Lieber Salamander
Lieber Salamander,
ich habe mich dann doch dazu entschlossen, mit der Kolumne anzufangen. Nicht zuletzt Dein Zuspruch war es, der mich überzeugt hat, dass es manchmal gefährlicher ist, auf ein Zeugnis zu verzichten, als sich der Lächerlichkeit preiszugeben. Und Du versprachst mir einen Leser: Dich. Ich werde versuchen, Deinem Anspruch gerecht zu werden. Einen schönen Termin haben wir uns für dieses Werk ausgesucht. Samhain oder das Torfest, wie ich es lieber nenne. Ein Knaller ist dieses Fest zum Ende des Jahres, Verabschiedungsfest und heidnische Jahreswende, Ende und damit auch Anfang eines Weges. Etwas geht zu Ende, man muss loslassen können, Tränen fließen. Doch ungleich Sylvester mit seiner Heiterkeit, seinem Sekt und seinen Raketen ist Samhain (um bei diesem gebräuchlicheren Namen zu bleiben) immer ein besinnliches Fest, ein eher trauriges Klingen als ein lautes Singen. Vielleicht liegt das an meiner Persönlichkeit, an meiner ganz eigenen Geschichte. Immer schon war ich ein Mensch, der gerne und laut gelacht hat. Und der heidnische Gott hat in vielen Traditionen einen lachenden Anteil, eine lustige Seite. So geht es mir auch. Im Ende des Weges sehe ich nicht nur das Tor, das nirgendwohin führt, sondern ich sehe zwei Wege, die sich trennen. Zu Samhain fühle ich mich immer an einer Weggabelung stehend. Ich verabschiede diejenigen Wanderer, die mit mir durch die Jahre gezogen sind und jetzt auf die Straße abbiegen, die sie hinter die Nebel führt, in den Tod. Und ich verabschiede mich von ihnen unter Tränen und mit einem schrecklichen Kloß im Hals und mit grauenhaften Schmerzen, die in meiner Magengrube wühlen und sich so anfühlen, als würde jemand mein Herz mit einer kalten Faust umklammern. Und dann ist es vorbei. Ein letzter Kuss, ein letztes Winken, und wir gehen getrennte Wege. Der Tod macht seinen Schnitt zwischen uns, das Band ist durchtrennt, und ich gehe weiter, ein wenig mehr allein doch immer noch am Leben. Und wenn ich weiterschreite, dann fällt mir nach einigen Schritten auf, dass ich nicht allein bin. Ja, ich weiß, es gibt Menschen, die auch unter hundert anderen Menschen einsam sind. Ich nicht. Ich sehe die anderen Wanderer und weiß, dass ich auf meinem Weg nicht allein bin. Und dann tue ich das, was ich auch dann getan hätte, wenn die Toten noch bei mir wären. Ich singe, ich lache, ich schäkere, ich küsse, ich trinke, ich feiere. Ich hatte ein schönes Samhain dieses Jahr, mein lieber Salamander. Ich habe gesungen, ich habe gelacht, ich habe geschäkert, ich habe geküsst, ich habe getrunken und ich habe gefeiert. Doch Salamander, ich habe Dich vermisst. Schmerz und Freude, Liebe und Leid. Das Ende eines Weges, der Anfang eines Weges. Am Anfang dieses Weges weiß ich nicht, ob jemand lesen wird, was ich hier für Dich schreibe. Am Ende des Weges weiß ich es, und Du auch. Wir werden sehen. Segen sei. Dein Homo Magi
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Metaphysische Einkaufswagen
Hallo Salamander,
Einkaufswagen gehören für mich zu den wenigen Gegenständen, die ich als wirklich metaphysisch bezeichnen will. Sie sind Teil unserer Welt und doch Teil jener anderen Welt, deren Anwesenheit wir ab und an spüren. Okay, Salamander, Du bist jetzt an den Punkt gekommen, wo Du mich sicherlich für völlig durchgeknallt halten MUSST. Was hat ein Einkaufswagen mit Spiritualität oder gar Metaphysik zu tun? Ich will versuchen, es zu erklären. Der Einkaufswagen schlechthin ist völlig Teil der materialistischen Welt, sozusagen ein fester Bestandteil der diesseitigen Ebene. Er ist meist eine Art Metallkorb auf vier kleinen Rädern. Diese Räder haben die unangenehme Eigenschaft, so klein zu sein, dass sie über keinen Vorsprung vernünftig hinwegkommen. Meistens wickeln sich kleine Stofffusseln und Bänder um die Räder, so dass er gerne ab und an blockiert. Wenn man nicht sowieso von vornherein ein Exemplar erhält, das nur drei funktionsfähige Räder hat, oder welches – noch schlimmer! – durch einen in der düsteren Vergangenheit erlittenen Auffahrunfall ein Rad hat, welches ab und an etwas eiert und aus dem Takt kommt. Mit anderen Worten: Einkaufswagen sind vom reinen Fahrtkomfort her eine echte Herausforderung. Außerdem ist der Einkaufswagen immer wieder eine Erinnerung an das Schicksal. Das „Ziehen“ eines Einkaufswagen aus der Schlange – denn viel Wahl hat man nicht, man muss immer den ersten nehmen, kann schlecht den zweiten oder dritten herausziehen ohne ungeheuer viel Chaos dabei zu erzeugen – ist eine Art Lotterie. Man weiß vorher nie, ob man einen bekommt, bei dem auch wirklich alle vier Räder funktionieren und bei dem wirklich der Kindersitz ausklappbar ist. Alleine der Kindersitz beim Einkaufswagen wäre einer eigenen Betrachtung wert. Ich kann nur meinen Test zur Nachahmung empfehlen. Man kaufe in einem großen Spielzeug-Supermarkt einen fast kindsgroßen Teddybär. Den setze man dann in den Einkaufswagen-Kindersitz und fahre durch den Einkaufsmarkt. Okay, diese Sitze sind nicht für Stoffbären gemacht. Aber ein Stoffbär nimmt auch keinen Schaden, wenn er herausfällt – ein Kind schon. Also fahre man mit diesem Stoffbären um ein paar enge Kurven, beschleunige den Wagen etwas und bremse dann wieder abrupt ab. Was passiert? Richtig. Der Bär fliegt aus dem Wagen. Warum ich diesen total sinnlosen Test mit dem Bären vorschlage? Damit Du es – wenn Du mal anfängst, über Einkaufswagen nachzudenken, und das wirst Du sicherlich tun – mit einem Teddybären ausprobierst, und nicht mit einem Kind. Das nimmt dabei nämlich meist Schaden. Ich spreche aus Erfahrung, ich habe einen ebenso experimentierfreudigen Bruder und eine kleine Schwester. Zurück zum Thema. Das Einkaufswagen-Ziehen ist eine Art spirituelle Lotterie. Was findet man nicht so alles in „seinem“ Einkaufswagen. Verfaulte Salatblätter, alte Einkaufszettel, Notizzettel („Kartoffeln, Quark, Butter, Buttermilch, Bier, Rasierklingen“ oder noch besser „Schule, Frischmilch, Weltherrschaft“), Angebotsblätter von letzter Woche (natürlich mit ganz billigen Sachen, die man nicht mehr kriegt) oder Angebotsblätter von nächster Woche (natürlich mit ganz billigen Sachen, die man noch nicht kriegt), Schnuller (sehr beliebt!), Einkaufstüten, Verpackungsreste und – mein absolutes Highlight! – bezahlte Waren vom Vorgänger, die dieser hat liegen lassen. Natürlich ist man immer schon durch die Eingangssperre hindurch, wenn einem auffällt, dass man eben einen Lippenstift gewonnen hätte. Hätte – denn man ist ja schon wieder im Supermarkt und kann an der Kasse schlecht erklären, dass der Lippenstift eigentlich bezahlt ist. Aber nicht von einem selbst, sondern von einem mysteriösen Vorgänger, der den Einkaufswagen vor einem gefahren hat ... Und dann ist der Einkaufswagen eigentlich eher ein Nicht-Gegenstand als ein Gegenstand. Wer will schon einen leeren Einkaufswagen? Er repräsentiert unbeladen ähnliches wie eine leere Einkaufstasche – nichts. Leere Einkaufswagen sind wie leere Blätter. Erst beschriebene Blätter gehen mit Ideen schwanger. So ist es mit gefüllten Einkaufswagen auch. Sie sind schwanger mit Teilen des eigenen Lebens oder des Lebens eines anderen. An Sherlock Holmes hat mich immer begeistert, wie er aus wenigen Indizien etwas über die Lebensumstände seiner „Opfer“ herausfinden konnte. Ich bin sicherlich kein Sherlock Holmes, aber ich mache mir einen Spaß daraus, aus den Wageninhalten meiner Schlangennachbarn herauszufinden, was sie damit vorhaben könnten. Ein Fertiggericht, eine Packung Chips, eine Flasche Schnaps und eine Packung Zigaretten? Sieht stark nach einem Abend vor dem Fernseher aus. Eine Packung Pralinen, Nudeln, Cognac, Milch, Quark, Dressing, ein Kopfsalat, Kondome? Da ist Nachdenken überflüssig (hier wäre Platz für weitere Untersuchungen zum Thema „Welches Gesicht machen Menschen, die an der Kasse stehen und Kondome bezahlen wollen?“). Schnur, Partygurken, Klebeband, zehn (!) Plastiktüten, Isolierband, ein Kürbis, eine Flasche Ginger Ale, Schlagsahne. Hier wäre dezentes Nachfragen sehr hilfreich, um die eigene Neugier zu stillen. Auch immer wieder interessant ist die Beobachtung der Bindung zwischen Lebensmitteln und gelesenen Zeitschriften. Ich spreche hier nur kurz das Dosenbier-Bildzeitung-Paradoxon, die FAZ-Nudel-Bindung und das Spiegel-Schokolade-Phänomen an. Ich kann die geneigte Leserin und den geneigten Leser nur dazu auffordern, dieses Spiel im eigenen Supermarkt fortzuführen. Es ist auf jeden Fall sinnvoller, als darauf zu hoffen, dass irgendwann eine weitere Kasse aufgemacht wird, bevor man sowieso als nächster dran ist. Gut, jetzt dürfte klar sein, dass der Einkaufswagen ein zutiefst weltlicher Gegenstand ist. Er ist eine Art leerer Kessel, den wir mit den Zutaten unseres Lebens füllen müssen, damit er zu dem wird, was er ist. Ein leerer Einkaufswagen ist eine Tragödie, ein voller Einkaufswagen ein Freudenfest. Aber spirituell? Metaphysisch? Da ist der Einkaufswagen doch eine völlige Null, oder? Fast richtig. Aber eben nur fast. Der einfachere Grund ist schnell zu begreifen. Ein Einkaufswagen ist metaphysisch, weil er mehr nicht-ist als ist. Hmmm? Wenn man einen Einkaufswagen zerlegt, erhält man vier Räder, einen Handgriff (Plastik, rund), evtl. die Teile eines Kindersitzes und viel viel Draht. Der Einkaufswagen ist eigentlich eine Ansammlung von quadratischem Nichts mit etwas Draht herum. Und das ganze wird dann – um für uns handhabbar zu sein – mit etwas Plastik und vier Rädern zum Drumherum für unsere Einkäufe, zum Einkaufswagen eben. Dabei ist er viel weniger als das, wonach er aussieht. Wie ein offenes Fenster, das auch viel mehr Öffnung als Fenster ist, so ist der Einkaufswagen viel mehr umschlossenes Nichts als Umschließung. Ein eigenartiges Phänomen, oder? Aber der wahre Grund für die spirituelle Bedeutung des Einkaufswagen ist die, dass er – Meyrink[1] folgend – hüben und drüben lebendig ist. Er ist hier, in der echten (materiellen) Welt lebendig, weil er hungrig – gierig fast – darauf wartet, von uns mit Inhalt bestückt zu werden. Er steht in der Schlange, wartet auf uns und ist fast traurig, uns wieder herzugeben, wenn wir ihn zurückstellen. Vielleicht ist das der Grund, dass manche Einkaufswägen die Pfandmünze nicht wiederhergeben – sie wollen einfach nur, dass wir weiter mit ihnen herumfahren. Streichele den Einkaufswagen ein wenig, tätschele seine Plastik-Querstangen und versuche noch einmal sanft, die Münze zu entnehmen. Dein Einkaufswagen wird es Dir danken. Aber der Einkaufswagen ist drüben lebendig, weil er das Potential hat, zu mehr zu werden als zu einem reinen Einkaufswagen. Also. Warte einen sonnigen, trockenen Tag ab. Parke auf dem möglichst großen Parkplatz eines Supermarktes oder Einkaufsmarktes möglichst weit vom Eingang entfernt. Hole Dir einen Einkaufswagen und kaufe drei oder vier mittelschwere Gegenstände. Packe diese in Deinen Einkaufswagen. So, und nun kommt der interessante Teil. Stütze Dich fest auf die Handstange auf, stelle die Spitze eines Fußes auf den hinteren Rand des unteren Faches (angeblich ja für Kästen vorgesehen). Stoße Dich mit dem anderen Fuß in schneller Folge ein paar Mal ab. Und jetzt – husch – rollst Du mit Deinem Einkaufswagen wie der Blitz über den Parkplatz. Paradiesisch, oder? Und auf einmal wird aus diesem kleinen Einkaufswagen ein mythisches Vehikel, eine Art Blitz auf vier kleinen Metallrädern. Genieße den Fahrtwind, stoße Dich brav ein paar Mal mit dem freien Fuß ab und ignoriere die dummen Blicke um Dich herum. Genieße einfach das Gefühl der Losgelöstheit. So fühlt sich Leben „drüben“ an. Und so oder so ähnlich muss das Paradies sein. Genug für heute. Bis zum nächsten Mal – Dein Homo Magi!
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„Ungebrochene Traditionen“
Lieber Salamander,
manchmal frage ich mich wirklich, was die Menschen um mich herum mit ihrer Vergangenheit für ein Problem haben. Natürlich weiß ich, dass alles Leben – zumindest subjektiv – in der Vergangenheit beginnt und in der Zukunft endet. Ich wurde geboren und ich werde sterben. Anfang und Ende meines Weges. Aber der Abschnitt Geschichte, den ich in diesem Leben beobachte und beeinflusse, das ist meine Lebenszeit hier auf Erden. An beiden Enden ein wenig verkürzt durch die Jahre, in denen mein Einfluss auf die Menschheit durch Tätigkeiten wie Windel vollkacken und im Rollstuhl herumgeschoben werden etwas eingeschränkt ist, ist es doch eine ganz schön lange Spanne, die ich an Zeit habe. In dieser Zeit kann ich mir überlegen, was ich mit mir und meinem Leben anfange. Wenn ich eine Ausbildung mache, dann habe ich etwas. Ein „Jodeldiplom“ hat es Loriot mal in einer seiner Sendungen genannt. Was eigenes, was für sich. Wenn ich studiere, dann habe ich – wenn ich einen Abschluss erreiche – etwas gemacht, ich kann etwas dokumentieren. Wenn ich einen Baum pflanze, ein Kind großziehe, ein Bild male oder ein Lied singe – immer tue ich etwas und beeinflusse damit das Universum. Und der entsprechende Punkt im Universum, markiert durch die Koordinatenpunkte Ort und Zeit, dieser Punkt ist unzerstörbar. Eingemeißelt in die Chronik des Universum, gestanzt in den Rücken der Schöpfung. Doch gerade im Bereich der Magie – und über die wollte ich Dir ja erzählen – ist es so, dass man oft nicht an dem gemessen wird, was man selbst getan hat. Kein „Hic Sparta, hic salta!“ – hier ist Sparta, hier musst du springen –, sondern lange Fragen und Vorstellungsrunden über die eigenen Wurzeln. Ganz verstehe ich nicht, warum jemand mit einem ausklappbaren Ahnenlexikon im Beutel mehr wert sein soll als ein sympathischer Bastard, aber vielleicht fehlt mir hier – wie Dir – die nötige Portion Nestwärme und familiäres Glück. Und es ist nicht nur das ausklappbare Ahnenlexikon, das man immer wieder vorgeführt bekommt. Es sind auch die „ungebrochenen Traditionen“, die „zugelassenen Druiden“ oder „von Gardner ausgebildeten Wicca“, die in immer neuen Varianten den eigenen Lebenslauf aufmotzen sollen. Ganz so, als würde man einer Promenadenmischung einen „Rüdiger von Falkenfels“ und einen „Nyvoc von Ambria“ in die Ahnenliste fälschen, damit sie zwar weiterhin Promenadenmischung bleibt, aber den Gegenwert zu einem Einfamilienhaus kostet. Hässlich oder hübsch bleibt der Hund weiterhin! Wie oft durfte ich mir schon Sätze wie „meine Meisterin ist von XYZ noch persönlich ausgebildet worden“ anhören. Als wäre damit ihre Ausbildung einen Schlag besser oder schlechter als die Ausbildung der völlig unbekannten ABC. Aber über XYZ kann man wahrscheinlich Bücher und Artikel in obskuren esoterischen Magazinen nachlesen, bei ABC ist dem nicht so. Und die selben Menschen, die der Werbung für Kosmetik und Waschmittel sehr skeptisch gegenüberstehen, fallen auf einmal auf diese Werbung Hals über Kopf herein. Wo die Werbung für „Riesenwaschkraft“ und „Porentiefe“ versagt, fassen die esoterischen Magazine Fuß. Und die „ungebrochenen Traditionen“ rufen in mir immer das Bild von einem Steinzeitmenschen hervor, der einen anderen Steinzeitmenschen niederknien lässt, ihm dann sanft mit der Keule erst auf die linke und dann auf die rechte Schulter schlägt, um ihn danach aufzufordern, sein Wissen nur an Eingeweihte weiterzugeben. Und diese „ungebrochene Tradition“ überlebte dann alle Wagnisse wie Kontinentaldrift und Kriege, um heute bei mir Achtung zu erheischen. Okay, normalerweise sind die Ketten nicht ganz so lang. Aber eine Legitimation aus dem Mittelalter oder noch der Renaissance ist hier Gold wert. Im wahrsten Sinne des Wortes. Die selbe Argumentationskette begegnet uns auch, wenn Menschen sagen, sie selbst oder ihr Meister/ihre Meisterin wäre Atlanter, Venusier oder vom Sirius. Bei den Venusiern bin ich gerne skeptisch, denn was wollen die von uns (außer einen ausgeprägten Sinn für Nachbarschaft ausleben, der sie wahrscheinlich auch auf dem Jupiter anklopfen lässt). Die Damen und Herren vom Sirius überwinden die Entfernung nur, um uns zu besuchen – was ich nett, doch schwer nachvollziehbar finde. Und die Atlanter? Mein Gott, wenn die Atlanter wirklich einmal eine Hochzivilisation hatten, warum haben sie uns dann nur Scheißdreck wie Kristallschädel, Pyramiden und obskure Sprachen hinterlassen? Warum nicht handfeste Lösungen für ernstzunehmende Probleme? Wo ist sie, die atlantische Kur zur Nasenenthaarung? Wo bleibt der okkulte Lösungsansatz für Hämorriden? Und wo – um unseren lemurischen Pseudo-Vorfahren auch etwas entgegenzukommen – wo ist der lemurische Apparat, der uns immer guten Sex und keine ungewollten Schwangerschaften liefert? Es gibt sie nicht, diese Lösungen. Aber mystischen und okkulten Schnickschnack, den man sich für viel Geld in die Wohnung stellen kann. Und esoterische Ahnenpässe, die sich lesen wie Hohenzollern-Stammbäume. Doch ein guter Lehrer, ein wahrer Weiser, das wird man nicht durch Stand oder Geburt. Alle wirklich großen Meister wussten das. Alles Gute, Dein Homo Magi
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Magie und Käsetheken
Lieber Salamander,
immer wieder versuche ich Dir zu erklären, wie man Zauber wirkt. Viele meiner Kollegen, auch die Damen und Herren, die in schnuckeligen Büchern Magie zu erklären versuchen, haben riesige Vorschlagslisten, wie man Magie aufwändig und eindrucksvoll wirkt und wie man dafür sorgt, dass sie „einschlägt“. Danke, ich verzichte auf diesen Ansatz. Warum? Weil ich glaube, dass Natur nichts ist, was neben unserem Weltbild steht, sondern in unser Weltbild verwoben ist. Die Natur ist Magie, die Welt atmet Magie, und Magie ist mein beliebtestes Fenster zum Kosmos. Wenn ich also versuche, Magie zu wirken (denn mehr als versuchen kann ich es nicht, ich habe immer noch keine Garantie dafür, dass mein Zauber funktioniert), dann versuche ich, die Magie an etwas möglichst Alltägliches zu koppeln. Wie ist das zu verstehen? Natürlich ist es schön und beeindruckend, wenn man bei einem Zauber einen Drachen visualisiert oder eine tanzende Fee. Sicherlich ist es toll, wenn man Kontakt zum kleinen Volk hat (oder zu haben glaubt) und seine Magie nur über Feen abwickelt. Aber mal unter uns – wie oft begegnet man am Tag oder in einer magischen Situation Drachen und Feen? Eher selten, oder? Einer internen Berechnung in meinem Leben nach begegne ich Drachen und Feen seltener als (z.B.) Käsetheken, Zapfsäulen an Tankstellen, Müllwagenfahrern und Regenwolken. Also erscheint es mir wesentlich sinnvoller, meine Magie an Käsetheken oder Regenwolken zu binden, als an Drachen oder Feen. Du lachst. Nun, lieber Salamander, der mächtigste Fluch, an den ich je gebunden war, überfiel mich jedes Mal, wenn ich an einer Wursttheke anstand. Das mag jetzt lächerlich klingen, sicherlich, aber Du musst mir schon glauben, dass ich Dir die Wahrheit erzähle – wem sollte ich sie sonst erzählen? Ich hatte einmal einen Blick auf den Einkaufszettel eines Magiers erhascht, der mir ein wenig später etwas Übles wollte. Und da er wusste, dass ich seine Einkaufswünsche kannte, koppelte er seinen Fluch an den Einkauf von Frischwurst. Lächerlich, nicht wahr? Oder ich bin paranoid. Zumindest sehe ich Dich vor mir, wie Du Dir gerade entsprechende Gedanken machst. Auf jeden Fall ging es mir jedes Mal mies, wenn ich mich einer Wursttheke nähern musste. Deinen Unglauben kann ich mir jetzt gut vorstellen. Ich will Dich ja nicht kritisieren, aber wäre die Geschichte für Dich leichter zu glauben, wenn ich erzählen würde, ich würde von singenden Djinnies attackiert? Oder Brownies hätten einen Fluch auf meine Fahrzeugelektrik ausgesprochen? Siehst Du, auf einmal klingt das nicht mehr ganz so lächerlich. Glaube mir die Geschichte mit der Wursttheke. Sie ist wahr, wenn ich auch aus erzählerischer Freiheit heraus die Dinge etwas einfacher schildere, als sie sind. Stelle Dir Magie analog zur Liebe vor. Wenn Du verliebt bist, dann sind Deine Sinne viel stärker aktiviert als im normalen Zustand. In „My Fair Lady“ gibt es dieses schöne Liebeslied „In der Straße, mein Schatz, wo Du lebst“. Auf einmal sind alle Sinneswahrnehmungen anders, weil man ja dort ist, wo der Mensch lebt, den man liebt. Ähnlich ist es bei allen Menschen, die richtig verliebt sind. Und so ähnlich funktioniert gute Magie. Überlege Dir genau, was Du willst (nein, ich bin sicher kein Crowley-aner, und dieser kurze Einschub muss jetzt langen, um eine längere theoretische Diskussion wegen dieses Satzes abzukürzen). Dann überlege Dir, welches weltliche Ding oder welche reale Person gut wäre, um Deinen Zauber daran zu koppeln. Natürlich steht es Dir frei, auch Zwerge oder singende Banshees zu wählen. Ich glaube nur, dass mein Ansatz einfacher ist. Dann versuche Deinen Zauber mit vielen magischen Bändern an dieses Bild zu koppeln. Nehme etwas Reales, das Deinem Gegenüber öfters begegnen dürfte – wobei ich aus taktischen Gründen Liebeszauber nicht an Müllmänner koppeln würde ... Und dann überlege Dir nacheinander alle Sinne, male Dir aus, wie wirken soll, was Du gerade ausgelöst hast. Und dann lass den Zauber los und lass ihn wirken. Ich verspreche Dir, dass Du mit diesem Ansatz zu Ergebnissen kommen wirst – wahrscheinlich.
Was ich damals mit dem Magier gemacht habe, der mich verflucht hat? Nichts wirklich schlimmes. Wozu auch, denn es lohnt nicht, böse Dinge zu tun. Man bekommt sie zu schnell zurück. Ich sorge nur dafür, dass er bei einem auslösenden Reiz an mich denken muss. Und an den Geruch von Herbstlaub, den Geschmack von Pfefferminzbonbons, die Farbe der untergehenden Sonne und das Gefühl, wenn ein Marienkäfer über den Handrücken läuft. Dazu erklingt leise Musik von Grieg.
Rache ist ein Gericht, das man am besten kalt servieren sollte.
Alles Gute, Dein Homo Magi Dezember
Schatten
Lieber Salamander,
manche Menschen gehen ihren Lebensweg, ohne jemals stehen zu bleiben und einen Blick über ihre Schulter zu werfen. Sie gehen langsam ihren Weg, ohne zu erfahren, ob ihnen jemand folgt. Ich beneide diese Menschen manchmal, denn die Einfachheit ihrer Überlegungen macht mich neidisch. Sie schauen sich nie ihren Schatten an, blicken nur in die Sonne und sind glücklich. Und sie bleiben dumm bis zum Moment ihres Todes. Dann nimmt ihr Schatten sie an der Hand und bringt sie auf die andere Seite. Andere Menschen bleiben stehen. Weil sie neugierig sind. Oder falsch beraten sind. Oder weil sie einfach wissen wollen, was um sie herum passiert. Und sie schauen sich um. Einige werden von nichts verfolgt. Sie werfen einen Schatten, ja sicherlich. Doch ihr Schatten macht ihnen keine Angst, weil sie wissen, dass er nur entsteht, weil sie im Licht der Sonne stehen. Sie wissen in jedem Moment ihres Lebens, dass sie in der Sonne stehen. Und sie sind es selbst, die den Schatten hinter sich erzeugen. Wenige gibt es, die so klar und sauber denken und fühlen können. Diese Menschen sind die Heiligen dieser Welt. Viele Menschen schauen über ihre Schulter oder drehen sich um, schauen dem ins Gesicht, was uns folgt. Unser Schatten ist es, der hinter uns hergeht. Andere nennen ihn unseren Dämon, oder einfach nur das, was uns Angst macht. Es hat viele Namen, das, was uns verfolgt. Wir sind es selbst, und doch sind wir es auch wiederum nicht. Es ist Teil von uns und doch von uns abgespalten. Es ist da, wenn wir schauen – doch es ist auch da, wenn wir nicht hinschauen. Die Menschen, die über die Schulter schauen oder sich umdrehen und klaren Blickes den Weg betrachten, der hinter ihnen liegt, sind die Weisen dieser Welt. Aus ihnen rekrutieren sich alle Denker und Helden, alle Magier, alle Hexen, die Priester und Sucher. Doch sie alle unterscheiden sich in der Art und Weise, wie sie mit ihrer Angst umgehen. Einige bleiben einfach stehen und kämpfen, ohne nur einen Wimpernschlag darüber nachzudenken, was sie tun. Sie sind die Helden dieser Welt. Bis zu ihrem Tode sind sie frei von der Angst und leben ohne Schatten bis zu ihrem Tode. Städte öffnen ihre Tore, wenn sie sich nähern. Drachen senken ihren Kopf, wenn sie heranschreiten. Prinzessinnen verbringen Jahrzehnte in Türmen, um von einem von ihnen gerettet zu werden. Sie sind Helden, und sie sind todlangweilig, weil sie den Schatten schon besiegt haben. Einige handeln mit dem Schatten, um mit sich und ihrer Angst weiterleben zu können. Sie haben Angst, dass sie unterliegen könnten, und verbünden sich daher mit dem Schatten. Dies sind die dunklen Kräfte, diejenigen, welche die Mächte nicht wirklich besiegt haben, sondern mit ihnen paktieren. Einige verschmelzen mit dem Schatten und werden zu seinem Teil – oder er wird zu ihrem Teil. Manchmal begegnet man diesen Menschen, und wenn man sensitiv ist, dann merkt man, wie sich einem die Haare im Nacken aufstellen, wenn man sie anschaut. Ein Kribbeln geht über die Haut. Man will nicht mit ihnen in einem Raum sein. Oder man sagt einfach, dass die Alchemie nicht stimmt. Sie haben sich selbst neben die Menschheit gestellt, weil sie anders sein wollen. Dort bleiben sie dann auch stehen. Sie gehen auf der selben Straße wie alle anderen Menschen, aber sie sind nicht mehr Teil der großen Reisegruppe. Einige beginnen zu laufen. Sie rennen voller Angst fort von dem, was sie gesehen haben oder zu sehen vermeinten. Dies sind diejenigen, die das Zeug in sich tragen, mächtig und weise zu werden. Denn Angst ist nicht etwas, was man einfach ignorieren oder unterdrücken sollte. Helden haben keine Angst. Doch sie verlieren damit ein menschliches Gefühl, dass wie Liebe oder Hass zu uns gehört. Ohne Angst sind wir unvollständig. Das Ziel des Lebens kann und darf es nicht sein, die Angst zu verlieren. Es gibt Dinge, vor denen wir zu Recht Angst haben. Es sind die Dinge auf dem Grunde unserer Seele, die in uns tief verborgen liegen und von denen niemand je etwas erfährt, wenn wir Glück haben. Wer rennt, ist nahe bei dem, was er ist. Sein Atem brennt. Seine Beine wollen unter ihm wegbrechen. Rennen macht uns selbst-bewusst. Doch die Art des Rennens ist es, die uns unterscheidet. Manche rennen ein paar Schritte und stellen fest, dass sie nicht bis zu ihrem Tode laufen wollen. Sie bleiben stehen und kämpfen, weil sie nicht mehr anders wollen. Sie wissen, dass ihnen der Kampf bevorsteht, und sie nehmen ihn lieber jetzt auf sich als irgendwann später. Sie besiegen den Schatten und erkennen, dass er ein Teil von ihnen ist. Sie erzeugen den Schatten, weil sie in der Sonne stehen. Aber der Schatten ist ihnen nun untertan, liegt ihnen zu Füßen. Der Schatten ist da, weil er Teil von ihnen ist. Und er ist auch wiederum kein Teil von ihnen. Ihm fehlt die Tiefe der dritten Dimension, ihm fehlt die Substanz. Der Schatten darf nie herrschen, er muss beherrscht werden. Und diese Menschen lernen daher, ihn zu erfassen und mit ihm umzugehen. Diese Menschen werden die Magier und Priester, die Hexen unserer Welt. Sie haben das erreicht, was sie erreichen wollten. Mut, Selbstvertrauen, Macht. Manche andere rennen und rennen bis zu ihrem Tode. Irgendwann rennen sie an den Orten vorbei, zu denen sie eigentlich wollten. Doch sie bleiben nicht stehen, weil sie voller Angst sind. Und so rennen und rennen sie. Und irgendwann fallen sie tot am Wegesrand zusammen. Die Angst hat sie aufgefressen.
Doch was hat das alles mit mir zu tun? Warum erzähle ich das? Weil es eine winzige Gruppe von Menschen gibt, denen es anders geht. Sie bleiben anfangs auch stehen, weil sie neugierig sind. Sie riskieren den Blick über die Schulter, weil sie in Erfahrung bringen wollen, was sie verfolgt. Und sie schauen den Schatten an und sie erkennen ihre eigenen Umrisse in seinen Umrissen. Und sie wissen in einem kurzen Moment brillanter Klarheit, dass der Schatten seine Formen hat, weil sie selbst diese Formen vorgeben. Und diese Angst schnürt ihnen den Hals zu und zwingt sie, mit dem Rennen zu beginnen. Doch diese Menschen rennen schneller als andere. Oder ihr Weg ist kürzer als der anderer Menschen. Ich weiß es nicht. Sie rennen und rennen, doch der Schatten bleibt ihnen im wahrsten Sinne des Wortes an den Fersen kleben. Und irgendwann stellen diese Menschen fest, dass sie keinen Schritt mehr zurückweichen dürfen. Dass sie nicht mehr länger rennen dürfen, weil sie den Ort erreicht haben, den sie ihr ganzes Leben lang erreichen wollten. Und sie bleiben stehen. Denn sie wissen, dass dieses der einzige Punkt auf der Welt ist, den sie niemals dem Schatten überlassen wollen. Tief in ihnen entdecken sie auf einmal eine Stelle, hell und funkelnd wie ein Diamant. So, als hätte das Schicksal die Kohle ihrer Seele genommen und in der Hand so lange gedrückt, bis die Kohle zu Diamant geworden ist. Sie haben einen zweiten klaren Moment – einen klaren Moment in dem sie ganz genau verstehen, dass sie nicht länger rennen können. Dies ist der Ort, an dem sie kämpfen müssen. Dies ist der Ort, den zu verraten ihnen schmerzhafter wäre als der Tod in diesem Leben. Sie bleiben stehen und kämpfen. Nicht, weil sie sich dafür bereit fühlen. Nicht, weil sie es wollen. Sondern weil ihnen keine Wahl bleibt. Ich weiß nicht, ob die Geschichte wahr ist, dass innerhalb der russischen Armee im zweiten Weltkrieg die Devise ausgegeben worden ist „Wir können nicht weiter zurück, denn hinter uns liegt Moskau!“ Es gibt Menschen, die sich nur mit dem Schatten beschäftigen, weil sie etwas gefunden haben, was ihnen mehr wert ist als ihr Selbst, ihr Ego, als ihr ganzes Leben. Es ist nicht Liebe, die sie stehen bleiben lässt. Es ist nicht Mut, der sie zum Halten bringt. Es ist die Erkenntnis, einen Ort gefunden, zu haben, der wahr und rein ist. Und sie drehen sich langsam um und schauen dem Schatten ins Gesicht. Und der Schatten schaut sie an. Und auf einmal ist die Angst verschwunden. Der Schrecken ist verschwunden. Der Mensch sieht dem Schatten ins Gesicht – und der Schatten schaut zurück! Und beiden wird klar, dass dieser Ort, dieses Gefühl mehr wert ist als ihr Streit, als ihre endlose Jagd, die sie ein ganzes Leben lang genarrt hat. Diese Menschen verhandeln nicht mit dem Schatten, sie unterwerfen sich nicht dem Abbild. Sie bleiben sie selbst. Doch sie werden größer, denn ihr neues Selbst ist nicht länger nur durch ihren Körper begrenzt. Ihr neues Selbst besteht aus Körper und Schatten. Und sie versuchen den Rest ihres Lebens, damit zu leben, dass zwei Seelen in ihrer Brust wohnen. Die eine möchte alle Menschen befreien, die andere alle Schatten. Und diese Menschen suchen den Rest ihres Lebens. Erst suchen sie Menschen, die wie sie selbst sich vom ewigen Streit mit dem Schatten befreit haben, ohne den Schatten zu töten, zu ignorieren oder Teil von ihm zu werden. Sie suchen Menschen, die ganz geworden sind. Und sie werden zynisch und bitter wenn sie erkennen, dass es wenige gibt, die sie finden. Manche finden früh einen anderen Menschen, dem es geht wie ihnen selbst. Diese Menschen werden glücklich mit ihrem Weg. Andere finden nie einen Menschen, der wie sie selbst Zugang zu allen seinen Aspekten hat. Sie sterben unglücklich. Eine dritte Gruppe besteht aus Menschen, die beides gekannt haben können – einige haben andere gefunden, andere nicht. Aber diese Menschen versuchen, anderen Menschen zu helfen, ebenso mit ihrem Schatten umzugehen. Diese Menschen sind die Sucher. Ruhelos sind sie, weil in ihnen zwei Kräfte vereint sind, die nicht in Ruhe miteinander leben können. Feuer und Eis, Licht und Dunkel wogen in ihnen, treiben sie, bewegen sie. Diese Menschen sind es, die uns herausfordern, sich mit ihnen zu beschäftigen. Sie reizen uns, sie fordern uns heraus, sie zwingen uns, Stellung zu beziehen. Und diese Menschen machen auch immer wieder Fehler, weil sie versuchen, dem ganzen Menschen zu helfen, obwohl ihr Gegenüber doch nur Mensch oder – was sehr viel seltener ist – nur Schatten ist. Diese Menschen sind eigenartig. Ich bin einer von ihnen.
Alles Liebe, Dein Homo Magi
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Tipps zu Weihnachten
Lieber Salamander,
wir nähern uns wieder einmal jenem Fest, das wie kein anderes christliches Fest unseren heidnischen Jahresablauf stört: Weihnachten. Ignorieren kann man es nicht (das verhindern schon die riesigen Weihnachts-Beleuchtungen in der Innenstadt), damit leben kann und will man nicht. Eine echte Lösung habe ich auch nicht zu bieten, aber ich habe sechs Tipps für Dich, wie Du Weihnachten relativ problemlos überstehen kannst.
1.) Essen und Trinken Du kennst das sicherlich – nach Weihnachten sind Magen und Darm durcheinander, im Müll vor der Wohnung häuft sich das restliche Essen, und allein der Gedanke an Speise zieht einem den Magen zusammen. Es gibt glücklicherweise ein paar Möglichkeiten, diesem Problem zu entgehen. Rühre keine Nahrung an, auf welcher der Zusatz „Weihnachts-“ steht. Also keine Weihnachtskekse aus dem Supermarkt, keine Weihnachtsschokolade, kein Weihnachtsbier (da wäre ich sowieso vorsichtig, weil das meistens ein sehr schlechtes Bier ist) und kein Weihnachts(glüh)wein. Wenn Du Dich schon dem weihnachtlichen Kommerz ergeben möchtest (und sei es auch nur, um mit irgendwelchen Menschen Deiner Umgebung, die Nicht-Heiden sind, in der Vorweihnachtszeit etwas unternehmen zu können), dann empfehle ich Dir zwei Auswege. Ausweg eins ist die Angriffsstrategie. Du gehst mit den Kollegen auf den Weihnachtsmarkt, begutachtest auch liebevoll den Plunder, der da verkauft wird. Aber Du lässt die Finger von allem, wo „Weihnacht“ draufsteht. Ich empfehle Dir eine Verpflegung aus Bratwurst (die werden nicht extra für Weihnachten gemacht und sind immer gut) bzw. – wenn auf dem örtlichen Weihnachtsmarkt vorhanden – Grillteller mit Reis bzw. Nudeln. Dazu solltest Du auf keinen Fall (!) Glühwein trinken. Sinnvoller ist hier – wenn schon Alkohol nicht zu vermeiden ist – der Verzehr von normalem Wein oder „echtem“ Bier. Die Angriffsstrategie erlaubt Dir auch die Teilnahme am jährlichen Entenessen – Du musst halt nur aufpassen, dass Du Dich nachher nicht so fühlst, als hättest Du die Ente allein gegessen ... Also: Genuss in Maßen, nachher zum Verdauen vielleicht einen kleinen Schnaps und dann in die Heia. Keine Gewaltfressereien und auch keine Schokolade zum Nachtisch. Ausweg zwei ist die Verteidigungsstrategie. Statt Schokolade und fertigen Keksen gibt es selbstgemachte Kekse auf Honigbasis (statt Zucker) und dazu Nüsse aller Art. Letztere passen hervorragend (!) zu Weihnachten und der Weihnachtsstimmung – sogar bei Heiden. Bei Getränken würde ich mich auf Tee beschränken – wenn Du es ohne Alkohol aushalten kannst. Die Nächte zwischen den Jahren werden schon hart genug (und nicht nur, weil Du extensiv Sylvester feierst), und da ist ein klarer Kopf sinnvoll. Das heißt nicht, dass ich meinen Tipp mit dem Schnaps von eben zurücknehmen will. Man sollte halt alles in Maßen genießen.
2.) Musik Weihnachten ist die Zeit, wo man in Fahrstühlen und Einkaufszentren mit Nana Mouskouri und Bing Crosby beschallt wird. Die Lieder zu ignorieren ist hier nicht die einfachste Möglichkeit (und außerdem in den seltensten Fällen praktikabel!). Und nach dem fünfzigsten „Stille Nacht“ oder „White Christmas“ wird es schwierig sein, diesen Lieder noch etwas abzugewinnen. Meine Empfehlungen an Dich sind hier auf der einen Seite die klassischen Weihnachtslieder. Die orthodoxe Kirche hat einige wunderschöne Weihnachtslieder hervorgebracht, und ebensolches gilt auch für lateinische Weihnachtslieder wie „Adeste Fideles“. Und – ehrlich gesagt: Bing Crosby hat eine wunderschöne Stimme, aber er hat auch mehr Lieder gesungen als nur „White Christmas“. Auf der anderen Seite gibt es inzwischen jedes Jahr einen neuen Sampler mit Weihnachtsliedern von aktuellen Popgruppen. Es muss ja nicht gerade die Techno-Weihnacht sein, aber für Deinen Geschmack sollte auch etwas dabei sein. Meine private Hörempfehlung ist klar: Elvis Presley („Elvis‘ Christmas Album“).
3.) Fernsehen Du solltest auf gar keinen Fall den Fehler machen, an den Weihnachtstagen Privatsender anzuschauen. O Graus! O Abscheu! Die schönsten Weihnachtsfilme sind sowieso in schwarz-weiß oder zumindest aus den späten 50er- und frühen 60er-Jahren. Wenn Du schon einmal Peter Ustinov als geflohenen Verbrecher zu Weihnachten anschauen durftest (auch Bogart spielt hier einen tollen Part!), oder „Eine Weihnachtsgeschichte“ aus dem Jahre 1951, oder James Stewart als Engel-Macher in „Ist das Leben nicht schön?“, dann weißt Du, was ich meine. Wenn es schon moderne Filme sein müssen, dann wenigstens „Brazil“ (für Menschen mit starken Nerven, ich selbst gehöre da nicht zu!) oder „Nightmare before Christmas“. Eine echte Empfehlung ist auch „Die Geister die ich rief“ mit Bill Murray. Noch einmal: Finger weg vom Privatfernsehen! Dann lieber einen Videorecorder einschalten und „Raumpatrouille Orion“ anschauen. Das ist zwar nicht weihnachtlich, aber wenigstens unterhaltsam.
4.) Hausschmuck Natürlich geht in der ganzen Stadt das Licht aus, wenn Dein Nachbar von gegenüber seinen Elch auf dem Dach mit Strom versorgt. Und natürlich muss es sein, dass in jedem Fenster Lichterketten brennen. Am einfachsten ist es, wenn man sich diesem Terror entzieht. Zwei oder drei Zweige im Fenster und eine Kerze (Friedhofslichter eignen sich hervorragend, Wachskerzen – die es auch als Teelichter gibt – riechen noch dazu schön) sind genug des Schmucks. Und sie sind auch doppeldeutig genug, um niemand von den lieben Freunden oder Bekannten wirklich abzuschrecken. Und wenn Du es eine Stufe weitertreiben willst: Ich sehe nichts wirklich christliches an Elchen. Man kann die ganze Wohnung mit Elchen dekorieren, ohne einmal christlich werden zu müssen. Und lustig sieht es auch aus.
5.) Geschenke Ich habe es mir vor Jahren abgewöhnt, meine Umwelt mit teuren Geschenken zu bewerfen. 20 Euro pro Person an Geschenken sind ein guter Richtwert. Gute Bücher oder eine schöne CD und das Gefühl, dass man sich wirklich Gedanken gemacht hat, sind ein schöneres Geschenk als eine neue Stereoanlage oder ein Wasserbett. Ich habe vor Jahren meine ganze Familie mit Dingen aus „Teures Billig“ beschenkt. Es wurde ein wunderschöner Abend. Leider war mein Bruder nicht so sehr von seinem Geschenk begeistert, aber er konnte mit unserer Schwester tauschen. Und es ist einfacher eine Kleinigkeit (!) für jeden parat zu haben, als auszumachen, dass man sich nichts schenkt (was selten funktioniert). Und ich habe es mir auch abgewöhnt, Geschenke in teures Geschenkpapier zu verpacken, welches dann weggeworfen wird. Packpapier oder Zeitungspapier tun es seit zehn Jahren auch. Und die sind sogar ökologisch unproblematisch, da es sich – zumindest bei dem Zeitungspapier – um Dinge handelt, die sowieso im Papiermüll gelandet wären.
6.) Religion Natürlich ist es für einen Heiden nicht einfach, Weihnachten zu ertragen. Immerhin geht es hier um die Geburt des christlichen Heilands, und mit dem haben Menschen wie Du und ich naturgemäß wenig zu tun. Ich würde Dir daher drei unterschiedliche Strategien vorschlagen, von denen Du Dir die aussuchen magst, die Dir am besten gefällt.
a.) Vermeidung. Du ignorierst einfach den Kram mit dem Kind in der Krippe und feierst stattdessen Dein Yule-Fest, Hanukka oder Bakschi-Bakschi neben den normalen Feierlichkeiten her. Ich würde dies als „Siegen durch Vermeiden“ bezeichnen. Sicherlich bleibst Du Dir damit treu, aber das Teilnehmen an Betriebsweihnachtsessen oder an Familienweihnachtsfeiern wird damit schwierig.
b.) Du feierst gar nicht. Der Termin „Weihnachten“ ist so mit christlichen Nebendeutungen voll, dass Du von einem ruhigen Essen mit Freunden wahrscheinlich mehr hast als von drei Millionen Liedern in irgendwelchen Kirchen. Ich würde dies als „Siegen durch Ignorieren“ bezeichnen.
c.) Du setzt Dich in aller Ruhe hin und schlägst eine Bibel auf. Dort wirst Du feststellen, dass 80 % des christlichen Brauchtums keinerlei Verbindung zu den biblischen Geschehnissen haben. Du suchst lange nach den Tieren an der Krippe, und ebenso lange nach dem Weihnachtsmann oder dem Christbaum (von Elchen erst gar nicht zu sprechen!). Dafür findest Du drei (ausgesprochen hippe) Hirten, drei (ausgesprochen schnuckelige und freundliche) Könige und eine Menge mythischer Geschichten, die wesentlich mehr mit der Geburt eines großen Propheten als mit „dem einzig selig machenden Heiland“ zu tun haben. Und wenn Du Bibel-fest genug bist, um die Herausforderung zu wagen, solltest Du Dich Deiner Familie oder sonstigen christlichen Gruppen in Deiner Umgebung stellen und ihnen mitteilen, dass Du gerne bereit bist, mit ihnen „christliche Weihnachten“ zu feiern. Aber nur, wenn sich Deine Familie auch an die biblischen Grundlagen hält. Das wird dann ein sehr spartanisches Fest, aber immerhin hast Du es ihnen gezeigt. Ich würde dies als „Siegen durch Argumentieren“ bezeichnen. Ob es spaßig ist, ist fraglich.
Lieber Salamander, für Dich sollte bei diesen ganzen Anregungen etwas dabei sein, was Du Dir herauspicken kannst. Hoffe ich zumindest. Wie auch immer. Die sechs Anregungen sollten es Dir möglich machen, als Heide Weihnachten in einer christlichen Kultur zu überleben, ohne andauernd von Übelkeit und Kotzkrämpfen geplagt zu werden. Und Du kannst vielleicht auch überlegen, wie man in der Umgebung/Kultur vorhandene Symbole so benutzt, dass man nur das übernimmt, was einem wirklich (!) gefällt. Und das abschafft, was einem Widerwillen verschafft. Und das ignoriert, was sich ignorieren lässt.
Frohes Fest! Dein Homo Magi
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Schönheit liegt im Ohr des Hörenden
Lieber Salamander,
für mich war Musik immer ein besonderer Zauber. Ich kann ihn schwer beschreiben, außer, wenn ich den Umweg über den Geruch machen darf. Stelle Dir vor, Du hättest in einer schon etwas laueren Winternacht in einer Berghütte übernachtet. Und Du wachst morgens auf, weil die Sonne durch die Vorhänge auf Dein Bett scheint. Und Du stehst auf, und öffnest das Fenster, welches in das Tal hinaus blickt. Und während Du die Fensterflügel zur Seite klappst spürst Du, dass sich irgend etwas in der Morgenluft verändert hat. Es ist der Frühling, der klammheimlich über Nacht seinen Einzug in die Welt gehalten hat und nun auf einmal da ist, obwohl es gestern Abend noch kein Anzeichen für sein baldiges Kommen gab. So wie der biblische Dieb in der Nacht kam er, ein Himmelreich der Gerüche, das sich auf die Erde hernieder gesenkt hat. So ähnlich ist mein Verhältnis zur Musik. Einen Moment ist sie noch nicht da, und die Welt, die Schöpfung gar scheinen den Atem anzuhalten und darüber nachzusinnen, was es ist, das ihnen fehlt. Denn fehlen tut ihnen etwas, nur das Gefühl der Lücke reicht noch nicht aus, um dieses ferne Sehnen zu verspüren, das man nur verspüren kann, wenn man um das weiß, was einem fehlt. So ist Musik für mich. Sie fehlt mir nicht, wenn ich sie nicht hören kann. Manchmal, ganz selten fange ich von alleine an gegen die Stille eine Melodie zu singen oder ein paar Takte zu pfeifen. Ganz selten stehe ich in einem Moment der Stille auf, um eine Platte aufzulegen oder eine CD in den Schacht zu schieben. Meist ist es jedoch so, dass die Musik ohne Vorwarnung in mein Leben dringt, mein Herz umarmt und mir sagt „Du! Hast Du mich schon wieder vergessen? Hier bin ich und bringe Freude und Glück!“ Ich weiß nicht, ob es wirklich gute Musik gibt. Natürlich gibt es Stücke, die mir besonders gefallen. Grieg z.B., oder Tschaikowsky, oder auch moderne Sachen wie die „Beatles“ oder gar „Devo“. Und es gibt auch einzelne Stücke oder eher musikalische Bewegungen, die mir nicht gefallen. Viele Musikstile wirken auf mich so, als wären sie nur noch eine Zitatensammlung musikalischer Einzel-Einfälle und nicht mehr generisch neue Musik. Der Be-Bop wirkt oft so auf mich, oder der Rap. Aber es muss ja nicht so sein, dass mein musikalischer Geschmack darüber zu entscheiden hat, was gut ist und was nicht. Die Welt hat viele Geschmäcker, und auch viele Ohren, die alle unterschiedlich hören. Aber der Singsang der Melodie, der Ton der Streicher, das zärtliche Vibrieren des Klaviers und sogar der dumpfe, das Herz immer wieder antreibende Ton der Trommeln ist unerklärlich interessant, immer wieder reizvoll und von einer seltenen Originalität, die ich immer wieder gerne neu erfahre. Warum soll nur die Musik, die mir gefällt, gute Musik sein? Ich äußere meine Ansicht und erkläre, was mir nicht gefällt. Mir, meinen Ohren, und sonst erhebe ich keinen Anspruch auf Alleinvertretung. „Schönheit liegt im Auge des Betrachters“ heißt es. Doch nicht nur dort, auch in jenen immer wieder an Blumenkohl gemahnenden Auslegern an den Breitseiten unseres Kopfes. „Schönheit liegt ihm Ohr des Hörenden“, so und nicht anders kann ich Musik beschreiben. Und ich weiß doch um meine Unzulänglichkeit, denn so wie man Farben keinem Blinden erklären kann, so kann man wohl auch die Schönheit der Musik jenem nicht erklären, der kein Gehör dafür hat. Musik ist auch dem nicht nahe zu bringen, der sie nicht einlassen will, nicht fühlen kann oder will, wie sie bereit ist, in ihn einzudringen und ihn zu verändern. Musik hat immer eine gewisse Rückerinnerung in sich, die uns irgendwie an Sphärenklänge gemahnt. Den Gesang der Planeten, das Räuspern des Weltalls – man kann beides nicht immer aus der Musik heraushören. Aber manchmal, sehr selten nur fühlt man dieses Räuspern mehr als dass man es wirklich hören kann, und es durchdringt einen so, als wäre man eine Harfensaite, die von erfahrenen Fingern gerade angeschlagen worden ist. Und dann wird Musik kosmisch, zu einem Teil und zu einem Instrument der Schöpfung. Und manchmal weine ich, wenn ich Musik höre.
Alles Liebe, Dein Homo Magi
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Seelenbrei
Lieber Salamander,
ich habe mal irgendwo gelesen, dass die Hälfte aller Menschen, die jemals auf der Erde gelebt haben, in der Gegenwart noch am Leben ist. Leider bin ich mir nicht sicher, ob diese Angabe stimmt. Aber ich bin mir sicher, dass heute ein großer Prozentsatz aller jemals lebenden Menschen noch auf der Erde weilt. Wir Menschen werden viel älter als unsere Vorfahren, und es gibt einfach verdammt viele von uns auf diesem Planeten. Und solange gibt es uns Menschen noch nicht als Spezies, wie wir das manchmal gerne glauben möchten. Warum ich davon anfange? Weil es grundsätzlich gegen die Idee der Wiedergeburt spricht. Oder genauer: weil es gegen unsere Auslegung der Wiedergeburt spricht. Denn wenn man sich einmal in einen Esoterik-Laden stellt, und eine längere Zeit den Unterhaltungen der Kundschaft zuhört, oder wenn man einen auch nur flüchtigen Blick in die leider turmhohe sogenannte „Fachliteratur“ wirft, dann wird man feststellen, dass die Zahl der Wiedergeborenen sich scheinbar auf ehemalige ägyptische Prinzessinnen, atlantische Priester und keltische Krieger reduziert. Niemand war in seinem letzten Leben ein einfacher Bauer oder Bäcker. Alle waren früher zu höherem geboren und alle hatten ein wunderschönes Leben. Und wenn da eines der früheren Leben nicht so wunderschön war, dann handelt es sich bei den geschilderten Ereignissen so offensichtlich um in die Vergangenheit zurückprojezierte Ängste und Sorgen aus dem momentanen Leben, dass ein weiteres Darüber-Nachdenken zumindest mir eigentlich als sinnlos erscheint. Nun, was halte ich also von der Wiedergeburt? Viel und wenig. Wenig deswegen, weil ich der Ansicht bin, dass der momentan vorherrschende Reinkarnations-Tourismus dringend abgeschafft gehört. Ich bin nicht der Meinung, dass wir alle wissen müssen, was wir die letzten drei Leben gemacht haben. Und noch weniger bin ich der Ansicht, dass wir alle in den letzten drei Leben – wie schon erwähnt – Prinzessinnen oder Krieger waren. Alle Texte, die sich mit dieser Frage auseinandersetzen, scheinen davon auszugehen, dass unsere Seele ungeteilt von Leben zu Leben gewandert ist und daher meinen Körper heute genauso alleine ausfüllt wie sie wahrscheinlich auch schon den Körper von Oberpriester Puppli-Guzzli im fernen Atlantis alleine ausgefüllt hat. Und eben jener Puppli-Guzzli hat seine Seele mit all ihren Erfahrungen und Makeln durch die Jahrhunderte hindurch einfach via verschiedener Reinkarnationen an mich weitervererbt. Sehr unglaubhaft, wenn man sich vor Augen hält, dass bis heute nicht genug Menschen am Leben waren, um mehrere Wiedergeburten für jeden zu ermöglichen. Und ebenso unglaubhaft, wenn man nicht zu glauben bereit ist, dass die Seele im Prozess der Wiedergeburt unter Umständen auch mit anderen Seelen vermischt wird. Denkbar wäre es doch, dass es einen Seelenbrei gibt, aus dem für jeden Körper eine Schöpfkelle herausgeholt und in ihn hineingegossen wird. Und nach dem Tod wird die Seele wieder in den Mischmasch zurückgekippt und mit den anderen Seelen vermengt. Dies würde erklären, warum es möglich ist, dass sich heute weniger Seelen mehr Menschen teilen. Oder andersherum: Unsere Seelen werden kleiner, weil es mehr Menschen gibt. Keine schöne Vorstellung, nicht wahr? Und dann gibt es auch nur eine funktionierende Erklärung, wieso man sich an frühere Leben erinnern kann. Diese Möglichkeit bedeutet, dass man sich an frühere Leben erinnert, weil ein Tropfen Seelenbrei von jetzt mit einem Tropfen Seelenbrei von früher identisch ist. Und die Erinnerung an diesen Seelenbrei teilt man mit mindestens sechshundertdreiundvierzig anderen Menschen, die aus derselben Brühe mit Seelenanteilen versorgt worden sind. Keine besonders beruhigende Theorie, nicht wahr? Na ja, und irgendwie hält sich in mir immer noch eine Angst, dass es doch eine Art „Karma – Priesterbetrugstheorie“ gibt. Irgendwie ist es doch unsere Hoffnung auf frühere Leben, die uns – wenn wir daran glauben – Motivation gibt, dieses Leben durchzuhalten. Hier bin ich nur der und der, aber im letzten Leben war ich Umglopf von Globel, und das ist doch schon Motivation genug, um dieses Leben durchzustehen – nicht wahr? Wir sind nicht mehr bereit, daran zu glauben, dass nach unserem Tode das (christliche) Paradies mit Geschenken auf uns wartet, um uns für das irdische Jammertal zu entschädigen. Wieso sind wir dann unkritisch bereit, diese Heilserwartung einfach nur in die Vergangenheit zu spiegeln und unser Jenseits in das schon-erfahrene Ehemals zu verlagern um daraus dann unsere Motivation für dieses Leben zu ziehen? Die ganze Karma-Diskussion ist doch nichts anders als eine miese Erklärung für das Leid, das uns in diesem Leben widerfährt. Wenn ich in diesem Leben – Verzeihung! – nur Scheiße in die Fresse kriege, dann liegt das wohl daran, dass ich im letzten Leben KZ-Wächter, Bilanzbuchhalter oder Zahnarzt war. Und wenn ich mich in diesem Leben immer toll verhalte, makrobiotisch esse und brav mein Karma kraule, dann werde ich im nächsten Leben vielleicht Buchhändler oder gar Fernsehstar. Das ist nicht meine Version vom Paradies; und ich muss dann doch zugeben, dass ich den dumpfen Verdacht nicht loswerde, dass wir Menschen hier ganz schrecklich verschaukelt werden. Wie üblich natürlich von uns selbst ... Wenn man wirklich für das belohnt wird, was man an guten Dingen tut, und für das bestraft, was man an schlechten Dingen tut – müssen dann Belohnung und Bestrafung nicht in einem nachvollziehbaren Zusammenhang zur Tat stehen? Und ist der Zusammenhang noch nachvollziehbar, wenn die Belohnung bzw. Bestrafung erst im nächsten Leben bzw. im Paradies stattfindet? Ich behaupte: Nein! Und außerdem gebe ich beim Glauben an das Karma die Verantwortung für Strafe und Belohnung an eine höhere Macht ab, die wahrscheinlich anhand von im Leben erworbenen Karma-Punkten die Rolle im nächsten Leben verteilt. Nein danke.
Erklärungsbedürftig ist immer noch mein aus der Einleitung hängengebliebenes „viel“. Denn nur gegen etwas schießen kann – und will – ich nicht. Ich bin also bereit, mir einmal ernsthaft Gedanken darüber zu machen, ob ich an die Reinkarnation glauben kann. Der erste Schritt einer solchen Überlegung ist einfach. Ich muss bereit sein, mich auf die Theorie einzulassen, dass ich schon einmal gelebt habe. Verschiedene, zum Teil sehr intensive Gespräche mit Freunden und Bekannten haben ergeben, dass ich nicht der einzige Mensch bin, der meint, sich an irgendwelche vorherige Erfahrungen aus früheren Leben zurückerinnern zu können. Viele Menschen haben Bilder im Kopf, die sie nicht zuordnen können oder glauben daran, dass sie bestimmte Orte oder Menschen aus früheren Leben kennen oder sogar wiedererkennen. Okay, das sind alles keine gesicherten Beweise, aber dieses „dumpfe Gefühl“ der Möglichkeit langt trotzdem aus, um mich nachdenklich zu machen. Trotzdem muss es erlaubt sein, eine eigene Position zu vertreten. Und meine Position unterscheidet sich doch vom „Mainstream“ der Reinkarnations-Gläubigen. Ist die Reinkarnation nicht eher ein von Leben zu Leben geworfen werden als ein von Karma-Erfahrungspunkten abhängiger Prozess des langsamen Lernens? Wohin sollte denn dieses Karma-Lernen letztendlich hinführen – zur Existenz als halb-göttlicher Avatar etwa? Oder zum Hinausfallen aus dem Wiedergeburtsprozess, damit ich endlich meine Ruhe vor der Schöpfung habe? Beides ist Quatsch. Meiner Ansicht nach ist die Antwort ganz einfach. Wir leben nur, um Erfahrungen zu sammeln. Und wenn wir im Leben nicht genug Erfahrungen gesammelt haben, dann kommen wir wieder. Und wieder. Und wieder. Und alles nur, damit wir am Ende der letzten Existenz vor unseren Schöpfer treten und sagen können, dass wir den Kelch des Lebens bis zur Neige getrunken haben – in schlechten wie in guten Tagen. Alles Liebe, Dein Homo Magi
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Kontakt zu Außerirdischen
Lieber Salamander,
wenn es Außerirdische gibt, die mit uns Kontakt aufnehmen wollen, dann dürfen wir davon ausgehen, dass sie nicht die selben Kommunikationskanäle benutzen, die wir gewohnt sind. Das heißt: sie werden wohl kaum Rundfunksendungen haben, kein Pay-TV und wahrscheinlich keine gesprochene Sprache, die wir mit wenigen Handgriffen übersetzen können. Um Dir die besinnlichen Tage zwischen den Jahren ein wenig zu versüßen habe ich vier Kommunikationsmethoden zwischen Außerirdischen und uns aufgelistet, von denen ich annehme, dass es sich lohnt, darüber nachzudenken. Viel Spaß damit!
Variante A: Kornkreise Ja, die Außerirdischen kommunizieren wirklich mit Kornkreisen. Sie versuchen – den Vorgaben ihrer Kultur entsprechend – mit uns Kontakt aufzunehmen, in dem sie Symbole in unsere Kornfelder ritzen. Und es ist davon auszugehen, dass sie glauben, dass wir auf die entsprechende Art antworten (können). Was folgern wir daraus über die Außerirdischen? 1.) Sie können (zumindest kurze Zeit) fliegen, da sie in der Lage sind, Kornfelder aus der Luft zu betrachten. 2.) Sie brauchen Nahrung oder pflanzen Korn (bzw. verwandte Pflanzen) auf ihrem Planeten an. 3.) Sie müssten bei der Raumfahrt leicht zu entdecken sein, weil ihr Planet schon aus dem Weltraum daran zu erkennen ist, dass er von riesigen Bibliotheken aus getackerten und abgehefteten Kornfeldern im Sammelordner umkreist wird.
Variante B: Telepathie Ja, die Außerirdischen „channeln“ wirklich ihre Mitteilungen durch Medien auf der Erde. Dabei ist es egal, welche Namen unsere medial Begabten diesen Planeten geben – sie mögen glauben, dass diese Nachrichten von Venus, von Aldebaran oder Hutzliputzli kommen. Die telepathischen Außerirdischen senden wahrscheinlich nur abstrakte Informationen, die je nach dem Wissensstand und der Intelligenz des Empfängers in Text umgesetzt werden. Was folgern wir daraus über die Außerirdischen? 1.) Sie gehören einer Rasse an, die telepathisch senden kann (die Frage des Empfangs ist strittig, da wir nicht wissen, ob sie auch die Gedanken von Nicht-Telepathen lesen können). 2.) Sie verwenden missverständliche oder völlig fremde Bilder, weil die medial Begabten unseres Planeten nicht in der Lage sind, unmissverständliche Aussagen über ihre Pläne und Anweisungen auszuteilen. 3.) Wir können nur hoffen, dass sie NICHT telepathisch empfangen können (siehe die Überlegungen zu Punkt 1), weil sie dann alles erfahren, was wir denken – und dann den Kontakt sicherlich abbrechen.
Variante C: Sex Ja, die Außerirdischen entführen Frauen und schwängern sie. Was folgern wir daraus über die Außerirdischen? 1.) Sie gehören einer Rasse an, die über Körperteile verfügt, welche unseren (männlichen) Fortpflanzungsorganen entsprechen. 2.) Da es sich nicht um den Versuch der Fortpflanzung zu handeln scheint (mir ist nichts über die Geburt von Hybriden bekannt), ist davon auszugehen, dass sie den Sex als Kommunikationsform benutzen – und wir verstehen sie nur nicht. 3.) Sie glauben, dass die einfachste Kommunikation mit uns (siehe Punkt 2) der Sex mit übergewichtigen Amerikanerinnen zwischen 35 und 45 ist.
Variante D: Mohnbrötchen Ja, die Außerirdischen verändern das Muster auf unseren Mohnbrötchen und kommunizieren mit uns anhand der Muster. Was folgern wir daraus über die Außerirdischen? 1.) Sie besitzen Kommunikationsmittel, die unseren Mohnbrötchen ähneln. 2.) Sie haben absichtlich ein Breitbandmittel benutzt, mit dem sie (gerade morgens, wo der Mensch am aufnahmefähigsten ist) viele Menschen erreichen. 3.) Sie haben irgendetwas über den Zusammenhang zwischen Mohn und Kokain völlig missverstanden. 4.) Sie haben uns völlig überschätzt.
Eine schöne Zeit, Segen sei! Dein Homo Magi Januar
Orte
Lieber Salamander,
es gibt zwei völlig unterschiedliche Arten von Orten. Ich will versuchen, beide zu beschreiben. Eine von beiden Arten ist weit von uns entfernt, die andere ist tief in uns geborgen. Manchmal kommt man auf Reisen an einen Ort, von dem man sofort das Gefühl hat, man wäre hier schon einmal gewesen. Manche Menschen erklären das mit Reinkarnation. Man sei dann eben ein wiedergeborener ehemaliger Bewohner dieser Gegend. Auch wenn Logik, Menschheitsgeschichte und Glauben oftmals völlig gegen diese Ansicht sprechen – der einzelne ist von der Schlagfertigkeit des Argumentes überzeugt und fügt sich in dieses Argument. Dies ist Volksverdummung. Es gibt Orte, die berühren unsere Seele, ob wir es wollen oder nicht. Sie strömen eine Stimmung aus, die uns einlullt. Ihr Odem durchdringt uns und macht uns kurz zu einem Teil der Schöpfung. Wir werden eins mit dem Ort. Für mich gibt es drei Stufen dieser Hinwendung. Die äußerste betrifft Orte, von denen wir vorher erwarten, dass sie gut aussehen. So wie bei einem Kind, dem man vor Betreten des Weihnachtszimmers die Augen verbindet. Und wenn dann der Schleier fällt, und der Blick fällt auf den reichgeschmückten Baum, auf die bunt verpackten Geschenkpakete und auf die vielen Lichter, dann ist es sicherlich auch die Freude des Kindes, die eine große Rolle spielt. Aber die Erwartungshaltung der Eltern, ausgelöst durch die Vorbereitungen, spielt auch eine große Rolle. Wäre das Kind genauso erfreut, wenn man den Schleier abnimmt, und es steht vor einem großen Poster des Weihnachtsmannes? Ich weiß es nicht. Aber es gibt Orte, die „beworben“ werden. Angebliche Orte der Kraft, die man gesehen haben muss, um in einer bestimmten Umgebung mitsprechen zu können. Ein schönes Beispiel ist Stonehenge. Ein wundervoller Ort, voller Kraft und Energie. Hier haben Druiden Wunder getan und per Geisteskraft Steine über riesige Entfernungen transportiert. Und das alles, um eine Art riesiger Sonnenuhr zu bauen. Zumindest ist das so, wenn man den Bergen von Literatur über dieses Thema folgt. Stonehenge war für mich eine reine Enttäuschung. Vollgeschmiert mit Hakenkreuzen, nur durch einen nach Pisse stinkenden Tunnel erreichbar, von Stacheldraht umgeben auf einer nassen Wiese – Stonehenge? Doch irgendwie war dieser Ort doch begeisternd, weil hier viele Erwartungen auf einem Ort zusammenströmen. Viele Menschen glauben an Stonehenge, und sein ganzes Leben lang hört man Geschichten über diesen Ort. Er ist schon mehr als seine reale Gegenwart, er ist mythisch geworden. Prag, Salisbury und Worms sind ähnliche Orte. Unsere Vorerwartung und die Realität des Platzes wirken zusammen und schaffen eine Atmosphäre der Verzauberung. Stufe eins. Die nächste Ebene ist der Platz, über den man wenig oder nichts von anderen Menschen gehört hat. Aber er hat im eigenen Leben einen bestimmten Stellenwert erreicht, weil man ihn mit schönen Ereignissen in Verbindung bringt. Ob diese Ereignisse trotz oder wegen diesem Ort eine Rolle spielen, spielt keine Rolle. Der Ort hat eine bestimmte Bedeutung angenommen, und in dieser Bedeutung wird er für uns wichtig. En schönes Beispiel ist für mich das Haus, in dem meine Großmutter und zwei ihrer Schwestern gewohnt haben. Eine meiner Großtanten hat diesem Haus ihren Geist aufgeprägt, und meine Großmutter hat das Haus mit Seele erfüllt. Ich habe viele Sommer dort im Garten in einer Hängematte verbracht, habe hin und her geschaukelt und gelesen. Oder ich habe im Keller an einem großen Gelände im Maßstab H0 gebastelt und Haus nach Haus zusammengebaut und vorsichtig auf eine Holzplatte aufgeklebt. Im Heizungskeller habe ich gestanden und versucht, die Dunkelheit um mich herum auszuhalten und in mich aufzunehmen. Im Wohnzimmer im ersten Stock, einer klassischen „guten Stube“, habe ich Sonntags Mittags gesessen und darauf gewartet, dass das Essen kam. Und es kam schlagartig, wenn Werner Höfer wieder einmal sechs Journalisten aus acht europäischen Ländern begrüßt hat (kann sich außer mir und Dir eigentlich noch jemand an diese Sendung erinnern?). Das Bett unter dem Dach werde ich nie vergessen. Abends lief der Fernseher, und das leise Gebrabbel war ein sanftes Hintergrundgeräusch, das sich durch die Wände bohrte und mich in den Schlaf lullte. Heute noch wird mir warm um das Herz, wenn ich diesen Ort betrete. Er ist für mich erfüllt vom Zauber der Kindheit, vom Gefühl der Liebe und der Vertrautheit. Ich bin dort gerne und fühle mich dort gut. Stufe zwei. Die letzte Stufe ist die Art von Ort, die einem das Großhirn mit einem Bulldozer überfährt, wenn man sie das erste Mal betritt. Ich hatte das Gefühl erst 2 ½ Mal in meinem Leben. Einmal stand ich in einem Museum in Köln und schaute auf das Bild eines jungen Mädchens. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich dort stand. Aber mein Gefühl für Zeit und Ort war völlig untergegangen. Ich war ganz aufgelöst im Hier und Jetzt – auch wenn diese Formulierung von mir eigentlich selten benutzt wird. Dieser Ort, oder vielleicht auch dieses Bild, war irgend etwas für mich. Ereignis Nummer zwei war in Krakau. Ich ging auf einer Straße, die zum Marktplatz führte, und der Marktplatz öffnete sich auf einmal vor mir. Und ich wollte nicht mehr fort. Ich gehörte dahin, und wollte für immer dort bleiben. Und das halbe Ereignis ist ein Straßencafe in Prag. Ein halbes Ereignis deswegen, weil ich erst Jahre später mitbekommen habe, dass ich anfing, von diesem Cafe zu träumen. Ich träumte davon, an der Straße zu sitzen, auf den Pulverturm zu schauen und meine Seele einfach baumeln zu lassen. Ich weiß nicht, warum dieser Ort das in mir auslöst. Aber irgendwann werde ich es erfahren. Stufe drei. Eine andere Art von Orten sind verborgene Orte. Sie sind in uns, nicht um uns herum. Viele Menschen, mit denen ich mich unterhalten habe, besitzen „Traumorte“. Das waren Plätze, die in dem Verlauf der letzten Jahre in ihrem Schlaf immer wieder zu ihnen gekommen sind. Ich habe einige solcher Orte, zwei will ich erwähnen. Die anderen sind entweder zu unwichtig oder zu intim. Der eine Ort befindet sich in dem Haus meiner Großtante, das ich eben schon einmal kurz beschrieben habe. Ich hatte einen immer wiederkehrenden Traum. Ich quetschte mich entlang einer Wand im Erdgeschoss durch einen engen Schacht, eine Art Lüftungsschacht. Es waren ein paar Meter Weges, die ich so zurückzulegen hatte. Der Gang war stickig und eng, und es bereitete mir körperliche Qual, mich durch ihn durchzuschieben. Doch dann kam ich an ein Gitter oder eine Klappe. Ich kroch hindurch und stand auf einmal in einem hellen Raum. Die Fenster waren mit schweren weißen Gardinen verhangen. In einer Ecke stand ein Kamin, der vom Stil her zu den anderen gekachelten Kaminen im Haus passte. Der Fußboden war mit einem schweren roten Teppich bedeckt. Doch das interessante war eigentlich die Einrichtung. Der ganze Raum schien einem eindeutig mitzuteilen, dass hier um die Jahrhundertwende ein Kinderzimmer gewesen war. Eine Porzellanpuppe in einem weißen Kleid, mit einer weißen Mütze und gestrickten Socken saß vor einem Kinderbett auf dem Boden. Metallautos lagen in einer Ecke und ein hölzernes Steckenpferd stand an eine Wand gelehnt. Irgendein romantisches Geheimnis schien diesen Ort zu umgeben. War es eine geheimgehaltene Großtante von mir, die als Kind hier verstorben war? Hatten ihre Eltern und ihre Geschwister ihr dieses Zimmer „geweiht“ und geschworen, nie wieder etwas daran zu ändern? Oder war es einfach nur eine eigenartige Tante von mir, die – obwohl uralt – ab und an gerne in die Träume und Räume ihrer Kindheit zurückkehrte? Jahre nach dem ersten Träumen von diesem Ort, nachdem dieser Traum oftmals wiedergekehrt war, bin ich das Haus von innen abgegangen, um herauszufinden, ob dort irgendwo Platz für diesen Raum ist. Und ich bin sogar außen um das Haus herum, um die Zahl der Fenster von außen mit der Zahl der Fenster innen zu vergleichen. Ich fand keinen geheimen Raum. Aber ich hatte Glück. Obwohl der Raum in der Wirklichkeit widerlegt worden war, fand er weiterhin in meinen Träumen statt – wenn auch nicht so häufig wie früher. Aber immer noch irrt er so ein- oder zweimal im Jahr durch meine Träume, und ich krieche durch den Gang und stehe in diesem alten Kinderzimmer. Ein zweiter Traumort ist ein Antiquariat am Rande der Innenstadt. Wir haben ein sehr schönes Antiquariat am Theater, und wenn man von dort der Hauptstraße folgt, kommt man an einem großen Verwaltungsgebäude vorbei. Und jahrelang war ich im Glauben, dass in diesem Haus ein zweites Antiquariat verborgen liegt. Ich wusste ganz genau, wie der Hauseingang aussieht. Ich wusste auch, dass ich mich rechts halten müsse, wenn ich den Eingang durchquert habe. Dann kamen einen Anzahl langer Stufen, nicht mehr als fünf oder sechs, bevor man in einen großen Raum mit langen Holzregalen kam, in dem – nach Sachgruppen sortiert – verschiedenste Bücher standen. Ich habe oft und lange dort gewühlt und mir alle möglichen Bücher angeschaut. Nachher, nach dem Erwachen, wusste ich nicht immer genau, was ich in der Hand gehalten und betrachtet hatte. Aber im Traum war ich im festen Glauben, dass ich das, was ich betrachte, auch wirklich in mich aufnehme. Im Traum hatten die geträumten Bücher eine eigene Realität, und meine Traumerfahrungen, die ich ihnen entnahm, verblieben auch in ihrem Reich, dem Traum. Ich bin auch eines Tages diese Straße abgegangen um herauszufinden, ob es dieses Antiquariat gibt. Es gibt es nicht. Aber ich träume heute noch ab und an davon und lese in seinen Büchern. Eine letzte Gruppe von Orten sind die Orte in uns. Ich glaube daran, dass unsere Seele sich, wenn sie völlig entspannt ist, aufmacht, um auf einer anderen Ebene Frieden zu finden. Vielleicht ist dies die Ebene der Ideen, oder einfach nur eine magische Ebene. Vielleicht ist das die Ebene der Wahrheit, oder die Ebene der echten Dinge. Vielleicht ist es die Traumzeit oder eine unerklärliche fremde Dimension. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass die meisten Menschen, mit denen ich mich darüber unterhalten habe, zugegeben haben, dass sie dort „oben“ einen Ort besitzen, in dem ihre Seele sich zuhause fühlt. Mein eigener Ort hat sich im Lauf der Jahre verändert, so wie ich mich verändert habe. Früher, bei meinen ersten bewussten Reisen dorthin, so vor etwa zehn Jahren, handelte es sich bei meinem „Seelenort“ um eine kleine Hütte in einem Waldstück. Ein schmaler Fußpfad hatte mich immer dorthin geführt, und wenn ich die Lichtung betrat, auf der das Haus lag, ging es mir gleich besser. Vor dem Haus stand auf der Sonnenseite eine lange Holzbank, auf der ich oft saß und die Beine ausstreckte. Die Fenster waren mit hölzernen Verschlägen verschlossen, und immer wenn ich kam, ging ich hinein in das Haus, stieß die Fenster auf und schüttelte das Bett aus. Dann setzte ich mich hinaus und schaute dem Sonnenuntergang zu. Oder den Wolken, die über meine Lichtung ziehen. Oder einfach nur den Blumen. Fairerweise sollte ich erklären, dass ich beim Denken an diesen Ort nicht auf der Lichtung auftauche, sondern erst eine Rolltreppe in einen U-Bahn-Schacht hinunterfahre. Doch das ist eine andere Geschichte und soll ein andermal erzählt werden. Dafür habe ich seit einiger Zeit einen zweiten Ort, der in meinen Träumen und Gedanken eine große Rolle spielt. Es ist eine Art Kloster aus dem Mittelalter. In der Mitte des Klosters befindet sich eine Wiese mit einem einsamen, alten Baum. Um die Wiese herum führt ein Säulengang, der die Form eines großes Rechteckes hat – die West-Ost-Achse ist ein wenig länger als die Nord-Süd-Achse, so dass kein perfektes Quadrat entsteht. An der Außenseite des Säulenganges befinden sich Räume mit allem möglichen Funktionen. Hier gibt es Schlafzimmer, Arbeitszimmer, ein Bad, aber auch einige Bibliotheken usw. Ich kann nicht jeden Raum einzeln beschreiben, weil sie sich zu verändern scheinen und sich den Notwendigkeiten anpassen. Doch das Gesamtbild bleibt gleich. Der Ort strahlt eine riesige Ruhe aus. Und an in diesem Ort finde ich zu mir selbst. Hierhin „verschwinde“ ich, wenn ich nur einen kurzen Moment Zeit habe, aber viel Energie brauche. Oder ich bin hier, wenn ich wissen will, was passiert und einfach Ruhe zum Nachdenken brauche. Dieser Ort hat nichts mit der Außenwelt zu tun, denn er liegt tief in mir geborgen. Er ist für mich das, was einer Sicht auf mein innerstes Selbst am nächsten kommt.
Ich denke an Dich, Dein Homo Magi
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Fragen und Antworten
Hallo Salamander,
in letzter Zeit denke ich wieder verstärkt darüber nach, wie es ist, wenn Leute von einem wirklich Antworten wollen. Nicht nur Fragen stellen, um selbst etwas zu einem Thema anmerken zu können. Das erinnert mich immer ein wenig an das Angeln ohne Köder. Man spürt den Gesprächshaken im Arm, aber man hat weder nach einem Wurm gebissen noch sich so heftig bewegt, dass man aus Versehen an den Haken gelangt sein könnte. Und dieser Haken steckt im Fleisch, und wenn man nicht unhöflich sein will, dann führt ein freundliches „Und wer bist Du?“ zu einem stundenlangen Monolog über die Jugend des Gesprächspartners hin zu den Minen von Moria, mit einem kleinen Seitenabstecher zum blauen Tor von Atlantis und der grün-gelben Straße aus Wackelpudding, auf der seine Seelenvorfahren vor vielen Äonen von den Sternen herabgestiegen sind. Nein, letztere Gruppe waren aber nicht die, über die ich zu Dir sprechen wollte. Es geht um jene Menschen, die wirklich Antworten suchen. Die einem Fragen stellen, weil die Antworten ihnen wichtig sind. Und zwar meine Antworten, und nicht ihre eigenen Antworten. Ich bin leider dem Phänomen noch nicht näher gekommen, warum Menschen Fragen stellen, auf die sie die Antwort selbst wissen. In Gesprächen, in denen man ernsthaft miteinander spricht, sollte man doch versuchen, Antworten auf Fragen zu erhalten, die man selbst nicht beantworten kann, oder? Ich habe wirklich viele Gespräche geführt. Und im Laufe der Jahre wurden es mehr und mehr Frager, die nicht nur meine Antworten hören wollten, sondern auch anfingen, meine Antworten in Lebensregeln für sich selbst umzusetzen. Ich weiß nicht, wann diese Entwicklung anfing, mir aufzufallen. Auf jeden Fall weiß ich, dass ich die ersten weißen Haare in meinen Locken fand, als ich feststellte, dass ich nicht nur älter werde, sondern auch ein Alter erreicht habe, in dem Leute eher bereit sind meine Autorität anzuerkennen, als noch nur fünf Jahre vorher. Mir werden Fragen gestellt, und ich beantworte sie auch. Doch wenn ich der Meinung bin, dass das Gespräch wirklich ernst gemeint ist, man ernsthafte Antworten von mir fordert und auch bereit ist, abzuwarten, bis ich nachgedacht und eine vernünftige Antwort formuliert habe, dann habe ich es mir angewöhnt, zwei kleine Kontrollen einzubauen, um für mich sicherzugehen, dass ich nicht völligen Blödsinn erzähle. Die erste Kontrolle ist die, dass es eine Frage sein sollte, die mir gestellt worden ist. Keine Frage, die ich für meinen Gegenüber formuliert habe, keine Frage, die ich ihm (oder ihr, denn ich rede sicherlich nicht nur mit Männern, nein über manche Themen sogar viel lieber mit Frauen) in den Mund gelegt habe. Die Frage muss meinem Gegenüber wichtig sein, daher muss er sie selbst stellen, egal wie viel Überwindung ihn das kosten mag. Die zweite Kontrolle ist die, dass ich um Hilfe gebeten werden will. Das mag sehr arrogant klingen, aber es ist es eigentlich nicht. Ich bin einfach zu oft gefragt worden, habe eine Antwort gegeben und durfte dann miterleben, wie der Mensch, der mich befragt hat (und solche Fragestunden kosten mich nicht nur Zeit, sondern auch Kraft), wenige Minuten später an einem anderem „Guru“ klebt und sich die selbe Frage anders beantworten lässt. Und ich will mir nicht noch einmal vorwerfen lassen, ich hätte bestimmte Ereignisse doch nur ausgelöst, weil ich unbedingt über ein bestimmtes Thema sprechen wollte. Oder ich hätte die Diskussion doch selbst gewollt, mein Gegenüber sei nur der Höflichkeit halber auf meinen gedanklichen Argumentationsstrang aufgesprungen. Nein, das möchte ich nie wieder. Wenn jemand will, dass ich mir Gedanken mache, dann muss auch klar sein, wer Fragesteller und wer Beantwortender ist. Das soll nicht heißen, dass ich in solchen Gesprächen nichts lerne. Ganz im Gegenteil, ich lerne sehr viel dabei, Fragen zu beantworten. Aber die Rollenverteilung muss klar sein, damit ich mich einlassen kann. In persönlichen Gesprächen tue ich es nie (nun gut: selten), aber in Vorträgen und Artikeln habe ich eine dritte Kontrollmöglichkeit eingebaut, die ich verwende, um mich selbst zu kontrollieren. Ich habe Angst vor dem Tag, an dem Leute meinen Theorien nur folgen, weil sie von mir geäußert werden. Niemand würde davon ausgehen, dass ein fähiger Konditor auch ein guter Kieferchirurg ist, aber die meisten Leute scheinen bei der Magie zu vermuten, dass eine bestimmte Fähigkeit auf einem Gebiet auch gleichzeitig Fähigkeiten auf einem anderen Gebiet erzeugt (ich gebe aber auch gerne zu, dass viele meiner „Kollegen“ diese Ansicht selbst verbreiten, um ihre eigene Unanfechtbarkeit zu untermauern!). Ich bin nicht fehlerlos, und ich verstehe auch nicht alles, was um mich herum passiert. Deswegen baue ich ab und an „Realitätstests“ in meine Werke ein. Ich sorge dafür, dass ich irgendeine These vertrete, die völlig hanebüchen ist. Oder ich vertrete einen unhaltbaren Standpunkt, schlage eine nicht tragfähige Gedankenbrücke oder tue ähnliche Dinge, um Widerspruch herauszufordern. Kommt der Widerspruch, dann bin ich sehr zufrieden. Kommt er nicht, dann mache ich mir Sorgen. Egal, wie klug jemand ist, man sollte seine eigene Kritikfähigkeit nie abschalten. Ein gutes Beispiel ist dieser alte Witz mit Hape Kerkeling und „Hurz!“. Das ganze Publikum von Musikkritikern war bereit, die völlig miserable Darstellung als echt und gut und sinnvoll zu akzeptieren, weil Rahmen und Aufführung stimmten. Nur eine junge Frau meinte, dass ihr das überhaupt nichts sagte. Sie hatte sich ihre Kritikfähigkeit bewahrt, war in der Lage, auf ihr eigenes rationelles Denken zurückzugreifen, um damit zu argumentieren. Zum Glück. Es sind immer die Menschen, die am ehesten zu ihren eigenen Quellen stehen, die des Kaisers neue Kleider entlarven – oder Narren und Kinder, bei denen unser intellektueller Überbau noch nicht (oder nicht mehr) vorhanden ist. Hören wir auf diese Narren, um unsere eigene Überheblichkeit in den Griff zu bekommen! Einen solchen oder ähnlichen Spruch könnte ich mir auf die Fahnen schreiben. Zumindest hoffe ich das, und hoffe auch, dass dies nicht eine weitere intellektuelle Spielerei ist, um mich selbst zu legitimieren.
Ich denke an Dich, Dein Homo Magi
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Die Liebe …
Hallo Salamander,
was die Welt sicherlich nicht braucht, ist eine neue Beschreibung der Liebe. So oder so ähnlich war der erste Gedanke, der mir durch den Kopf schoss, als ich begann, darüber nachzudenken, etwas über die Liebe zu schreiben. Aber ich machte mir weiterhin Gedanken über dieses Thema. Und so stellte ich fest, dass es unendlich viele Möglichkeiten der Liebe gibt – aber nur eine endliche Zahl an Beschreibungen der Liebe durch Menschen. Also versuche ich nur, einen weiteren kleinen Tropfen in den Fluss zu schütten, wenn ich die Liebe beschreibe. Aber es ist wenigstens mein Tropfen.
Liebe. Liebe hat für mich viel mit Unterhaltung zu tun. Warum? Nun, weil ich mal irgendwo gelesen habe, dass es drei unterschiedliche Formen der Unterhaltung gibt. Diese drei Formen sind der Monolog, der Dialog und das Gebet. Und genauso, wie ich diesen Satz auf mein Leben und die Rolle der Sprache und der Unterhaltung in meinem Leben angewandt habe, so verwende ich dieses Sinnbild auch dazu, um zu erklären, was ich unter Liebe verstehe. Für mich gibt es auch drei Formen der Liebe. Die Liebe zu sich selbst, die Liebe zu anderen Menschen und die Liebe zu Gott. Die Liebe zu sich selbst steht nicht umsonst an Platz eins meiner Aufzählung. Sie ist nicht die wichtigste Liebe im Leben eines Menschen – sie steht eher auf Platz drei –, aber sie ist Vorbedingung für die beiden anderen Formen der Liebe. Denn: wer sich selbst nicht liebt, der kann auch niemand anderen lieben. Wer sich selbst nicht achtet, kann nicht ermessen, was an anderen Menschen eigentlich be-acht-lich und achtenswert ist. Wer sich selbst nicht leiden kann, wird un-leidlich und hört auf, andere Menschen interessant und attraktiv zu finden. Wir selbst sind für uns immer der einzige Mensch, über den wir wirklich genug Informationen haben, um ihn richtig einzuschätzen. Und wir selbst sind auch die einzige Richtschnur, die wir wirklich kennen, um an ihr Tiefe und Bedeutung der Gefühle zu messen. Wer sich selbst zu wenig liebt, für den ist auch jedes laue angenehme Gefühl für andere sofort Liebe. Wer sich selbst zu stark liebt, für den ist es fast unmöglich, dasselbe Feuer im Herzen für einen anderen Menschen zu finden. Nur wer sich selbst in vernünftigen Grenzen liebt – nicht zu heiß und nicht zu kalt –, der hat eine Chance, einen anderen Menschen zu finden, den er genauso oder mehr lieben kann wie sich selbst. Die Liebe zu sich selbst zwingt einen auch dazu, gewisse Äußerlichkeiten unter Kontrolle zu behalten. Ich verlange nun wirklich nicht, dass alle Menschen die selbe Kleidung tragen, den selben Haarschnitt haben oder die selben Umgangsformen beherzigen. Das liegt mir fern! Aber Menschen mit einer gesunden Selbstliebe haben auch Selbstachtung. Sie wissen, dass sie liebenswert sind (auch wenn sie unter Umständen nur von sich selbst geliebt werden), und sie wissen, dass man das, was man liebt, auch pflegen muss. Die Liebe zu anderen Menschen ist der Schritt, der früher oder später aus der Liebe zu einem selbst erwächst. Wenn wir erkannt haben, dass wir uns selbst lieben, dann ist da auf einmal ein Gefühl, das auch Optionen für andere Menschen enthält. Wer ist der erste Mensch, den wir lieben? Mutter oder Vater – die eigenen Eltern? Die erste Freundin bzw. der erste Freund? Unsere eigenen Kinder? Wie auch immer, ich weiß es nicht. Liebe ist oftmals ein Gefühl, das in einem heranwächst, ohne dass man erklären könnte, wo es auf einmal hergekommen ist. Es taucht auf, und auf einmal ist man von innerer Wärme überschwemmt, die jeden Teil des Körpers in Schwingung zu versetzen scheint. Und wenn man dann überlegt, woher dieses Gefühl kommt, dann stellt man fest, dass es sich tagelang, wenn nicht gar monate- oder jahrelang in einem aufgebaut hat. Wie eine kleine Pflanze kann Liebe wachsen und groß und stark werden. Es gibt aber auch Liebe, die einem wie ein Passagierdampfer in voller Fahrt durch das Hirn fährt. Und während das Hirn vom Tuten und vom reinen Anblick des riesigen Schiffes wie hypnotisiert ist, reißt einem der Kiel des Schiffes Herz und Seele auf. Und auf einmal überflutet einen die Liebe. Diese Art der Liebe ist doppelt schmerzhaft. Denn aus diesem geöffneten Herzen brandet auch eine Flutwelle der Liebe hervor, die sich teilt. Ein großer Teil geht zum anderen, wird zur Liebe für ihn oder sie. Ein kleiner Teil jedoch bleibt bei einem selbst und die Liebe für sich selbst wird größer, weil man die eigene Liebesfähigkeit (wieder) erkannt hat. Zum Glück gibt es diese Liebe in einer Form, die im gleichen Moment zwei Menschen dasselbe tiefe Gefühl füreinander empfinden lässt. Wenn es diese Form der tiefen Liebe nämlich nur in einer Form gäbe, die einen glücklichen Ausgang unmöglich macht – ich glaube, dann hätten wir Menschen uns längst selbst ausgerottet, weil wir immer voller Angst wüssten, dass auf den schrecklichen Schmerz dieses „Aufgerissenseins“ immer nur Verzweiflung und Scheitern folgen müssen. Die dritte und größte Form der Liebe ist die Liebe zu Gott. Einige Menschen werden sich jetzt vielleicht bestürzt fragen „Wo bleibt die Liebe zur Natur?“, „Wo bleibt die Liebe zur Musik?“ oder „Wo bleibt die Liebe zum Tier?“. Ihnen werde ich antworten müssen, dass ihr Einwand töricht ist. Alle Dinge, die wir lieben können, sind Teil von Gott. Wir selbst sind Teil der Gottheit, und sogar wenn wir nur uns selbst lieben, so lieben wir auch das Göttliche in uns. Jeder andere Mensch ist natürlich ein Teil der Gottheit, und wenn wir ihn lieben, so lieben wir auch das Göttliche in ihm. Gott ist in der ganzen Schöpfung, und wenn wir irgendeinen Teil der Schöpfung lieben, dann lieben wir auch ihn. Doch bedarf diese Liebe zu Gott eines Aktes der absichtlichen Hinwendung, um wirklich mächtig zu werden. Die Liebe zu Gott, die Teil der Liebe zu anderen Dingen ist, muss – und sei es nur für einen kurzen Moment – zur direkten Liebe an Gott werden. Der Liebende muss sich kurz bewusst werden, dass Gott nicht nur in allen Dingen ist, die er liebt, sondern auch hinter ihnen steht. Gott ist das „Ding“ oder der Ort, den wir erreichen, wenn wir die weltlichen Dinge transzendieren. Wenn man dies wirklich verstanden hat, dann öffnet sich einem ein Kosmos voller Freude. Und so, wie wir selbst Liebe und Zutrauen erfahren, wenn wir uns selbst lieben lernen, so, wie wir Liebe und Vertrauen erhalten, wenn wir Liebe und Vertrauen an andere Menschen geben, so erhalten wir reine Liebe von Gott zurück, wenn wir uns nur überwinden können, Gott Liebe zu geben.
Dein Homo Magi
P.S.: Verzeih mir bitte, dass ich nicht in braver heidnischer Manier immer „Gottheit“ statt „Gott“ – oder „Göttin und Gott“ – geschrieben habe. Für das, was ich aussagen wollte, ist keine geschlechtliche Festlegung nötig. Aber das Wort „Gott“ geht mir einfacher aus der Feder als das mir zu unpersönliche „Gottheit“. Du wirst mir verzeihen (müssen).
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Internet und Thoreau
Hallo Salamander,
viele Menschen scheinen zu glauben, dass der Computer und besonders das Internet die Entdeckung der Menschen schlechthin seit der automatischen Zahnbürste ist. Ich bin nur ungern anderer Meinung als die meisten meiner Bekannten, aber ich glaube eigentlich, dass das Internet massiv überschätzt wird. Okay, ich höre Deine Einwände. Warum ich nicht ab und an mal in die Werbung sehe oder mir Gedanken mache, was eigentlich meine Umwelt den ganzen Tag so treibt. Chatten, vermute ich, oder im Internet surfen oder sich die Zeit damit vertreiben, Tag und Nacht Berge von E-Mails zu verschicken. Zumindest suggeriert mir das die Werbung. Lustigerweise glaube ich aber, dass diese Wahrnehmung falsch ist. Wenn man überlegt, wie viel Zeit man investiert, um all diese Segnungen genießen zu können, wird man herausbekommen, dass man unter dem Strich Zeit verliert. Quatsch? Nun gut, fangen wir mit einer Argumentation a la Thoreau[2] an. Als erstes brauchen wir die sogenannte Hardware, also einen Computer plus die dazugehörigen Geräte wie Modem etc., von Software erst gar nicht zu sprechen. Wir überlegen uns jetzt in Ruhe, was der ganze Kram, wie er so vor uns steht, gekostet hat. Dann rechnen wir unseren prinzipiellen Stundenlohn aus (am besten rein netto, um Augenwischereien wie unseren tollen Bruttoverdienst mal ignorieren zu können) und berechnen flugs, wie viele Stunden wir eigentlich arbeiten müssen, um unseren Computer samt allem Drum und Dran überhaupt zu erwerben. Dann berechnen wir unsere laufenden Kosten pro Monat (Provider, Strom, Telefon etc.) und überschlagen mal ungefähr, wie viel Geld wir eigentlich ausgeben müssen, um unseren Computer in regelmäßigen Abständen zu erneuern bzw. zu ersetzen. Wenn wir das ausgerechnet haben, dann können wir in aller Ruhe weiterhin berechnen, was wir pro Monat an Zeit mit dem Verdienen von Geld einsetzen müssen, um das alles am Laufen zu halten. Der nächste Schritt wäre jetzt zu überlegen, wie viel Zeit wir aufwenden bzw. aufgewendet haben, um die entsprechenden Programme zu verstehen und in die Grundregeln der entsprechenden Kommunikation eingearbeitet zu sein. Ich hoffe jetzt einfach mal darauf, dass diese Zeit nicht andauernd neu eingesetzt werden muss, sondern dass man nur die ersten zwölf Monate dafür Aufwand betreibt. Wenn man sich also noch in den ersten zwölf Monaten der Internet-Nutzung befindet, dann sollte man diese aufgewendete Zeit brav mit jeweils 1/12 pro Monat zu Buche schlagen lassen. Wenn es länger her ist, dass man in das Zeitalter der Netz-Menschen eingestiegen ist, dann hat man jetzt Glück gehabt, und man bekommt nichts angerechnet. So, jetzt haben wir unseren Zeitverlust pro Monat, den wir einsetzen müssen, um überhaupt mit dem Computer Zeitgewinn zu erwirtschaften. Diese monatliche Summe muss erst einmal „erwirtschaftet“ werden, bevor wir anfangen, tatsächlichen Gewinn aus dem Computer zu ziehen. Und wo ziehen wir Gewinn aus der neuen Kommunikation? Okay, wir sparen Zeit und auch Kosten, wenn wir statt unsere Post mit der gelben Post zu verschicken alles per Mail machen. Die Frage ist natürlich, ob die Form der Kommunikation die selbe ist. Gestern habe ich zufällig einer Sendung im Radio gelauscht, wo die Frage gestellt worden ist, was einen wirklichen Glücksmoment ausmachen würde. Und der Moderator sagte wie aus der Pistole geschossen „Mal wieder einen handgeschriebenen Brief kriegen!“. Dem kann ich mich nur anschließen. Briefe gaben einem die Möglichkeit, auf eigenem Briefpapier kreativ Briefe zu erstellen und damit dem Empfänger gleich einen Einblick in die eigenen Fähigkeiten zu geben. Mails sind ausgesprochen hässlich und verführen einen nicht dazu, sich über Optik und Layout allzu viele Gedanken zu machen. Dazu kommt, dass die meisten Menschen auf Mails nicht mehr mit Briefen antworten, sondern nur noch zitieren („quoten“), dann nach vielen Zitationszeichen ein „Bin Deiner Meinung!“ oder „Okay“ reinhauen und die Mail genauso zurückschicken. Und irgendwie war es auch so, dass man sich für einen Brief mehr Zeit genommen hat als für eine Mail. Oder bilde ich mir nur ein, dass ich mich früher mehr auf das Öffnen meines Briefkastens unten an der Haustür gefreut habe als ich das heute tue, wenn ich meine Mails herunterlade? Vom chatten bin ich völlig abgekommen. Ich bin nun wirklich ein Mensch, der gerne und viel redet. Und leider auch zu viel, wenn ich das richtig verstanden habe, was meine Umwelt mir so in den letzten Jahren mitgeteilt hat ... Aber das chatten, das ist wie eine Art Maskenball im Dunkeln. Ich weiß nicht, wer Du bist, Du weißt nicht, wer ich bin, und wahrscheinlich werden wir es beide nie herausbekommen, wer unser Gegenüber wirklich ist. Natürlich sind Tarnnamen (okay, Spitznamen finde ich in diesem Zusammenhang einfach den falschen Begriff) nachvollziehbar und verständlich, aber warum muss jeder so ähnlich wie Merlin23, KleineFee oder Morgana-118 heißen? Ich bin mit meinem Namen ganz zufrieden, und ich verwende ihn auch immer wieder. Natürlich habe ich auch Freunde & Bekannte, die unter ihren Spitznamen bekannt sind. Aber die haben dann EINEN Spitznamen, den sie seit vielen Jahren tragen und auch in vielen Jahren tragen werden (okay, ich habe bei den meisten meiner Freunde nicht in den Personalausweis geschaut um festzustellen, ob Michael wirklich Michael heißt – ich gehe einfach davon aus, okay?). Und Zeitgewinn beim chatten – Gewinn an welcher Aktivität, die ich durch das chatten ersetze? Der freundliche Schwatz mit dem Nachbarn oder die Unterhaltung an der Gemüsetheke, das sind doch Dinge, die der Chatter von heute als klischeehaft ablehnt – um sie dann im Netz nachzuholen, und dies bei einem größeren Zeitaufwand (wobei ich mich outen muss – ja, ich rede mit Verkäuferinnen!). Und das Internet? Völlig überschätzt. Die Aktienwerte brechen zusammen, die meisten Leute werden ihren Konsum niemals über das Internet beruhigen können (dazu ist die Präsentation im Schaufenster oder in den Theken einfach deutlich besser als die Präsentationsmöglichkeiten im Netz das hergeben), und es ist der zwischenmenschliche Kontakt, der das Einkaufen so interessant macht. Zumindest in diesem Bereich wird das Netz die „echte Welt“ nicht ein- oder überholen können. Und als Wissensvermittlung? Natürlich gibt es viele Daten im Netz, richtig. Aber können wir diese Daten auch in dem Maße überprüfen, wie wir die Herkunft von Informationen aus Büchern überprüfen können? Sind die Informationen am nächsten Tag am selben Ort im Netz noch genauso identisch wie es die Informationen in einem Buch bleiben? Ich wage das zu bezweifeln. Und das Netz ist so viel anstrengender als ein gutes Buch ... und außerdem kann man Bücher auch im Zug oder in der Straßenbahn lesen. Und der Zeitgewinn? Mit dem Internet suche ich nach Dingen, die mich nicht interessiert haben, bevor es das Internet gab (und eine Menge Aktivitäten sind Aktivitäten, die nicht nötig wären, wenn ich keinen Computer hätte – Informationen über neue Programme, neue Spiele etc.). Zeitgewinn? Alles Kokolores. Der Computer frisst unsere Zeit, ohne uns dafür etwas vergleichbares zurückzugeben. Ich betrachte ihn immer als eine bessere programmierbare Schreibmaschine – und bin damit bis jetzt ganz gut gefahren! Was wollte ich eigentlich sagen? Lieber Salamander, wenn Du wirklich etwas über Magie lernen willst, dann lernst Du es nicht durch den Computer oder über das Netz. Auch nicht über Bücher, das gebe ich gerne zu. Echte Magie kommt aus einem Selbst. Und dieses „Selbst“ findet man am Besten, wenn man Zeit hat, auf sich selbst zurückgeworfen zu sein. In Ruhe meditierend, oder auf einer Bank sitzend und in den Sonnenuntergang schauend. Oder vor einem Kamin mit einem Bier in der Hand. Jeder Mensch hat einen anderen Punkt, an dem er sich entspannt. Ich kann Dir meine Punkte beschreiben, ohne dass ich sicher sein kann, dass sie für Dich auch zutreffend sind. Aber ich weiß, welche Orte nicht entspannend sind. Und die Arbeit vor dem Computer zählt dazu – ich denke nur an Sitzhaltung und Augenbelastung. Und mythisch – nein mythisch sind Computer gewiss nicht ... Lasse Dir nicht weismachen, diese Argumentation hätte etwas mit Technikfeindlichkeit zu tun. Ich bin kein Maschinenstürmer, der mit einem Schraubenschlüssel auf seinen Monitor einschlägt. Aber Computer sind ein wenig wie Speiseeismaschinen. Es ist toll, dass es sie gibt. Und ich bin froh, dass ich auf sie zurückgreifen kann. Aber jeden Tag und zu jeder Mahlzeit Speiseeis? Nein, das muss nicht sein. Ob Magie was mit Speiseeismaschinen zu tun hat? Nein, eigentlich nicht. Aber es gibt kaum Magier, die etwas gegen Speiseeismaschinen haben – wir Magier sind eigenartig, nicht blöd.
Alles Liebe, Dein Homo Magi Februar
Das Verschwinden der Kobolde
Hallo Salamander,
eigenartig ist es schon, dass in den Mythen und Märchen Europas seit vielen vielen Jahrhunderten immer wieder Elfen und ähnliche Rassen auftauchen. Manchmal handelt es sich um Heinzelmännchen, die für etwas Nahrung und Milch auf einem Tellerchen gerne bereit sind, nachts die Arbeiten der Handwerker zu erledigen und das Haus in Ordnung zu bringen. Oder es sind bösartige Gnome, die nichts besseres zu tun haben, als Kinder aus der Wiege zu entführen und durch ihre eigenen Kinder zu ersetzen. Natürlich sind Gnomenkinder bei weitem nicht so hübsch wie Menschenkinder, und daher nennt man diese untergeschobenen Kinder abfällig „Wechselbälger“. Manchmal sind es auch langbärtige Zwerge, die – ein Lied aus einem bekannten Disney-Film singend – mit einem lauten HeiHo durch die Berge davonziehen, um sich in irgendeinem dunklen Stollen zu vergnügen (wenn sie nicht gerade damit beschäftigt sind, minderjährige Königstöchter illegalerweise vor ihrer Verwandtschaft zu verstecken). Manchmal hört man auch noch von Feldfrüchte zählenden Nachkommen des Riesengeschlechts. Okay, natürlich müssten diese doch schwer zu übersehenden Wesen am ehesten Probleme damit haben, in der Gegenwart weiterhin unentdeckt (!) zu existieren. Oder wo bitteschön soll sich der ortsansässige Frankfurter Riese (Postanschrift: Frankfurt/Main) verstecken? Vielleicht in einem der Bankentürme? Stockwerke 1-3, Riese, Stockwerke 4 bis 17 „Deutsche Bank“? Da haben es die kleinen Naturgeister schon einfacher, die in Schuhkartons oder Abwasserschächten gut hausen können (zumindest macht uns das die Filmindustrie glauben). Aber der Riese an sich leidet stark unter dem Bevölkerungsdruck und zieht sich daher in die zurückgebliebenen Gebiete Europas, wie z.B. Bayern zurück. Dort schrumpft er zusammen und beschließt seinen Lebensabend als Lokalpolitiker. Nein, soweit will ich gar nicht gehen. Aber jedem Menschen müsste klar sein, dass der Riese sicherlich zu den bedrohtesten Spezies der Familie der Naturgeister gehört. Ich lasse ihn deshalb bei meiner Betrachtung außen vor und schone ihn. Heinzelmännchen hatten wir, Zwerge hatten wir, Gnome hatten wir. Was treibt eigentlich der Kobold? Und wo sind die ganzen Elfen hin? Wenn man – um letztere Frage zuerst zu beantworten – der gängigen Lesart glauben schenken will, dann haben sich die Elfen irgendwann im späten Mittelalter in eine Art Parallelwelt zurückgezogen. In eine Welt, in der es kein Leiden gibt, kein Sterben und keinen Schmerz, und in der ein endloser Sommer herrscht. Sie sind also zurückgekehrt (?) an jenen Ort der idealen Langeweile, der diesen arroganten Bastarden so gut zu Gesicht steht. Recht geschieht es ihnen. Und der Kobold? Ja nun, eigentlich war ich immer der Ansicht, der Kobold an sich wäre ausgestorben. Aber es gibt inzwischen Hinweise für die Theorie, dass die Kobolde weiterhin unter uns sind und Schabernack treiben. Hinweise? Nun, ich will meine Vermutungen erst Dir und dann der Weltöffentlichkeit darlegen und schonungslos meine Beobachtungen verkünden. Nun, über die Kobolde ist bekannt, dass sie ihr Aussehen verändern können. Nicht nur ihr Gesicht, sondern auch – wenn auch in begrenztem Umfang – ihren Umfang und ihre Größe. Sie können auch ihre Körperfarbe und ihre Augenfarbe verändern, wenn auch vielleicht nicht die Farbe ihrer Haare (die sind wohl immer eigenartig rot bzw. haben einen roten Schimmer). Wenn Du mir nicht Glauben schenken willst, dann solltest Du Dir einfach einmal ein gutes Märchenbuch aus dem Schrank greifen und festzustellen versuchen, ob sich Kobolde untereinander immer ähnlich sehen. Die Antwort ist kurz: Nein. Ein Kobold ist deswegen ein Kobold, weil er sich wie ein Kobold benimmt und ein wenig eigenartig –sozusagen koboldhaft – aussieht. Aus keinem anderen Grunde. Also, zurück zum Kobold an sich. Der Kobold ist eine der ältesten Figuren der europäischen Mythenwelt. Was fanden die Iren vor, als sie Irland besiedeln wollten? Kobolde! Was verseuchte die russischen Weiten? Kobolde! Wer steckte wohl hinter all jenen schönen römischen Baumgeistern und belebten Quellen? Kobolde! Wer gab den griechischen Göttern den besonderen „Twing“, wer sorgte dafür, dass jeder Göttervater seinen Weingott, jede Athene ihre Pan hatte? Kobolde! Also kann man zusammenfassend sagen, dass das ganze klassische Europa von Kobolden fast schon „verseucht“ war. Und ich gehe sogar noch einen Schritt weiter: Der Europäer der Klassik ging mit dem Kobold eine Art Symbiose ein; Kobold und Europäer gehörten zusammen wie – Verzeihung – Arsch und Eimer. Scheinbar ist der Kobold von seiner Struktur als anarchischer Quälgeist irgendwie dazu geeignet, in der verworrenen Seele des Europäers eine Seite zu berühren, die andere Naturgeister nicht berührt haben. Vielleicht ist der wilde Kobold das notwendige Gegenstück zum – Verzeihung – eher langweiligen Europäer. Aber: wo sind diese ach so wichtigen Kobolde heute hin? So und nicht anders wirst Du mich nun fragen, da Du meiner verworrenen Argumentation bis zu diesem Punkt gefolgt bist. Dumme Frage, so wäre meine Antwort. Wohin sind die Europäer gegangen, seitdem das klassische Zeitalter vorbei ist? Nach Nordamerika. Also: Um meine These zu unterstützen, dass der Kobold an den Europäer geknüpft ist, und um weiterhin zu beweisen, dass die Kobolde – im Gegensatz zu den Elfen und den Gnarrbungls – nicht aus der Welt verschwunden sind (oder kann sich noch jemand daran erinnern, jemals einen Gnarrbungl gesehen zu haben?), hier die Fakten hinter meiner Theorie. Seit etwa der Mitte der vierziger Jahre dieses Jahrhunderts kommt es immer wieder zu Sichtungen von eigenartigen Gegenständen am Himmel, die – mangels einer besseren Beschreibung – als „fliegende Untertassen“ bezeichnet werden. Diese „fliegenden Untertassen“ segeln am Himmel entlang, erschrecken Linienflugzeuge, verwirren abendliche Balkonsteher und erzeugen bunte Lichter oder blinkende Punkte. Das ganze kann man dann noch etwas ausbauen, wenn man mit der „Besatzung“ des fliegenden Geschirrs in Kontakt kommt. Da ist einmal die erste Stufe, die Kontakt- oder Volllaberstufe. Menschen werden in dieses Weltraumgeschirr entführt, in fremden Sprachen vollgelallt („Klaatu barada nektu!“ sage ich dazu nur) und dann wieder abgesetzt. Entweder müssen sie nun Mitteilungen an die Weltregierung überbringen, oder von ihren Erlebnissen in missionierender Absicht vor sich hin schwadronieren, oder uns aufklären über die Bedrohung, die diese Außerirdischen (wahlweise auch Umweltverschmutzung oder Hüttenkäse) für uns und die Erde darstellen. Die zweite Stufe ist die, welche ich als Weltraum-Petting bezeichnen möchte. Kein echter Sex, aber Befummeln am ganzen Körper. Da werden dann fremdartige Gegenstände im Körper implantiert, Flüssigkeiten entnommen („Sie sind gekommen, um unsere Körperflüssigkeiten zu stehlen!“), Eingeweide nach außen gekehrt und wieder zurückgewendet, Herzen entnommen und wieder eingesetzt, Schmerztests werden durchgeführt und unaussprechliche Experimente durchgeführt. Die dritte Stufe ist die, welche ich als „körperlichen Vollzug“ oder „Sex mit Aliens“ bezeichnen möchte. Dicke, breitärschige Amerikanerinnen werden nachts von einsamen Waldwegen entführt und in einem Raumschiff von grauhäutigen, schwarzäugigen Aliens geschwängert. Ob es hier zum tatsächlichen sexuellen Vollzug kommt, wage ich zu bezweifeln. Die Aliens, die man in Büchern auf Zeichnungen und schlechten Fotos zu sehen bekommt, haben keine Geschlechtsteile. Und ohne die dürfte Sex auch im Weltraum schwierig werden. Wahrscheinlich werden die genannten Amerikanerinnen also alle künstlich befruchtet. Die vierte Stufe habe ich selber erfunden und dokumentiere sie hiermit. Sie ist für mich die Stufe nach Sex, nach körperlicher Vereinigung (oder eben künstlicher Befruchtung). Ich möchte diese Stufe als „Meta-Humor“ bezeichnen. Meta-Humor haben für mich z.B. Außerirdische, die Nachrichten in Kornfeldern hinterlassen – oder noch mehr Menschen, die daran glauben, dass Außerirdische mit uns via Kornfeldern korrespondieren. Man stelle sich vor: es gibt eine außerirdische Zivilisation, die es irgendwie geschafft hat, sich Raumschiffe zu bauen und quer durch die Milchstraße (oder durch die Dimensionen und oder die Zeit) zu uns jetten. Und was machen die Außerirdischen, um mit uns Kontakt aufzunehmen? Sie schreiben Zeichen in Kornfelder. Wahrscheinlich deshalb, weil in ihrer Zivilisation schriftliche Kommunikation IMMER über Zeichen im Feld stattfindet. Eine ganze Zivilisation also, in der Bibliotheken nichts anderes als gelochte und abgeheftete Kornfelder sind. Statt Bücherverbrennungen gibt es ein großes Brotbacken („Wir übergeben dem Ofen die Werke von Krbtttx Glrbtxxx!“), und wer durch ein Kornfeld läuft, der darf nie wieder in eine Bücherei, weil er Literatur beschädigt hat. Aber bitte – wo bleibt denn da der gesunde Menschenverstand? Ich weiß es wirklich nicht. Auf jeden Fall nicht im Großhirn. Das ist Meta-Humor, kein Kommunikationsversuch.
Merkst Du denn nichts? Wirklich nicht? Das sind die Kobolde. Weil wir aufgehört haben, ihnen die Schalen mit Milch rauszustellen, fliegen sie jetzt mit Untertellern am Firmament herum. Klarer könnte der Hinweis doch nicht sein, oder? Und weil sie inzwischen gelernt haben, dass das Kinderentführen der anderen Elfenrassen nicht mehr „in“ ist (und sei es nur wegen der schlechten Propaganda), nehmen sie dicke Frauen mit an Bord und haben mit ihnen wilden, hemmungslosen Sex (oder auch nicht – aber vielleicht drehen sie ja Heimpornos von den Szenen mit der künstlichen Befruchtung ...). Oder sie tun zumindest so. Und um uns völlig zu verarschen hinterlassen sie Mitteilungen in Kornfeldern. Um rauszukriegen, ob wir Europäer seit dem Mittelalter was dazugelernt haben. Haben wir nicht. Zumindest die meisten.
Alles Liebe, Dein Homo Magi
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Die Lüge regiert unser Leben
Lieber Salamander,
Du hast mich gefragt, warum ich schreibe. Es gibt einen einfachen Grund dafür. Vielleicht kann ich jetzt darüber sprechen, weil Du schon ein paar Briefe von mir bekommen hast und daher weißt, wie es um mich steht. Vielleicht ist es auch das Gefühl von Frühling, das über der Welt liegt. Ich atme wieder auf, bin befreit vom Klammergriff des kalten Winters. Und sei nicht überrascht, wenn dieses okkulte Frühlingserwachen bei mir ein paar eigenartige Überlegungen freilegt – vom Eise befreit zeigen sich Schichten meiner mentalen Landschaft, die verschüttet waren.
Die Lüge regiert unser Leben. Sie zwingt uns kleine Entscheidungen auf, die uns immer wieder auf kleine Schritte festlegen. Und eines Tages stellen wir fest, dass wir an einem Punkt angelangt sind, den wir überhaupt nicht erreichen wollten. Die „Diktatur der kleinen Schritte“ hat zugeschlagen, und jeder winzige Schritt in eine falsche Richtung summiert sich an einem bestimmten Punkt unseres Lebens zu einer Kette von Schritten, zu einem langen Weg hinein in das Herz der Lüge. Ich will aufhören zu lügen. Doch was macht jemand, der aufhören will zu lügen? Er ist erst einmal ehrlich zu sich selbst. Worüber lüge ich am meisten, am häufigsten? Oh, ich lüge viel. Unser Zeitalter ist ein Zeitalter der Lüge. Wir lügen, weil wir es nicht besser wissen. Wir lügen, weil eine Notlüge uns aus einer peinlichen Situation rettet. Wir lügen, weil es uns Spaß macht. Wir lügen, weil jeder lügt. Ich kann nicht mehr einfach so lügen. Denn ich fange an über Dinge zu lügen, die mir wichtig sind. Als ich diesen Schritt erreicht hatte, war ich überrascht. Es gibt also Dinge, die mir so wichtig sind, dass ich dafür versuchen (!) würde, mein eigenes Lügen einzustellen? Ja. Meine Träume sind es, meine Visionen. Meine kleinen Kostbarkeiten, die wie Trümmer nach dem Schiffbruch meines Lebens auf der Meeresoberfläche meines Geistes schwimmen. Ich weiß nicht, ob man daraus ein Schiff rekonstruieren oder gar neu bauen kann. Aber man kann Leute damit unterhalten, die Trümmer, die Scherben meines Verstandes aufzulesen. Und ein Scherbengericht ist ja mehr als nur Tonstücke in der Landschaft. Es entscheidet auch über Menschen. Wenn ich meine Scherben auflese und auswerte – weiß ich dann, wie man, wie ich über mich zu entscheiden habe? Voller Schrecken stellte ich eines Morgens fest, dass ich nie erfahren werde, was die Menschen wirklich über mich denken. Weil kein Mensch weiß, was ich wirklich denke. Tief in mir gibt es einen Ort, an den kein Mensch jemals kommt. Ein Ort, der mir alleine ist und den niemand mit mir teilt. Ein Ort, der für mich wichtig ist. Der mich definiert und erklärt. Ein Ort, den keiner kennt. Wenn das, was mir wichtig ist, keiner kennt – wie kann ich dann erwarten, dass irgend jemand mich wirklich versteht und mir mitteilt, was er wirklich über mich denkt? Wie kann ich jemals wirklich geliebt werden, wenn keiner weiß, wer ich wirklich bin?
Ich will die Wahrheit über mich selbst herausfinden. Doch dies kann ich nur, wenn ich die Wahrheit über mich selbst mitteile. Die Wahrheit über meine Träume, die Wahrheit über meine Visionen. Meine eigene Wahrheit, nicht mehr und nicht weniger. Ich lasse sie auf die Menschen los, damit ich verstanden werde. Und ich hoffe, dass ich verstanden werde.
In Liebe Dein Homo Magi
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Magische Ausbildung
Hallo Salamander,
ich glaube, das Thema „magische Ausbildung“ ist eines, was mich noch Jahre beschäftigen wird. Nicht aus den auf der Hand liegenden Gründen. Meine eigene Ausbildung halte ich für formal abgeschlossen. Ich weiß, dass ich mein ganzes weiteres Leben mit Lernen verbringen werde. Aber das, was ich gebraucht habe, um einen bestimmten Status zu erreichen, das habe ich hinter mir. Ich bin nur ungern bereit, das in irgendwelche Schemata zu pressen – schon gar, weil es keine allgemein verbindlichen Richtlinien gibt, die es mir erlauben würden, mich mit wenigen Worten mit anderen in aller Kürze zu vergleichen. Hexe oder Magier sind beide kein akademischer Grad, bei dem man mehr oder weniger davon ausgehen kann, dass ein Doktor landesweit ungefähr den selben Bildungsstand repräsentiert. Und bei einigen Glaubensrichtungen, besonders bei den Wicca, hat sich irgendwann einmal die leidige Tradition durchgesetzt, das man immer wieder Ränge und Initiationen dazu erfindet – was natürlich jede Vergleichbarkeit ausschließt. Und ich kümmere mich nicht darum, weil ich mit dem Gedanken spielen würde, selbst jemanden auszubilden. Die Streitereien bei der Trennung von meinem Kreis sind mir noch zu frisch im Gedächtnis, als dass ich darüber nachdenken würde, mich selbst noch einmal in eine solche Situation zu begeben – obwohl ich damals die meisten Jahre Schüler war und jetzt Lehrer wäre. Nein, ich sehe im Moment auch niemanden in meiner Nähe, der das Zeug hätte, von mir ausgebildet zu werden. Das mag arrogant klingen, ist es wahrscheinlich sogar. Aber soll ich lügen und Leute ausbilden, die eher Spreu als Weizen sind? Bei denen ich vielleicht schnelle Resultate erziele und auf Treffen damit prahlen kann, dass mein Kreis oder meine Schülerschar schon wieder um zwei oder drei Leute gewachsen ist? Wohl kaum. „Qualität statt Quantität!“ wäre zwar ein schönes Motto, um das zu erklären, aber das ist leider nicht der Grund für meine mangelnde Ausbildungslust. Es liegt sicher auch daran, dass für mich eine Ausbildung eine enge Bindung an jemanden bedeutet, mit dem man dann jahrelang verbunden ist, wenn nicht – wie erwünscht – ein ganzes Leben lang. Wie lange habe ich es mit meiner Lehrerin ausgehalten? Über zehn Jahre, und ich werde sicherlich auch ungefähr die selbe Zeit brauchen, um mich wieder von ihr zu lösen. Zwanzig Jahre meines Lebens sind ein fairer Preis für das, was ich gelernt habe – das heißt aber nicht, dass ich die Entscheidung, die ich für mich getroffen habe, auch für jeden anderen Menschen treffen könnte oder möchte. Nein, das ist es auch nicht. Es ist eher dieser Initiationstourismus, diese Ausbildungshe(u)chelei, die momentan in weiten Kreisen der Heidenszene um sich greift. Am liebsten ist man doch in drei Traditionen initiiert, und am besten überspringt man gleich zwei oder drei Stufen, um dann möglichst bald etwas zu haben, mit dem man prahlen kann. Vielleicht versteht man hier Magie als Anrechnungssystem? Wenn ich fünf Jahre bei einem Wicca gelernt habe und drei Initiationen habe, dann spart mir das als Anrechnung bei den Indianern vier Jahre und zwei Initiationen, und wenn ich deren dritte Initiation habe, dann kann ich durch einen Auffrischungskurs an einem Wochenende noch nordischer Gode und keltischer Druide werden – wenn ich bereit bin, 400,- Euro zu investieren und ein Wochenende lang in einer Schwitzhütte zu leiden. Nein, ich glaube, so war das nicht gemeint. Das ist doch etwa so, als würde ich als Wehrdienstuntauglicher bei der Bundeswehr einen Wochenendkurs zum Hauptmann der Reserve belegen – völlig hirnlos, weil mir der Hintergrund körperlich wie mental fehlt, aber sicherlich ein Schnäppchen, das man unabhängig von jeder Sinnhaftigkeit mitnehmen kann. Im Bereich der Magie werden Kulturen und Traditionen vermischt und gemischt, ganz so, als würde das „große Eine“, das alle zu spüren und zu sehen glauben, von allen ähnlich definiert und von daher könnte man die Erfahrungen aus Tradition A ganz locker in Tradition B oder C übernehmen. Mit der selben Logik müsste ein Handwerker (hier: Schreiner) sicherlich bei einem Gesellenbrief bei einer Lehre als Bäcker (auch Arbeit mit den Händen) 75 % der Lehre sparen, weil er eigentlich schon genau weiß, um was es geht ... Eigenartigerweise funktioniert das „in der echten Welt“ aber nicht. Wir könnten ja anfangen, unsere magischen Titel bei Kindergeburtstagen und Familienfeiern zu verschenken. Nett wäre auch eine Tombola im Hexenkreise, wo es neben Gummifiguren und Plastikautos auch Initiationen zu gewinnen gibt. Ich glaube weiterhin daran, dass neben einer magischen Fähigkeit auch eine menschliche Reife und Reifung nötig ist, wenn man sich mit Magie beschäftigt. Und diese Reife erlangt man nicht an einem Wochenende oder in drei Monaten, diese Reife braucht Zeit (ich erspare mir jetzt Wortspiele mit „Reife“ und „reifen“!). Wenn ich mich an einen Glauben, an eine Tradition binden will, dann tue ich das, nach dem ich mir und den meinen Zeit gelassen habe, darüber nachzudenken, was wir eigentlich wollen. „Drum prüfe, wer sich ewig bindet ...“ heißt es so schön im Volksmund. Und wenn ich schon vor einer Heirat lange nachdenken soll, wie lange muss ich dann vor etwas nachdenken, das mit Gottheiten zu tun hat? Länger, oder?
Ich möchte aber nicht nur kritisieren, sondern auch ein paar Vorschläge für Änderungen machen. Meiner Ansicht nach sollte die Zahl der Initiationen in einer Tradition zwischen drei und fünf liegen – wobei es sich bei der ersten Weihe ruhig um eine leicht zu erreichende erste Stufe handeln kann, die einem die Teilnahme an Ritualen als Mitwirkender erlaubt, während die letzte Weihe erst nach langen Jahren erreicht werden kann und das Recht gibt, als Priesterin oder Priester zu wirken. Abgesehen von dem Weg zur ersten Weihe sollten alle anderen Initiationen mindestens (!) ein Jahr und einen Tag auseinanderliegen. Wenn die Abstände länger sind – gerne. Aber kürzere Abstände halte ich nicht für sinnvoll, würde sie sogar ausschließen wollen. Wenn ein Kreis meint, dass er aus irgendwelchen Gründen jemanden „zwangsbeschleunigen“ sollte, dann sollte sich der Kreis oder der Lehrer klar darüber sein, dass er damit eine große Verantwortung übernimmt – und ob er wirklich bereit ist, diese Verantwortung für das Leben und Lernen eines anderen Menschen zu übernehmen! Wir machen uns doch selbst lächerlich, wenn es einfacher ist, ein Priester einer angeblich uralten Tradition zu werden, als einen Mofaführerschein zu erstehen (den Vergleich mit dem Autoführerschein spare ich mir hier, obwohl sicherlich bei den Kosten kein großer Unterschied zu mancher Ausbildung besteht!). Weder allgemeine Ausbildungsregeln noch Absprachen zwischen den Gruppen werden hier etwas bringen. Dazu ist das Kind schon zu tief in den Brunnen gefallen – und es wird immer „Streikbrecher“ geben, die aus irgendwelchen Gründen jede Absprache umgehen. Aber es ist an der Zeit, dass wir uns überlegen, was wir eigentlich mit unserem Glauben, mit unseren Traditionen anstellen. Wir wollen ein Leben lang mit dieser Tradition verbunden sein, und wir benehmen uns so, als würden wir eine Art „Fast-Food-Religion“ ausüben – eine Religion, in der man alles schnell und leicht erlernen kann, weil in unserer schnelllebigen Zeit nicht mehr Zeit für irgendetwas ist. „Wicca light!“, und vielleicht mache ich ja in fünf Jahren was ganz anderes mit meinem Leben ... Wer das glaubt, der ist in meine Augen keine Hexe, kein Zauberer, kein Magier – er oder sie ist ein Trottel. Wir haben alle Zeit der Welt. Nehme sie Dir, wenn Du sie brauchst. Und es ist nicht wichtig, wie andere Leute ausbilden oder ausgebildet werden. Du musst einen Weg finden, der für Dich – den einzelnen Lehrer oder den ganzen Kreis – richtig ist. Und diesen Weg musst Du konsequent gehen. Und Du wirst feststellen, dass die Menschen erkennen werden, wenn es Dir wirklich ernst ist. Und sie werden Deine Bemühungen honorieren – wie auch die Gottheit Ernsthaftigkeit und festen Willen honoriert. Nur wer langsam reist, kann sich in aller Ruhe die Landschaft beschauen! Bleib stehen, rieche an den sprichwörtlichen magischen Blumen am Wegesrand – es lohnt sich!
Yours, Homo Magi
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Karneval
Hallo Salamander,
komisch ist es schon, wie meine Mit-Heiden mit Karneval umgehen. Das meiste, was ich höre, ist Hohn und Spott. Die Einschätzung scheint davon auszugehen, dass die Karnevalisten erstens Menschen sind, die ihr Triebleben auf wenige Tage im Jahr beschränken (an denen sie dann betrunken ungehemmt durch die Innenstädte fallen), dass Karneval primitiv und peinlich ist (natürlich mag das an den Karnevalssendungen im Fernsehen liegen, die nicht unbedingt den kultivierten Bildungsbürger ansprechen) und das man die Karnevalisten eigentlich nur bemitleiden kann. Dieser Einschätzung kann ich mich nicht anschließen. Eine Gruppe möchte ich gleich am Anfang in Schutz nehmen – Heiden mit Kindern. Kinder haben sich das Gefühl für Masken und Farben bewahrt, das uns Erwachsenen so oft fehlt. Unser Bierernst (ein schönes Wort, oder?) hat mit ihrer Fröhlichkeit nichts zu tun. Und Kinder empfinden irren Spaß daran, sich anzumalen, sich zu verkleiden und zu feiern. Schön, lassen wir sie doch – ob wir dafür dringend einen jährlich wiederkehrenden Auslöser brauchen, mag dahingestellt sein. Aber gerade in unser Gesellschaft ist es für Kinder wichtig, einmal über die Stränge zu schlagen und einfach nur Spaß zu haben. Aus diesem Grund muss ich auch die heidnischen Eltern von (heidnischen?) Kindern ausnehmen. Was bleibt einem, als mitzufeiern? Mir liegt der Seufzer einer Freundin von mir in den Ohren, deren Tochter – trotz aller liberalen Erziehung – nichts schöner findet als eine Karriere als Funkenmarie. Augen zu und durch! Und da muss man als Mutter halt einmal zehn oder zwölf Prunksitzungen anschauen. (Es gibt schlimmeres – ein anderer Freund von mir war mit seiner Tochter auf einem Konzert der „Kelly Family“. Das gibt es nur eines: Beten, dass einen keiner erkennt!) Kommen wir jetzt zu den kinderlosen Heiden und ihren Kommentaren über Karneval. Wie gesagt: die meisten Kommentare von Heiden (oder solchen, die sich dafür halten ...) über Karneval sind entweder höhnisch oder abwertend. Ich möchte also als zweites auch jene Gruppe von Heiden ausnehmen, die dieses Urteil nicht teilen (mögen sie jetzt durch nachdenken zu dieser Ansicht gekommen sein oder aus Gegenden stammen, in denen Karnevalsfeindlichkeit mit der Todesstrafe geahndet wird [ich denke jetzt an Köln ...]). Bleiben wir also bei dem traurigen Rest der Karnevalsgegner. Und vergessen wir – des Argumentes halber – die bisherige Argumentation einmal kurz. Was macht der normale Heide, wenn er sich auf einem Heidentreffen unter seinesgleichen begibt? Als erstes legt er seinen schönen bürgerlichen Namen (nennen wir einen: Peter Müller) ab und verwandelt sich in Moonchild, Thorin Eschenstab, Morgana812 (die werden durchnummeriert, damit man sie auseinanderhalten kann) oder Twinkybinky. Dann beginnt für Peter Müller der maximale Lebertest – wie viele Bierchen (oder bei Asatru: wie viel Met) kann ich am Begrüßungsabend in meinen Rachen gießen, ohne morgens mit der Aufwachzelle der örtlichen Polizei Kontakt aufzunehmen? Und dann darf man das „Outfit“ nicht vergessen. Thorshammer, keltisches Kreuz oder Mondsichel um den Hals, Lederhose an, Wollhemd über den Oberkörper, Gasfeuerzeug (ist in!) und selbstgedrehte Zigaretten. Den Anzug, den man sonst die ganze Woche tragen muss, lässt man verschämt daheim. Und dann versucht man natürlich (hier muss ich leider zugeben: eher, wenn man männlichen Geschlechtes ist) sein Erbgut unter der heidnischen Bevölkerung zu verteilen. Leider klappt das am ersten Abend schlecht, was stark mit dem maximalen Lebertest zusammenhängen könnte. Aber auch hier geschehen unter Alkoholeinfluss manchmal eigenartige Dinge. Wenn man diesen heidnischen Dreikampf – verkleiden, versaufen, verführen – absolviert hat, fällt man ins Bett – wenn man es findet. Man hat ja meist noch einen Abend vor sich. Ende des Exkurses. Moment der Pause. Ist meine Darstellung der heidnischen Veranstaltungen richtig? Überspitzt zwar, doch nicht ohne wahre Momente. Zweiter Moment der Pause. Und was unterscheidet uns von Karnevalisten? Dritter Moment der Pause. Es gibt einen großen Unterschied: Den Karnevalisten gehören die großen Städte, uns die kleinen Grillplätze. Und wenn wir weiterhin versuchen, unsere Feiern als Andachten zu tarnen, unsere Wünsche nach der Flucht aus der Realität (und sei es auch nur für ein paar Stunden) mit dem Mäntelchen der Religionsausübung zu tarnen, dann werden wir es nie schaffen, zu einer ernstzunehmenden Bewegung zu werden. Ich will nicht lügen müssen, wenn ich feiern will. Warum kann ich nicht einfach ehrlich mit meinem Wunsch umgehen, mich ein wenig zu amüsieren – schon gar, wenn Gleichgesinnte in der Nähe sind? Aber dann brauche ich es nicht mit meiner Religion zu tarnen. Hoffe ich. Wenn ich religiös sein will, dann sollte ich es ebenfalls sagen. Wenn ich feiern will, dann sollte ich es auch sagen. Und mich nicht tarnen – mit Thorshammer oder mit Pappnase, wie immer es mir gefällt. Helau!
Dein Homo Magi März
Geburtstage
Hallo Salamander,
Geburtstage sind immer eine angenehme Gelegenheit, um über das Älterwerden nachzudenken. Es drängt sich einem fast auf, den Verlauf der Geschichte im Ausblasen von immer mehr Kerzen zu sehen. Oder im Erhalten von immer eigenartigeren Geschenken – während man als Kind noch alle seine Geschenke benutzen konnte, erhält man – umso älter man wird – immer mehr Blödsinn und unverwertbaren Mist geschenkt. Scheint ein Naturgesetz zu sein. Auch das Altern ist ein Naturgesetz. Und eigentlich ein vernünftiges. Wenn wir alle aufhören würden, im Alter von vielleicht 25 Jahren zu altern – wie würde die Welt aussehen? Würden wir nicht stagnieren, würden wir nicht alle in der Angst vor Unfällen oder Katastrophen leben, die unsere liebgewonnene Unsterblichkeit bedrohen? Würde unsere Unsterblichkeit nicht danach verlangen, für immer fortgesetzt zu werden – eine langweilige Welt wäre das, in der alle Menschen Angst hätten vor Unfällen und Verstümmelungen (ist in einer Welt voller Unsterblicher Platz für unsterbliche Krüppel?). Und würden wir auch nicht jene verlieren, die bereit sind, ihr Leben wegzuwerfen für eine Sache – die Helden und die Narren, die unsere Geschichte immer wieder in die richtigen Bahnen lenken? Nein, ich bin ganz froh, dass es das Altern gibt. Das Vergehen ist der Kontrapunkt zum Werden. Ohne Tod keine Geburt, ohne Alter keine Jugend. Eines Tages werde ich sterben, das ist sicher. Und ich bin eines Tages geboren worden, auch das ist sicher. Zwischen diesen beiden Punkten bewegt sich meine Existenz. Und obwohl sie beginnt und endet, so ist sie doch genauso wahr und richtig wie die Geburt und der Tod der Sonne, wie der Anfang und das Ende des Universums – okay, das Universum wird viel älter als ich, aber dafür ist es auch größer. Der Trick ist, dass man ein gesundes Gleichgewicht halten muss zwischen dem Gefühl, alles nachholen zu müssen, was man verpasst und dem Gefühl, in aller Ruhe alles abzuwarten, weil man noch ewig Zeit hat. Beides ist ein Trugschluss, Enden einer Weltsicht, zwischen denen ich mich bewege. Man muss sein Leben dann leben, wenn es passiert. Man sollte ein wenig planen und ein wenig planlos sein. Ein wenig wahnsinnig und ein wenig vernünftig. Von jedem eine Prise, das ist die richtige Mischung für das Leben. Lache nicht über die, die anderer Meinung sind – versuche lieber, sie zu verstehen. Und bilde Dir nicht ein, dass ihr Standpunkt Schwachsinn ist, bevor Du nicht sicher bist, dass Du ihren Standpunkt zu einem späteren Zeitpunkt in Deinem Leben nicht selbst einnehmen wirst. Erfreue Dich an Kindern und sei lieb zu ihnen. Sie kommen nach Dir und übernehmen Dein Erbe. In ihnen lebst Du fort – nicht nur in Deinen Kindern, sondern in allen Kindern. Und sei lieb zu denen, die vor Dir kamen. Auch wenn sie manchmal anstrengend sind – die Alten waren einmal wie wir, und wir waren für sie wie Kinder. Und wenn es doch ein Paradies gibt – wäre es nicht jetzt schon an der Zeit, ein paar alte Leute freundlich zu behandeln, damit sie einem einen Sofaplatz in den ewigen Jagdgründen freihalten? Und das Bier schon einmal kühl stellen? Ich bin mal wieder ein Jahr älter, doch nicht viel weiser. Man kann nicht alles haben.
Ich denke an Dich, Dein Homo Magi
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Magische Ausbildung II
Hallo Salamander,
Du hast mir einige Fragen gestellt, die sich mit dem Thema „Ausbildung“ beschäftigen. Es tut mir leid, Dir sagen zu müssen, dass ich nicht alle beantworten kann. Es liegt nicht immer daran, dass ich nicht weiß, was ich darüber denke. Es liegt viel öfter daran, dass es keinen Sinn für mich macht, Dir meinen Standpunkt zu erklären, weil Dein Standpunkt und meiner sich diametral entgegengesetzt sind. Eine Ausbildung ist nicht dazu gedacht, Dich – oder jeden beliebigen anderen Schüler – davon zu überzeugen, dass mein Weg der richtige für Dich ist. Es ist etwas ganz anderes, was ich erreichen will. Jeder Schüler verändert mit seiner Sicht der Welt meinen Weg. Und es sollte das Ziel von Lehrer und Schüler sein, für die Zeit der Ausbildung einen gemeinsamen Weg zu finden. Und dieser Weg wird die erste Zeit sicherlich mehr vom Lehrer geprägt sein, doch wenn der Schüler sich wirklich vom Lehrer lösen will, dann muss er es sein, der die letzten Schritte des gemeinsamen Weges prägt – denn nur so kann er entscheiden, wann er abbiegt und ob er jemals wieder den Weg seines Lehrers kreuzen möchte. Oder anders erklärt: die Grenzen einer Tradition, einer Lehre sollten weit genug gefasst sein, um es allen Beteiligten zu erlauben, sich nicht verfremden zu müssen, um in ihren Rahmen zu passen. Eine magische Ausbildung ist keine Ausbildung zum Industriemechaniker oder zur Zahnarzthelferin. Bei der magischen Ausbildung geht es auch um Charakterbildung und Persönlichkeitsentwicklung – Faktoren, die in normalen Ausbildungen eher widerwillig berücksichtigt werden. Und in der magischen Ausbildung glauben wir an die Existenz (mindestens) einer anderen Ebene, die unsere Existenz ebenso beeinflusst wie die Ebene unserer Realität. Diese „magische Ebene“ (dies ist als Arbeitstitel sicherlich ausreichend) geht mit irdischen Charakteren nicht immer gleich um. Wer hier Herr ist, kann dort Knecht sein, wer hier Knecht ist, kann dort Herr sein. Und wenn ich bereit bin zu akzeptieren, dass es andere Welten gibt und dass meine Rolle in dieser Welt nicht in alle anderen Welten zu übernehmen ist – wie kann ich dann einen Anspruch aufrecht erhalten, immer Lehrer zu sein, während mein Gegenüber immer Schüler bleibt? Die Existenz, nein, die Akzeptanz verschiedener Welten beinhaltet die Möglichkeit zur Veränderung von Rollen. Und da es sich bei der Rolle des Lehrers, der Rolle des Schülers nur um Rollen (und daher um Aspekte meiner Persönlichkeit) handelt, muss ich akzeptieren, dass ich auch Fehler machen kann. Und jemand, der von den eigenen Fehlern weiß, wird kein Ausbildungskonzept entwerfen, das einen Alleinvertretungsanspruch hat. Wenn ich weiß, dass ich irren kann, dann werde ich alleine aus der Verantwortung meinem Schüler gegenüber Sicherheiten einbauen, die dafür sorgen, dass die Ansicht meines Schülers auch Teil meines Ausbildungskonzeptes wird. Natürlich kann ich mir auch so nicht sicher sein, dass die neue Lösung fehlerfrei ist (immerhin machen auch Schüler Fehler ...), aber ich reite nicht mehr betriebsblind mit meinem Schüler an der Seite über den Rand der Klippe hinweg.
Nein, werter Freund, ich glaube, dass es in vielen Diskussionen um die magische Ausbildung in Wirklichkeit um andere Dinge geht. Um Macht. Wenn ich Dein Leben bestimmen kann, dann gewinne ich Kontrolle über Dich. Und diese Kontrolle erstreckt sich nicht nur auf den „realen Teil“ Deiner Persönlichkeit (sprich: Deine irdische Existenz) sondern auch auf die magische Seite. Und natürlich kann es sein, dass ich durch die Kontrolle einer schwachen realen Persönlichkeit eine ungleich stärkere magische Persönlichkeit kontrolliere (ich verweise auf meine oben gemachten Ausführungen). Das erklärt für mich u.a., warum es so viele gestörte Medien und Hellseher gibt, die irgendwann einem Deppen in die Hände gefallen sind. Aber das Thema Medien & Homo Magi können wir mal an anderer Stelle besprechen, wenn Du daran Interesse hast. Macht ist das Kernthema solcher Diskussionen. Man will etwas bestimmen. Man legt fest, dass man bei der ersten Initiation grün tragen muss, Walnüsse isst und zwei Sätze auf Latein sagt. Es könnte genauso gut gelb mit Bananen und zwei Sätzen auf Dänisch sein. Aber wenn ich bereit bin, Farbe und Nahrung und Sprache zu akzeptieren, dann akzeptiere ich auch andere Befehle, bei denen mir der Zusammenhang mit dem zu erreichenden Ziel bzw. dem Zweck der Aktion nicht klar ist. Mit anderen Worten: Der Rahmen einer Initiation soll so sein, dass es allen Beteiligten gefällt. Dazu gehört oft auch ein Rahmen, der das Auftreten von Schüler und Lehrer bzw. des Kreises passend aussehen lässt – also z.B. Kleidung in den selben Farben oder in Farben, die zu Jahreszeit und Stimmung passen. Dann wäre etwas zu Trinken und zu Essen fein – nicht nur wegen dem Effekt der Abendmahls-Idee, sondern einfach, weil gemeinsames Essen eines der ältesten Zeichen der Verbundenheit ist. Und dann wäre es schön, wenn der Rahmen des Rituals so gefasst wäre, dass er etwas von Mystik oder Religion ausstrahlt – das sollte man aber gemeinsam regeln, um etwas zu finden, das allen gefällt. Ich behaupte einfach mal, dass das Ritual der Initiation mehr erreichen wird, wenn man sich vorher gemeinsam (!) über den Rahmen geeinigt hat, als wenn man den Rahmen als Lehrer festlegt. Aber wie gesagt: bei solch einer Festlegung geht es um Macht, um sonst nichts. Mir wäre es ganz lieb, wenn viele der selbsterklärten Lehrer da draußen sich einfach mal an die eigene Nase fassen würden und überlegen, wem sie eigentlich verpflichtet sind. Sie haben eine Verantwortung, und zwar ihren Schülern gegenüber. Erst wenn sie diese erfüllt haben, sind sie frei das zu tun, was sie selbst möchten. Vorher nicht.
Alles Gute, Dein Homo Magi
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Buchempfehlungen
Lieber Salamander,
wie Du sicherlich weißt, lese ich sehr viel. Alles Mögliche – nicht nur Bücher. Ich lese (meist auf der Arbeit, wo sie brav jeden Morgen irgendwann auf meinem Schreibtisch landet) unsere örtliche Tageszeitung. Auf der einen Seite will ich über das informiert sein, was politisch in der Welt passiert. Es sind nicht nur die Lokalnachrichten und die großen Katastrophen, die mich interessieren. Oft sind es die kleinen Geschichten, die mich interessieren. Natürlich haben die wenigsten Informationen, die man aus der Tageszeitung ziehen kann, etwas mit Heidentum oder Magie zu tun. Aber ich lebe hier und jetzt in dieser Welt, und von daher muss (!) ich über das informiert sein, was in dieser Welt passiert. Und dann gibt es noch die Kulturnachrichten, die Heiratsanzeigen und den täglichen Cartoon. Alle diese Seiten lese ich (und manchmal sogar die Geburts- und Sterbeanzeigen). Du wunderst Dich? Geburtsanzeigen sagen einem viel über Kindernamen, die einem in den nächsten Jahren begegnen werden. Sterbeanzeigen können von schlichten Verkündungen bis hin zu längeren Lebensgeschichten gehen – und interessant sind sie fast immer. Und die Heiratsanzeigen – wie schön ist es doch, mal etwas anderes als dieses „Wir trauen uns!“ zu lesen. Nicht, dass ich selbst in absehbarer Zeit heiraten möchte. Aber Heiratsanzeigen sind ein Querschnitt durch die Bevölkerung – wer heiratet wen und wo. Welcher Spruch steht über der Anzeige etc.? Und dann lese ich – neben dem Fernsehprogramm – noch (fast) jede Woche die „Zeit“. Natürlich lese ich die nicht komplett (wer tut das schon?), aber die interessanten Seiten picke ich mir raus. Ein historischer Artikel hier, das Inselrätsel am Schluss, ein Interview oder zwei, ein paar Buchbesprechungen (alle, wenn der Obertitel mich interessiert) und einige Hintergrundartikel (die ich nirgends so gut zusammengefasst gefunden habe wie hier). Elitär, ja sicherlich. Aber nichts liest sich bei einem Kaffee besser als die „Zeit“. Und dann Illustrierte, besonders gerne beim Arzt. Europas Fürsten- und Königshäuser sind mir nicht fremd, und ich kann bei den meisten doch zumindest Wissen sehr glaubhaft vorheucheln. Warum? Ein kleines Faible von mir, vielleicht das Erbe meiner monarchistischen Vorfahren (die wohl noch in meinem Stammhirn stecken, ähnlich unserer Fisch-Vorfahren, die noch irgendwo in unserer Erbinformation campieren). Aber Du hast mich einmal gefragt, welche Bücher ich Dir empfehlen kann. Deine Frage hat mich verwirrt – empfehlen? Muss man Bücher wirklich empfehlen? Es gibt doch Menschen, die ihr Geld damit verdienen, Bücher zu verkaufen. Buchhändler nennt man die wohl. Doch das war nicht das, was Du hören wolltest. Aber ich kann keine „Zwangsliste“ herausgeben. Ich kann niemandem sagen, was er lesen muss. Schon gar nicht, wenn es als Vorbereitung oder als Teil einer „heidnischen Karriere“ (schöner Begriff, nicht wahr?) gedacht ist. Doch nach einer Weile habe ich mich dazu durchgerungen, eine Empfehlungsliste („Top 10“ klingt zu sehr nach Pop) vorzulegen. Doch ich habe alle Bücher gestrichen, die man als magisch oder esoterisch bezeichnen könnte. Nicht, weil mir hier keine Empfehlungen einfallen würden. Sondern weil ich der Ansicht bin, dass man erst die alltägliche Welt meistern sollte, bevor man sich an die magische Welt macht. Und außerdem: Vielleicht verrate ich mehr über mich, wenn ich weltliche Bücher nenne (und zeige doch weniger über mich – ein lustiges Paradoxon, oder?). Science Fiction und Fantasy habe ich aus ähnlichen Gründen ausgenommen wie die magische und esoterische Literatur. Sei mir nicht böse, aber hier scheint die Geschmacksfrage eine sehr große Rolle zu spielen (und viele Leute lehnen SF-Titel nur ab, weil sie mal was über einen Titel gehört haben – und für solche Vorverurteilungen bin ich einfach zu faul.). Wenn es Dich interessieren würde – vielleicht mal irgendwann. Oder nächste Woche, je nachdem, wie Dir das hier gefällt. Hier ist sie also, meine Leseliste. Ich habe die Autoren alphabetisch sortiert – die Liste der besten zehn Titel ist schon Lob genug, da muss ich jetzt nicht zwischen Äpfeln und Birnen noch eine Unterscheidung über die bessere Aprikose treffen.
Aries, Philippe „Zeit und Geschichte“ Eine Darstellung des Geschichtsverständnisses im Wandel der Zeit (vom Mittelalter bis in die Gegenwart). Zeit und Geschichte sind zwei Schlagworte, die unsere Welt bestimmen. Lesenswert.
Chesterton, G. K. „Father Brown“ Hier kann ich die fünfbändige Ausgabe bei Haffmanns liebevoll empfehlen. Chesterton/Brown ist nicht nur ein Querdenker, der sich mehr als einmal über Religion, Aberglauben und Magie auslässt, die Bücher sind auch ein reines Lesevergnügen. Und Lesen ist nicht nur die Suche nach Wissen, es ist – natürlich – auch Unterhaltung.
Doyle, Sir Arthur Conan „Sherlock Holmes“ Jede Gesamtausgabe davon soll mir recht sein. Aber hier lernt man eine Menge über Logik, über das Erzählen von guten Geschichten und den Unterschied zwischen Wahrheit und Wahrheit.
Gurney, Alan „Der weiße Kontinent“ „Die Geschichte der Antarktis und ihrer Entdecker“. Dieses Buch ist eine geniale Schilderung der Schwierigkeiten, welche die Erforschung der Antarktis mit sich brachte. Es könnte auch ein Buch über Australien oder die Seefahrt im Atlantik sein – wichtig ist eigentlich nur, dass man sich mit der Geschichte der Entdeckung der Welt beschäftigt. Und damit etwas über die Welt lernt.
Kerr, Judith „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“ Dieses Buch – wie die beiden Folgebände „Warten bis der Frieden kommt“ und „Eine Art Familientreffen“ – kann ich jedem empfehlen, der etwas über das III. Reich lernen möchte. Kerr beschreibt hier ihr eigenes Leben. Als Kinderbuch konzipiert, aber auch für Erwachsene sehr zu empfehlen (besonders weil diese Schichten von Informationen antasten können, die der jugendliche Leser nicht versteht).
Lawrence, T. E. „Die sieben Säulen der Weisheit“ Lawrence, der unter dem Namen „Lawrence von Arabien“ sicherlich bekannter ist, schreibt nicht nur über Arabien und seine Lebensgeschichte. Er schreibt auch über Freiheit, über Schmerz und über Liebe. Komischerweise ist hier – ähnlich wie bei „Der kleine Prinz“ – der Autor jemand, der viel Zeit in oder über Wüsten verbracht hat. Lässt uns die glatte Sandfläche besser denken und inspiriert sie uns zu größerer Tiefe? Komischer, abwegiger Gedanke. Husch, weg mit dir!
Sobel, Dava „Längengrad“ Ein Buch über die Geschichte der Messung des Längengrades – nachher sieht man die Welt anders als vorher (ehrlich!).
Thoreau, H. D. „Walden oder Leben in den Wäldern“ Jede Naturbetrachtung, jede Betrachtung von Einsamkeit muss sich an Thoreau messen. Behaupte ich einfach mal.
Uhland, Ludwig „Gedichte und Dramen“ Für mich der Titan der deutschen Dichtung. Wer lieber Heine oder Claudius liest – meinetwegen. Aber die Dichtkunst gehört mit zu unserem schönsten Erbe, und wir sollten dieses Erbe pflegen. Und nicht nur, um ein Gefühl für epische Ritualsprache zu bekommen.
Zilbergeld, Bernie „Männliche Sexualität“ „Was (nicht) alle schon immer über Männer wussten ...“ Es muss nicht dieses Buch sein, es muss nicht die männliche Sexualität sein (nur weil ich männlich bin, interessiere ich mich erst einmal für meine Sexualität – ist das arg unverständlich?). Aber ich finde es prinzipiell sinnvoll, sich auch durch Fachliteratur mit seiner Geschlechtlichkeit und seinem Geschlecht auseinander zusetzen. Und es sollte mehr sein als nur das Studium der entsprechenden Seiten in der „Bravo“.
Ich hoffe, ich konnte Dir weiterhelfen. Gerne hätte ich Dir heute etwas über den Lauf der Welt erklärt. Aber ich kann nicht alle Fragen beantworten (und selbst wenn ich es könnte, würde ich es nicht tun). Daher diese Weiterempfehlung. Zufrieden?
Dein Homo Magi
***
Im Gemeindehaus
Hallo Salamander,
manchmal überlege ich mir eigenartige Dinge. Am letzten Wochenende war es das Ergebnis einer solchen Überlegung, dass ich mich mal wieder in den Räumlichkeiten einer evangelischen Gemeinde einfand. Wie Du weißt, bin ich christlich erzogen worden. So richtig mit allem drum und dran. Taufe samt Paten (drei, weil mehr hilft auch mehr), Konfirmandenunterricht und Konfirmation. Meine Mutter ist seit Urzeiten im Kirchenvorstand, mein Vater schon vor Urzeiten aus der Kirche ausgetreten. Aber gestört hat das so richtig niemanden. Und ich war in vielen kirchlichen Gruppen aktiv. Kindergottesdienst, Jugendarbeit, Kinderarbeit, Fahrten zum Kirchentag, christliche Wochenenden, Fortbildungen, Friedensgruppe. Als es dann an die Berufswahl ging, bewarb ich mich auch an einer evangelischen Fachhochschule – die Idee des Theologiestudiums scheiterte schon früher an meiner mangelnden Bereitschaft, mich mit Hebräisch und Griechisch auseinanderzusetzen. Nun, ich habe mein Studium an jener evangelischen Hochschule abgeschlossen, und ich bin nicht Theologe geworden. Am Ende eines längeren Prozesses bin ich auch nach einem meiner vielen Umzüge aus der Kirche ausgetreten. Aber das war nicht mein aktuelles Problem. Mein Problem am letzten Wochenende war eher, dass mir die Räumlichkeiten und die Leute noch vertraut sind. Ich habe die dortige Kirche seit 15 Jahren nicht mehr betreten, das Gemeindehaus seit fünf oder mehr Jahren (ab und an finden dort Familien- und Geburtstagsfeiern statt, zu denen ich mich dann doch hinbegebe). Am Wochenende war dort ein Kindersachenflohmarkt, und aus Gründen, die näher zu erläutern hier überflüssig sind, war ich auf einmal in der Notwendigkeit gefangen, dort Kinder-Pullover kaufen zu müssen. Also machte ich mit meiner Mutter einen Treffpunkt aus, lud Miteinkäuferin und Kind in den Wagen und fuhr dorthin. Und wie soll ich sagen: Es hat mir schrecklichen Spaß gemacht. Kaffee für 50 Pfennig, selbstgemachter Kuchen zu einer Mark das Stück. Dazu vielleicht zwanzig Tische mit Kindersachen, dazwischen Kinderkassetten, -videos und ein paar Langspielplatten. Spielzeug in Kisten, und Kinderbücher auf dem Fußboden in Stapeln. Es war ausgesprochen lustig. Viele Leute kannte ich vom Sehen, einige erkannten mich auch wieder – und meine Mutter konnte es nicht lassen, darauf hinzuweisen, dass die langbeinige blonde Frau am Kuchenstand mit mir zusammen konfirmiert worden ist. Als hätte ich damals auf so etwas geachtet. Alles in allem: Ein schöner Tag. Und am Abend kam dann – wenn auch nur für einen kurzen Moment – die Reue. Du bist aus der Kirche ausgetreten, Du bezeichnest Dich selbst als Heide. Du beschäftigst Dich mit Magie, mit Esoterik, mit Mystik. Und Du gehst in ein Gemeindehaus, auf eine kirchliche Veranstaltung? Doch der Gedanke nahm nicht lange in meinem Gehirn Platz. Dann fiel mir wieder ein, dass die Frau am Kuchenstand nicht die Inkas in Südamerika besiegt hat. Die freundliche Dame mit den Kinderpullis in der richtigen Größe war nicht schuld an der Abschlachtung der heidnischen Sachsen. Und auch die Verfolgung der Zigeuner hat wenig mit diesem Tag zu tun. Meine Religionswahl ist meine Entscheidung. Doch wenn ich Toleranz verlange, dann muss ich auch Toleranz bieten können. Ich bin nicht gefragt worden, ob ich am Abendmahl (für alle überzeugten „Antichristen“, die dies lesen: dem vampirischen Ritual einer Religion, die auf dem qualvollen „Erlösungstod“ eines vermeintlichen Gottessohnes am Holzkreuz beruht) teilnehmen will, und ich bin nicht nach meiner Kirchensteuer gefragt worden. Auch wurden mir keine peinlichen Fragen über Crowley oder Wicca gestellt. Man war tolerant und ließ mich in Frieden – zum Teil wohl auch, weil meine Mutter da war, die dort bekannt ist. Übe ich die selbe Toleranz auch in die Gegenrichtung? Wie ich ehrlich zugeben muss: nicht immer. Aber ich will es versuchen. Tucholsky sagte einmal über die SPD, sie solle sich in „hier können Familien Kaffee kochen“ umbenennen. Sehr satirisch, aber eigentlich trifft es den Kern der Sache. Wenn die Heiden als Glaubensgemeinschaft überleben wollen, dann brauchen sie nicht nur dreimal im Jahr ein gemeinsames Wochenende samt Ritual. Sie brauchen mehr. Man muss nicht nur eine Religion mit Leben füllen, sondern auch eine Religionsgemeinschaft. Dazu gehören gegenseitige Hilfe, Information, Partnerschaft, das Aufziehen von Kindern, das Begleiten von Sterbenden, die Organisation von gemeinsamen Veranstaltungen (über das Ritual hinaus!), kulturelle Veranstaltungen etc. pp. Und natürlich gehört dazu auch ein von Heiden organisierter Kindersachenflohmarkt. Samt Kaffee und selbstgebackenem Kuchen. Vor uns liegt noch ein langer Weg. Der Weg ist das Ziel!
Segen sei! Dein Homo Magi April
Frühling
Hallo Salamander,
im Moment nähert sich mit weiten Schritten der Frühling. Ich bin ein großer Freund des heidnischen Jahreskreises – erinnern mich doch Beltaine und Samhain jedes Mal daran, dass schon wieder ein halbes Jahr vergangen ist. Der Winter, das ist die Jahreszeit, die ich immer am deutlichsten merke. Meine Knochen werden kalt, und ich brauche nach dem Wintereinbruch immer ein paar Tage oder gar Wochen, um mich daran zu gewöhnen, dass ich jetzt nicht mehr einfach in Hemd und Hose rausgehen kann. Der Sommer, der ist einfach schön. Ich genieße es, wenn ich lange draußen sitzen kann. Am liebsten würde ich natürlich am Pulverturm in Prag sitzen und Kaffee trinken, oder an der Donau in Budapest oder oder oder. Aber meistens ist es dann doch so, dass ich im Sommer auf einem Fantasy-Fest sitze, die Nacht an einem Tisch in irgendeinem Burggraben oder einer mittelalterlichen Spelunke verbringe und darauf warte, dass die Temperaturen endlich sinken. Ich brauche nicht viel Schlaf, und so bin ich auch immer früh wach, um das Kommen der Hitze zu beobachten. Da macht es doch auch Sinn, wenn ich noch wach bleibe, um die Hitze zu verabschieden. Den Herbst liebe ich wegen seiner Farben. Ein herbstlicher Wald, das sind erst einmal Tausend Farbtöne gelb und rot. Jedes Blatt scheint zu versuchen, eine andere Farbe zu erzeugen. Der Herbst ist am schönsten in dem, was die Amerikaner „Indian summer“ nennen – ein zweites Auflodern der sommerlichen Hitze, das für einige Tage lang so tut, als wäre der Sommer wiedergekehrt. Und doch ist es nur das letzte Aufflackern des Lebens einer Leiche, denn der Sommer ist im Herbst schon tot und wird erst im Winter neu für das Ende des Frühlings geboren. Der Frühling ist jedoch die Jahreszeit, die am meisten für meine Nase tut. Man kommt nach einem Morgen aus dem Haus, riecht den Regen, der nachts gefallen ist und weiß, dass es Frühling wird. Man kann auch Schnee riechen und herbstliches Laub hat seinen eigenen Geruch. Aber der Frühling ist die Jahreszeit, die am meisten für die Nase tut. Wenn man sich ins Auto oder noch besser den Zug setzt, und einhundert Kilometer zurücklegt, dann kann man – wenn man seine Strecke geschickt wählt – dem Frühling entgegenfahren oder dem Winter hinterherfahren. Je nachdem beginnen Pflanzen immer mehr und mehr zu blühen, wenn man die Strecke entlang fährt, oder sie verpuppen sich immer mehr, bis von den ersten Ansätzen von Blüten nichts zu sehen ist. Bei diesen Fahrten stellt man fest, wie viel der Frühling für das Auge zu bieten hat. Doch er ist für mich nicht so bunt wie der Herbst. Der Herbst sieht aus, der Frühling riecht. Die Blüten öffnen sich, die Pflanzen schlagen aus, Insekten surren durch die Luft. Überall ist Leben, Leben, Leben – Leben im Überschwang, Leben aus dem Blütenkelch, Leben, das sich über die Landschaft ergießt. Und nicht nur die Natur wacht wieder auf, auch wir Menschen scheinen aus dem Winterschlaf zu erwachen. Der Frühjahrsputz ist doch nichts anderes als unser Versuch, unsere Umwelt auf das neue Jahr vorzubereiten. Das Fruchtbarkeitsfest ist für viele Beltaine, das Frühlingsfest aber ist Ostara. Und das lasse ich mir auch durch ein paar Hasen oder Eier nicht verleiden. Sie sind nicht biblisch, eigentlich auch nicht christlich, sondern sehr schöne heidnische Symbole. Natürlich ist der Hase als heidnisches Symbol durch Hugh Hefner ein wenig verwässert worden – aber bunte Eier und Hasenkostüme erinnern einen doch an den Frühling, oder? Ich mag den Frühling. Hier sollte man neue Projekte beginnen, sich überlegen, was man aus dem Winter in das neue Jahr mitnimmt und was man hinter sich lässt (auch wenn der Termin, um so etwas festzulegen, für viele Heiden NUR Samhain ist) und man beginnt wieder, seinen Körper zu spüren – und sei es auch nur, weil man erkennt, dass es noch ein anderes Geschlecht gibt (oder hübsche Wesen des eigenen Geschlechtes, je nachdem). Ich mag den Frühling. Und daher fasse ich mich auch heute kurz, denn ich will raus, einen Kaffee in einem Straßencafe trinken.
Alles Gute, Dein Homo Magi
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Die Natur des Menschen
Lieber Salamander,
verzeihe mir, dass der folgende Text etwas sehr abstrakt ist. Aber mir war danach, ihn Dir zur Verfügung zu stellen.
Ich denke öfters über die Natur des Menschen nach. Ein eigenartiges Geschöpf ist er doch. Nicht wegen seiner Einzigartigkeit, sondern wegen seiner Engstirnigkeit. Wir sind das Produkt dieses Planeten, die sogenannte Krone der Evolution – auch wenn man darüber sicherlich geteilter Meinung sein kann. Aber wir besitzen als einzige Wesen der Erde die Vernunft und damit die Fähigkeit der Sprache, welche es möglich macht, miteinander zu kommunizieren. (Wir vergessen an dieser Stelle mal die Diskussion darüber, ob Wale, Delphine, Affen und Ringelblumen vielleicht doch miteinander kommunizieren können und daher auch intelligent sind!) Diese Kommunikationsfähigkeit, gepaart mit unserer Intelligenz, sollte doch eigentlich dazu führen, dass wir im Lauf der Jahrhunderte Wissen auf Wissen türmen können. Nichts geht mehr verloren, da wir unsere Erkenntnisse aufzeichnen können. Bestimmte Grundüberlegungen über unser Dasein hätten wir also sicherlich irgendwie schon gemeinsam hinkriegen können. Unser Denken hätte zu Aufzeichnungen geführt, auf denen wir dann aufbauen können, so dass wir noch tiefer denken können. Wir ständen in unseren Denkprozessen auf den Ergebnissen aller vor uns gekommenen Generationen. Doch: Pustekuchen. Im Gegenteil ist es so, dass nicht nur jede Epoche dazu verdammt scheint, die Fehler der vorangegangenen Zeit nachzuholen und in neue Varianten einzukleiden, nein – es scheint sogar so zu sein, dass jede Generation gezwungen ist, die Fehler jeder vorhergehenden Generation erneut identisch zu wiederholen. Ähnlich dem Prozess, bei dem ein Embryo im Mutterleib die Evolutionsgeschichte durchgeht, scheint es einen zweiten Prozess zu geben, der uns in unserem Leben von der Stufe der Kulturlosigkeit bis zur Stufe der Kommunikationsbenutzung innerhalb unserer Kultur bringt. Und dann sterben wir. Wenn das mal nicht ungerecht ist.
Doch gibt es eine Alternative? Wohl kaum. Denn wir scheinen dazu verdammt zu sein, Fehler zu wiederholen. Kinder sind nicht bereit, ihren Eltern (oder älteren Menschen überhaupt) zuzuhören, wenn sie erzählt bekommen, welche Dinge sie vermeiden sollten. Man will halt seine eigenen Erfahrungen machen, und deswegen legt jede Generation erneut die Hand auf die Herdplatte und verbrennt sich. Schon gar deswegen, weil die Eltern doch auch die Hand auf ihre Herdplatte gelegt haben. Jeder muss seine eigenen Erfahrungen machen, und jeder leidet dann dafür, dass es keiner Generation gelingt, diese Kette der Schmerz-Weitergabe zu unterbrechen. Und die Älteren geben auch zu schnell auf. Verbittert darüber, dass ihnen niemand zuhören will, verlieren sie die Geduld (wenn sie je welche hatten) und verzichten darauf, Informationen aus ihrem reichhaltigen Erfahrungsschatz weiterzugeben. Bin ich die Ausnahme? Habe ich übermächtige Fähigkeiten, die es mir erlauben, vor dem Erreichen meines biologischen Ablaufdatums Dinge von allgemeiner Gültigkeit von mir zu geben? Bin ich einfach dazu in der Lage, älteren (weisen?) Wesen zu lauschen, die mich sozusagen immer mental auf den Knien wippen und mir Wahrheiten erzählen? Wohl kaum. Doch ich versuche die uns von Gott gegebene Kraft der Intelligenz zu verwenden, um bestimmte Grundfragen der Existenz in den Griff zu kriegen. Ich nähere mich Problemen dadurch, dass ich sie erst eine Weile lang betrachte, so wie man eine Kristallkugel betrachtet. Ich wende das Problem, versuche von verschiedenen Seiten in es hineinzuschauen und den Inhalt des Problems unter verschiedenen Blickwinkeln zu sehen. Und wie bei der Kristallkugel ist es auch bei den Problemen so, dass man die äußere Form relativ schnell erkennt, aber endlos brauchen kann, um wirklich alle Effekte und Auswirkungen zu überschauen. Doch man muss einen Punkt finden, an dem man sich bereit findet, seine Beobachtungen einzusetzen. Wer Zeit seines Lebens in die Kugel schaut, wird zwar immer weiser, aber er verliert den Kontakt zu Außenwelt und bleibt nur in sich weise, nicht in den menschlichen Zusammenhängen. Wer zu früh damit aufhört, interessiert in die Kugel zu schauen, der wird zwar erkannt haben, was er mit der Kugel hätte machen sollen, aber er wird daraus keine Konsequenzen gezogen haben. Er ist ein Narr der übelsten Kategorie. Ein Narr, der es hätte besser wissen können, aber nicht nach diesem besseren Wissen gehandelt hat. Nur derjenige, der in der Lage ist zu erkennen, wann er genug Wissen gesammelt hat und dann in der Lage ist, dieses Wissen auch anzuwenden, wird ein echter Meister seiner Probleme und der Herr seines Schicksals. Was habe ich herausgefunden, als ich in diese Kristallkugel geblickt habe? Eine Menge. Doch nur drei Dinge stehen mir als markant in der Erinnerung.
Die erste Erkenntnis ist die, dass der einzige akzeptable Begriff für die Abgrenzung von Menschen gegenüber Nicht-Menschen (oder nicht-menschlichem) der ist, der einen gemeinsamen Faktor für alle Menschen benennt und keinen einzigen Menschen ausschließt. Außerdem sollte der Faktor nachvollziehbar sein. Ich verstehe „Menschheit“ als eine ausgedehnte Familie, und daher erschien es mir sinnvoll, ähnliche Kategorien anzulegen wie bei der Definition von Familie. Familienmitglieder sind die, die mit mir durch eine nachvollziehbare Zahl von vermittelnden Geburten verwandt sind. Was soll das heißen? Meine Mutter ist meine Mutter, weil sie mich geboren hat. Mein Bruder ist mein Bruder, weil er über meine Mutter mit mir verwandt ist. Mein Cousin ist über die Mutter meines Vaters mit mir verwandt, meine Großtante über die Mutter meiner Mutter meiner Mutter. Nehmen wir jetzt auch noch die Väter in die Definition hinein (immerhin sind sie genetisch Väter per vermittelnde Geburt, wenn auch nicht durch einen Geburtsakt), dann haben wir eine Definition. Haben wir eine? Nein, denn die Frau meines Onkels – vulgo: meine Tante – ist nicht so einfach mit mir verwandt, auch wenn sie meinen Onkel (Sohn von Mutter von Vater) geheiratet hat. Ich weite meine Definition also aus. Scheinbar besteht meine Familie aus denjenigen Wesen, die mit mir durch eine nachvollziehbare Zahl von vermittelnden Geburten verwandt sind plus die Wesen, die mit ihnen in engem Umgang leben. Herzlichen Glückwunsch, jetzt habe ich also meine Onkels und eventuelle Schwager in die Definition aufgenommen. Aber ist nicht auch der Hund meiner Familie in engem Umgang mit meiner Familie? Hier hielt ich kurz inne und versuchte meine Definition an der gesamten Menschheit zu testen. Also: Nur einmal angenommen die gesamte Menschheit wären alle Wesen, die mit mir durch eine nachvollziehbare Zahl von Geburten verwandt sind. Schon diese Diskussion wird schwierig, weil ich hier eine nachvollziehbare Zahl von Geburten mit meinem Wissen nicht einfach definieren kann. Und ich wollte doch eine verständliche Theorie. Und noch schlimmer wird es, wenn ich die erweiterte Familiendefinition – nämlich die Anwesenheit von „vertrauten Wesen“ (Katzen, Pferde, Hunde, Ameisen ...) – in diese Definition der Menschheit einfließen lasse. Auf diese Art und Weise komme ich unter Beibehaltung meines herkömmlichen Menschheitsbegriffes keinen Schritt weiter. Ich betrachte also brav weiter meine imaginäre Kristallkugel und überlege in Ruhe. Entweder ich vergesse meine schöne Definition – das habe ich nicht vor –, oder aber ich muss meinen Menschheitsbegriff so weit ausdehnen, dass er meiner Definition entspricht. Denn die Definition ist ja offensichtlich richtig. Ich dehne und dehne und dehne an meiner Definition, bis sie so weit gefasst ist, dass sie passt und so knapp formuliert ist, dass sie einfach verständlich ist. Mit dem Ergebnis bin ich sehr zufrieden, auch wenn es auf den ersten Blick eigenartig wirkt. Also: Wenn die Menschheit aus allen Wesen besteht, mit der ich durch eine Zahl von Geburten verwandt bin, dann ist die einzige akzeptable Definition für Menschheit die Summe alles Lebens auf der Erde. Punkt.
Die zweite Erkenntnis ist das Ergebnis einer Reihe von Überlegungen zum Thema Geschlechter. Eigentlich ist Geschlecht ein Begriff, der – abgesehen von gewissen körperlichen Unterschieden – nur im Sinne von Fortpflanzung Sinn macht. Es gibt zwei Geschlechter, weil der unterscheidende Begriff der ist, dass man zwei „Sorten“ Menschen braucht, um einen dritten Menschen zu produzieren. Definiert man jetzt ein Geschlecht als „der Teil der Menschheit, der mit mir kein Kind haben kann“ bzw. als „der Teil der Menschheit, der mit mir ein Kind haben kann“, dann definiert man (wenigstens ansatzweise) die Unterschiede zwischen Mann und Frau. Aber ist das richtig? Ich meine, was ist mit jenen Frauen – oder Männern – die unfruchtbar sind? Die können kein Kind mit mir haben. Sind das dann Männer bzw. im Wechselschluss Frauen? Wohl kaum. Vergessen wir also diese biologische Definition, vergessen wir die funktionale Begründung und üben wir uns an einer äußerlichen. Frauen haben Brüste, Männer haben keine. So dumpf oder so ähnlich müsste eine Beschreibung von unterschiedlichen Geschlechtern aussehen, wenn man nach der äußerlichen Richtschnur vorgehen würde. Doch diese Begründung greift leider nicht. Denn es gibt Menschen, die androgyn sind. Transvestiten. Transsexuelle. Frauen mit Bärten. Männer mit Brüsten. Also: Abgang Definition. Wollen wir es auf dieser Ebene weiter versuchen? Nein. Offensichtlich gibt es keine klare Definitionsgrenze, die biologisch/funktional oder vom Aussehen her zwischen Geschlechtern unterscheiden kann. „Halt!“ werden hier die Biologen unter meinen Lesern brüllen. Natürlich gibt es ein Unterscheidungsmerkmal – das Y- bzw. X-Chromosom. Nun, ich hatte eingangs behauptet, dass es nachvollziehbare Kriterien sein sollen. Und ein Test, der mehr als meine eigenen Fähigkeiten involviert, kann für mich nicht nachvollziehbar sein. Das soll nicht heißen, dass ich nicht an Chromosomen glaube. Ich glaube auch an Transvaal, obwohl ich noch nie dort war. Aber es ist nicht möglich, so mal eben im täglichen Leben den Umgang mit einem zu definierenden anderen Geschlecht per Chromosomen-Kontrolle anzugehen. Die Konsequenz fällt mir einfach: Es gibt keine Geschlechter, wenn man von einer fundamentalen Argumentation ausgeht. Und dann erlöschen auch einige andere Denkstrukturen in meinem Hirn. Klar, ich kann mich mit manchen Menschen (allgemein bis jetzt offensichtlich fälschlicherweise als „Frauen“ definiert) fortpflanzen. Es gibt Menschen, mit denen ich mich gut unterhalten kann – Männer wie Frauen. Es gibt Menschen, mit denen ich gerne weggehe. Es gibt Menschen, mit denen ich zärtlich umgehe. Es gibt Menschen, mit denen ich ins Kino gehe. Es gibt Menschen, die mir beim umziehen helfen. Es gibt Menschen. Punkt.
Die dritte Erkenntnis bezieht sich auf Gott. Wenn man an Gott glaubt – und ich tue es, wenn auch eher im verständlicheren Sinne von „Gottheit“ oder „göttlichem Wesen“ –, dann muss man sich die Frage stellen, wie Gott sich unser Verständnis oder Verstehen seiner Person vorgestellt hat. Hier kommt meine nächste Vorerwartung ins Spiel: Ich gehe von einem gütigen Gott aus, wenn ich mich auch – maximal – auf das Bild eines gütigen, aber partiell uninteressierten Gottes einigen würde. (Dies tue ich aber nur, um eventuellen Diskussionen vorzubeugen. Es ist ein Kunstgriff, der mich vor dummen Fragen retten soll. „Wie kann Gott noch nach Auschwitz möglich sein?“ ist eine gern gestellte Frage, die aber mit Glauben nichts zu tun hat. „Wie konnte Gott vor Auschwitz möglich sein?“ ist genauso scholastisch, und sicherlich interessant zu diskutieren. Die äußerste Grenze meines Gottesbildes ist für mich das Bild von „Gott hat sich verlaufen“, mehr bin ich nicht bereit, zu akzeptieren.) Wie auch immer. Wenn Gott will, dass wir uns ihm nähern – für mich das Ziel der Existenz –, und wenn Gott alle Geschöpfe gleich erschaffen hat, dann muss es eine Qualität geben, die es allen Wesen gleichermaßen erlaubt, sich ihm zu nähern. Und diese Qualität muss für Menschen über ihren Verstand definierbar sein, denn wir besitzen Verstand und Vernunft als einzige unter den Lebewesen (meine Einschränkungen für Ringelblumen etc. habe ich weiter oben formuliert). Und diese Vernunft darf – und kann – kein rein rationales Medium sein, sondern sie muss einen Grund haben. Für mich ist dieser Grund in der Erleichterung der Annäherung an Gott zu sehen. Sonst wäre die Gabe der Vernunft sinnlos. Und diese Vernunft setze ich also ein, um zu versuchen, Gottes Plan zu erkennen. Also: Wenn Gott allen Wesen etwas mitgegeben hat, was sie benutzen können, um sich ihm zu nähern, dann müssen alle Wesen gleichen Zugang darauf haben. Und der einzige Zugang, den wir alle besitzen, ist die Erkenntnis unseres Selbst. (Ich gehe sehr wohl davon aus, dass Tiere Selbsterkenntnis besitzen. Schmerz und Lust sind auch Formen von Selbsterkenntnis, nicht nur das Denken, welches wir arg überheblich sehr hoch einstufen.) Wer sich selbst nicht mehr wahrnimmt, der lebt nicht mehr. Ich spiele meine weiteren Begründungen jetzt nicht an der gesamten Schöpfung, sondern nur am Menschen durch. Dies liegt einfach daran, dass dieses Bild den meisten Menschen einfacher begreiflich zu machen ist als Bilder aus der Tierwelt. Man möge mir verzeihen. Zurück zum Thema. Alle anderen Erkenntnisformen Gottes besitzen Ausnahmen. Für das Sehen der Schöpfung gibt es die Blinden, für das Hören der Wunder der Erde die Tauben als Gegenargument. Schriftliche Grundlagen – wie die Bibel, das Buch Mormon oder der Koran – können es nicht sein, solange es Menschen gibt, die das Buch und die Fähigkeit zu Lesen sowie sehende Augen nicht automatisch zur Geburt erhalten. Es dürfen auch keine Orte sein, weil die nicht alle Menschen erreichen können. Es muss etwas sein, was jeder Mensch erreichen kann. Und dies ist – wenn man eine Bedingung formulieren will, die alle Menschen einschließen soll – nur eine Sache. Man selbst. Und was ist dieses „Selbst“, über das man zu Gott gelangen kann bzw. einen Schritt zur Gott-Erkenntnis hin machen kann? Die eigene Existenz, genauer: die Erkenntnis über die eigene Existenz und daraus resultierend die Erkenntnis über die Wunderbarkeit der Schöpfung. Der Gedanke „ich denke, also bin ich“ impliziert auch automatisch die Erkenntnis, dass man ist. Und man ist, weil man irgendwoher kommt. Und dieses irgendwoher kann – soviel man auch darüber nachdenkt und soviel man auch an Erklärungen und Erklärungsmöglichkeiten darüber besitzt – in letzter Konsequenz nur als „letzten Wirker“ Gott haben. Wir sind, weil Gott uns geschaffen hat oder weil Gott die Erde geschaffen hat oder weil Gott das Universum geschaffen hat. Egal. An irgendeinem Punkt der Kette „Schöpfung des Universums – meine Geburt“ setzt Gott als handelndes (tuendes) Subjekt ein. Ich kann Gott erkennen, weil ich bin. Und das ist es wohl, was immer gemeint ist, wenn man vom „Lebensfunken“, vom „göttlichen Samen“ oder der „Seele“ in uns spricht. Wir sind Teil der Schöpfung, und daher Teil von Gott. Und die Schöpfung ist der Plan Gottes, und daher sind wir alle Teil des göttlichen Plans. Und im Nachdenken darüber, im Bewusstwerden darüber gelangen wir zur Erkenntnis eines schöpfenden, schöpferischen Gottes, der uns gemacht hat. Und wenn wir das erkannt und verinnerlicht haben, dann können wir nie wieder von Gott getrennt existieren. Denn Gott ist in uns.
So, ich hoffe, ich habe Dich nicht allzu sehr angestrengt. Aber ich hatte das Gefühl, dass Dir der Text gefallen würde. Hat er doch, oder?
Dein Homo Magi
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Ostern
Hallo Salamander,
ich weiß, Du würdest Dich wundern, wenn ich zu diesem Termin nicht schon wieder etwas über Christen sage. Das Osterfest ist immerhin neben dem Weihnachtsfest das größte Fest der Christenheit. Die Geburt des Messias, der Tod des Messias – das ist schließlich ein Kreis, der den Jahresablauf mit bestimmten Ereignissen in seinem Leben verknüpft. Mir ist der heidnische Jahresablauf lieber. Immerhin ist es für mich leichter nachvollziehbar, wenn man den Herbst und den Winter mit dem Absterben verbindet, während Frühling und Sommer für das Wachsen und Gedeihen stehen. Ein Erntefest hat im Herbst zu sein, ein Fruchtbarkeitsfest im Frühling oder frühen Sommer. Ich erinnere mich immer wieder gerne an einen Aufruf im Internet in englischer Sprache, man möge doch versuchen, ein heidnisches Ritual zu Beltaine weltweit zur gleichen Zeit durchzuführen, um die Energien zu bündeln. Toller Plan. Leider beweist er einen eklatanten Unverstand vom Aufbau der Erde. Die Erde ist in Zeitzonen aufgeteilt, und ein Ritual um 18.00 Uhr in Wanne-Eickel ist mitnichten mit einem Ritual um 18.00 Uhr in New York zeitgleich (wenn auch zur gleichen Ortszeit ...). Die unterschiedlichen Zeitzonen machen einem einen Strich durch die Rechnung. Leider scheint es aber nicht zumutbar, die Heiden auch zu den entsprechenden Zeiten zu wecken. Aus dem Schlaf gerissene Heiden an Ort A, hellwache Heiden beim Frühstück an Ort B und Heiden am Nachmittag an Ort C ergeben – mal von den Koordinationsproblemen abgesehen – ein eigenartiges Ritual. Aber das Internet vermittelt einem das Gefühl, alle Welt wäre eins – nur eben spielt die gute alte Sonne samt der Erddrehung da nicht mit. Die Christen haben es da einfacher. Die Kreuzigung kann weltweit am selben Tag gefeiert werden, da das zu feiernde Ereignis völlig ohne die „Kooperation“ der Feiernden auskommt – der Messias ist schon tot, und keine Tat von uns Menschen kann dieses Ereignis noch beeinflussen. Eine Art kosmisches Krippenspiel läuft im christlichen Jahreslauf vor uns ab, und da ist es egal, ob die Geburt im Stall auf Hawaii, in Jerusalem oder in Wanne-Eickel stattfindet. Manche Heiden scheinen damit aber auch ihre Schwierigkeiten zu haben. Auf der Südhalbkugel herrscht Winter, wenn bei uns Sommer ist. Zumindest habe ich das in der Schule so gelernt (ich war noch nie auf der Südhalbkugel, um dort eigene Beobachtungen anzustellen). Daher macht es doch wenig Sinn, wenn man z.B. Samhain in Europa und in Australien am selben Tag feiert – richtig? In einem Fall liegt der Termin im Herbst (was sicherlich gut zur Stimmung des Tages passt), im anderen Fall im Frühling (was ich für ein wenig problematisch halte). Interessante Frage, wo wir gerade dabei sind. Auf der Südhalbkugel gibt es doch einen anderen Sternenhimmel als auf der Nordhalbkugel. Gibt es dort auch andere Sternzeichen und astrologische Symbole? Viel Spaß beim Grübeln (ich wusste es auch nicht und musste mir fachkundigen Beistand einholen ...). Das ist eben der Unterschied zwischen Christentum und Heidentum (okay, einer der Unterschiede, wenn auch ein signifikanter). Das Christentum lebt an der Erde und der Natur vorbei, während wir Heiden versuchen, mit der Erde und der Natur zusammen zu leben. Und dieses „Zusammenleben“ bedeutet auch, dass wir uns Erde und Natur anpassen. Und nicht umgekehrt. Zurück zum christlichen Heilskalender. Das christliche Jahr macht sich an den Terminen aus dem Leben Jesu fest. Damit handelt es sich natürlich nicht um einen kontinuierlichen Jahresablauf, sondern die Geburt Jesu (Weihnachten) und der Tod Jesu (Ostern) bilden ein Geschehen ab, das sich über 33 Jahre Zeit abgespielt hat (wenn wir den Quellen einmal trauen wollen). Es sind Feiertage, Gedenktage, die zwar die Wiederkehr eines bestimmten Termins feiern, aber diese Feiertage stehen in keinem ursächlichen Zusammenhang zueinander. Natürlich sollte Jesu geboren werden, bevor er gekreuzigt wird. Aber rein theoretisch könnten wir beide Termine an jedem Tag des Jahres feiern. Kein Tag ist z.B. prädestiniert dafür, Jesu Todestag zu sein. Dass dem nicht ganz so ist, weiß ich. Nicht umsonst haben die Missionare Weihnachten auf einen heidnischen Feiertag gelegt – und Ostara bzw. Ostern ist eher heidnisch als christlich (zeigt mir die Stelle mit den bunten Eiern in der Bibel!). Der heidnische Jahreslauf ist ein sich immer wiederholender Kreis, der bis in alle Zeit hinein fortgesetzt werden kann. Frei von Kreuzigungen hält er sich an den Lauf der Natur. Natürlich funktioniert unser heidnischer Kalender am besten in unserer natürlichen Umwelt – ich weiß nicht, wann man in der Sahara, der inneren Mongolei oder auf Feuerland am besten Samhain feiern würde, aber das ist eben auch nicht mein Problem. Mein Heidentum ist keine Weltreligion, kein Glaube, zu dem ich Missionierungen betreiben würde. Er soll für mich und meine Umwelt passend sein, ohne dass ich aus den Augen verliere, dass es auch andere Glaubensrichtungen gibt, die für andere Menschen und andere Orte richtig sind. Und mal ganz ehrlich: wenn die Koexistenz von Christentum und Heidentum in meinem Bekanntenkreis bedeutet, dass ich zu Ostern weiterhin ohne Gewissensbisse Schokoladenhasen und Eier mit Senf essen kann – bitte.
Alles Gute, Dein Homo Magi
P.S.: Sei mir nicht böse, wenn ich immer wieder vom Messias spreche. Ich weiß, dass Dich das manchmal ärgert, weil es eben nicht DEIN Messias ist. Meiner auch nicht. Aber Messias ist halt ein Titel, und einer, der meiner Ansicht nach passender ist als I.N.R.I.
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Salamander
Lieber Salamander,
Du hast mich schon ein paar Mal gefragt, wie ich auf meinen Namen kam. Nun, ich gebe zu, dass ich mir nicht so viele Gedanken gemacht habe, wie Du mir vielleicht unterstellst. „Salamander“, das ist da schon einfacher. Das Tier steht in der Alchemie für bestimmte Effekte, es ist ein schönes, wenn auch schnelles Tier (das heißt: man kann es im Gegensatz zu anderen Tieren selten in Ruhe betrachten). Und man sagt dem Salamander nach, er könne sich selbst heilen (das scheint wohl daher entstanden zu sein, dass ein Salamander weiterlebt, wenn er seinen Schwanz verliert). Ich erinnere mich noch an ein oder zwei Geschichten, in denen ein Feuersalamander aus einer Flamme heraus auftritt – eine sehr effektvolle Sache, wie ich zugeben muss. Und natürlich sind da noch die Erinnerungen an „Lurchi“, den Held meiner Kindertage. „Und im Land schallt’s lange noch – Salamander lebe hoch!“. Irgendwo habe ich noch eine Lurchi-Biegefigur hier herumliegen. Oder nein – das war eine von diesen Figuren aus Hartplastik, die man in den Bauch kneifen konnte und die dann lustige Geräusche machten (meistens ein „Plööp!“). Na gut, ich lenke wieder von mir ab. Wie Du weißt, kann ich ein paar Worte Latein. „Großes Latinum“ hieß das damals in der Schule – hätte ich gewusst, dass diese Art der Prüfung wenige Jahre später abgeschafft wird, ich hätte mich nicht mehr so dafür ins Zeug gelegt. War dann ärgerlich, das Jahr voller Langeweile drauf gesetzt zu haben, nur um eine Qualifikation zu erwerben, die keiner braucht. Die Wahl eines Namens hat mich jahrelang nicht interessiert. Sollten die anderen sich doch quer durch „Die Nebel von Avalon“ klauen oder meinetwegen die 27. keltische Kriegsgöttin in das Netz schicken. Auf Treffen, wo man die Gelegenheit hat, die Leute persönlich zu treffen, war ich immer dickköpfig genug, nur meinen eigenen Namen zu nennen. Ich habe einen schönen Namen, mit dem ich eigentlich ganz zufrieden bin, und sehe keine Veranlassung, mir einen weiteren Namen zuzulegen. Aber unter meinem richtigen Namen schreiben? Auf einmal erschien mir eine bestimmte Distanz wichtig; etwas Abstand zwischen dem Schreiber und mir selbst. Eine Distanz, die es auch erlaubt, Dinge über mich zu formulieren, die ich sonst wahrscheinlich nicht formulieren könnte. Ich wollte einen Namen, der andeutet, dass ich mich mit Magie beschäftige. Ohne dass ich dabei gleich verrate, zu welcher Art der Magie ich mich selbst schlagen würde – also keine Schreibweise von Magick, Magik oder Magie, die dem Kundigen (oder vermeintlich Kundigen) verrät, wer ich bin und was ich tue. Es sollte so neutral wie möglich sein. Außerdem wollte ich einen geschlechtsneutralen Namen – nicht jeder sollte wissen, wer Homo Magi ist und in welchem Verhältnis er zu Dir steht. Verhältnis – das klingt doch schön, oder? Ein wenig verfänglich, ein wenig unverfänglich. Und da fiel mir eine Comicserie ein, die ich früher gerne gelesen habe. Ich habe einige Jahre lang die Comics von DC gesammelt („Batman“, „Superman“ etc.). Und da gab es mal einen Handlungsstrang über die Versuche eines Magiers, Menschen mit einem magischen „Gen“ im Blut einzusammeln und mit ihnen zusammen ganz tolle Dinge zu tun. Und diese Menschen bezeichneten sich im Comic als „Homo Magi“ – als klare Abgrenzung zum „Homo Sapiens“. Mir fallen noch weitere Wortschöpfungen ein – von unserem Vorgänger „Homo Erectus“ über den „Homo Ludens“ zum „Homo Superior“. Dieser „Homo Magi“ erschien mir als eine nette Möglichkeit, mir einen Namen zu suchen. Nicht als Einzelwesen, sondern eher als Titel oder Bezeichnung. Nicht der Versuch, mir einen anderen Namen zu verschaffen (wäre aus oben genannten Gründen auch unglaubhaft), sondern eine Art Verpackung, aus der heraus ich agieren kann. Den Namen verwende ich vielleicht noch einmal für irgendetwas – zum Beispiel für eine Arbeitsgruppe oder ein Magazin oder einen Workshop. Egal. Es ist eine Verpackung, in der im Moment nur ich mich befinde. Ein großer Umzugskarton, in dem ich sitze und auf meine Tastatur hämmere.
Vergiss es nie: Namen sind doch nur Schall und Rauch. Ich weiß, wer ich bin. Und Du weißt auch, wer ich bin – ganz tief in Dir drin. Egal wie ich heiße, meine Seele bleibt die selbe.
Segen sei! Dein Homo Magi Mai
Beltaine unter dem Mond
Hallo Salamander,
Beltaine ist – wie alle Hochfeste – ein Termin, an dem die Tore zwischen den Welten offen stehen. Vielleicht nicht sperrangelweit, aber doch zumindest so weit, dass man mit einem Fuß in der Tür und einem kleinen bisschen drücken in eine andere Welt hinübergelangen kann. So ging es mir auch bei diesem Beltaine. Eigentlich wollte ich mich nicht zu einem Ritual überreden lassen. Öfters plagt mich die Angst vor einem gewissen „Ritualtourismus“, der dazu führt, dass man mit möglichst vielen Leuten auf möglichst tollen Kraftplätzen möglichst beeindruckende Rituale durchführt. Abgesehen von dem Druck, unter den man sich damit selbst setzt, sind es auch gerade diese Ansprüche – verbunden mit einprägsamen dämlichen Begriffen wie „Event“ und „Location“ – die mir den Spaß an der Hexerei und dem Heidentum immer wieder verleiden. Aber davon wollte ich jetzt nicht erzählen. Ich habe dieses Mal sehr viel Lust auf ein Ritual gehabt. Ich bin also mit einer Gruppe von Leuten, die sich ziemlich zufällig gefunden hat, am Abend – so gegen 22.00 Uhr – in den Wald gegangen, um ein Ritual durchzuführen Wir hatten uns darauf geeinigt, ein kurzes Ritual zu machen. Sozusagen eine Beschränkung auf die wesentlichen Bestandteile, weil wir weder ein großes Anliegen hatten noch im Glauben waren, irgendwelche längeren Formalitäten durchführen zu müssen. Das Ritual war auch nach wenigen Minuten erledigt. Wenn ich Dir jetzt Zeitangaben gebe, dann möchte ich darauf verweisen, dass wir alle vorher unsere Uhren abgezogen hatten. Außer unserem gemeinsamen Beginn und unserer Rückkehr – die Zeiten dafür haben mir immer andere Leute mitgeteilt, weil ich diesen Abend lang überhaupt keine Uhr trug – kann ich über die Zeitabläufe im Ritual wenig Angaben machen. Also: Das Ritual war sehr schlicht. Erst wurde der Kreis gezogen, dann die Elemente gerufen. Osten, Süden, Westen, Norden mit ihren Elementen – wobei man sich hier natürlich streiten kann, was die für die entsprechenden Himmelsrichtungen passenden Elemente sind. In der eben genannten Reihenfolge sind das für mich Luft, Feuer, Wasser und Erde. Man kann – auch begründeterweise – anderer Meinung sein. Ich bin mit mir selbst einig ... Nach der Anrufung der Elemente kam eine kürzere Phase, die man eher als meditativ beschreiben könnte. Ohne große Probe und ohne größeren Anspruch traten wir alle vor unsere Gottheit oder Gottheiten und erledigten das, was wir zu erledigen hatten. Es gab dann noch einen Schluck Wein, und wir hatten unserer Meinung nach den Höhepunkt des Rituals überschritten. Wir begannen das ganze rückwärts wieder aufzurollen; die Elemente wurden verabschiedet, der Kreis geöffnet. Und dann hätten wir eigentlich heimgehen können. Aber das, was in den nächsten circa anderthalb Stunden passiert ist, wird mir wohl immer ein Rätsel bleiben. Wir wollten nicht gehen, oder konnten nicht gehen, oder durften nicht gehen. Verzeihe mir, wenn ich nicht in der Lage bin, exakt zu beschreiben, was ich gefühlt oder gedacht habe. Auf der einen Seite fühlte ich mich geborgen. Wenn man ein Bild finden müsste, dann würde ich sagen, dass ich in der Ecke eines wunderschönen Kinderzimmers in einem bequemen Lehnstuhl saß und mich nicht traute, den Raum zu verlassen, weil ich das Kind wecken könnte. Und um mich herum war die gesamte Schöpfung still, das Universum hielt fast den Atem an, weil sie das Kind auch schlafen lassen wollten. Selbst die Welt um mich herum hatte sich verändert, als ich mich in aller Ruhe umsah. Die Sterne schienen anders; Wetterleuchten erhellte die Wiese, der Mond hatte sein Aussehen leicht verändert, es war warm geworden und die normalen Hinweise auf die nahe Zivilisation – vom Laserlicht der nächtlichen Disco über die herüberwehenden Gesänge aus dem Dorf – waren verschwunden. Die Wiese und wir waren an einem eigenartigen Ort, der mit unserer Welt wenig zu tun hatte. Auf der anderen Seite hatte ich ein wenig Angst. Es fällt mir nicht leicht, dies zuzugeben. Immerhin ist es in der Heidenszene für viele Menschen SEHR wichtig, welches Bild von sich sie nach außen vermitteln. Mir ist es auch ein wenig peinlich, aber ich hatte wirklich Angst. Alle anderen Teilnehmer des Rituals wirkten so, als wären sie in dieser Geborgenheit völlig glücklich und gut aufgehoben. Der einzige, der zweifelte, war ich. Die Situation war überwältigend – alle Aspekte der Welt waren wunderschön, ich war (fast) rundum glücklich. Doch eine Ecke meines Verstandes sagte mir, dass dies nicht normal war. Verstehe mich nicht falsch – es war wunderschön. Ich bin sehr lange auf dieser Wiese herumgelaufen und habe in diesem Gefühl „geschwelgt“. Es war einfach alles richtig, und das einzige, was ich hören konnte, war eine tiefe Stille, die fast schon so leise war, dass sie deutlicher war als jeder tosende Sturm. Das Licht war überirdisch. Ein besseres Wort fällt mir dafür nicht ein. Und immer war da in meinem Schädel jene eine Ecke, die nicht nachgeben wollte. Eine Faser meiner Existenz blieb skeptisch, ließ sich nicht in die Arme fallen, die sicherlich bereit gewesen wären, mich aufzufangen. Ich dachte daran, wie wir alle aus dem Ritual zurückkehren sollten. Ich überlegte mir Wege aus der Situation heraus, die mich und die anderen schützen und retten würden. Es war mir nicht möglich, mich der Energie hinzugeben – obwohl ich nicht wusste, vor was ich schützen und retten wollte. Salamander, Du kennst mich. Du weißt, dass ich selten von etwas so überrascht bin, dass es mir die Sprache verschlägt. Oder so wenige klare Gedanken fassen kann, dass ich die Sprachfähigkeit verliere. Ich konnte an diesem Abend, in dieser Nacht nicht sprechen. Es war, als wäre es die erste Nacht der Welt. Alles war noch frisch, noch rein – Luft, Licht, Wasser und Boden. Alles war gut, alles war richtig. Nur für mich nicht. Salamander, sei mir nicht böse, dass ich Dich mit meinen Problemen behellige. Aber ich glaube, dass Du nichts über mich lernst, wenn ich Dich nicht an den Dingen teilhaben lasse, die ich nicht alleine lösen kann. Nur von guten Dingen über mich erfährst Du nicht die ganze Wahrheit über mich – und diese Wahrheit will ich Dich sehen lassen.
Drei Antworten kann ich bieten. Sie sind jede für sich nicht wirklich in der Lage, alle Aspekte dieser Nacht zu erklären. Und zusammen passen sie auch nicht. Die erste Antwort ist jene, dass es meine Gabe im Zusammenhang mit Wegen und Toren war, die mich vor dem schützte oder an dem hinderte, was den anderen wiederfuhr. Mein Fuß verblieb in der Tür, bevor diese sich endgültig schloss. Und so blieb ich auf der Schwelle stehen, während die anderen hindurchschritten. Die zweite Antwort ist jene, dass ich am völligen Überschreiten der Schwelle gehindert worden bin. Etwas in mir oder etwas an mir verhinderte, dass ich zu was auch immer zugelassen wurde. Vielleicht war ich nicht völlig würdig oder völlig geeignet für das, was den anderen wiederfuhr. Die dritte Antwort ist jene, dass ich selbst vor der Schwelle zurückgeschreckt bin. Nicht wie ein Vampir, der eine Wohnung nicht betreten kann, wenn er nicht eingeladen ist, sondern wie ein zufälliger Zuschauer, der eine Szene sieht, die wunderschön ist, doch nicht für ihn gedacht. Ich weiß nicht, welche Antwort die Richtige ist. Leider vermute ich, dass Du es auch nicht weißt – obwohl ich froh wäre, wenn Du mir helfen könntest. Wenn Du mich jetzt als jemanden vor Dir siehst, der etwas verwirrt ist – dann hast Du recht. Verwirrt im Angesicht des Göttlichen – vielleicht auch ein Zugang zum Geheimnis. Verwirrt von dem Gefühl, nicht würdig zu sein. Oder Angst vor der eigenen Courage – „Fools rush in where angels fear to tread“ ...
Ich brauche mir nichts einzureden. Wenn es die Rolle des Narren in einem Zusammenhang zu besetzen gibt – ich melde mich freiwillig. Dieses Mal war ich nicht mutig, nicht einmal wagemutig. Ich war ich, und gab mich nicht auf. Ich war ich – nicht weniger, aber auch nicht mehr. Vielleicht ist dies das ganze Dilemma dieser Nacht.
Alles Liebe, denk an mich, Dein Homo Magi
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Der große Ritus zu Beltaine …
Hallo Salamander,
wir haben wieder ein Hochfest hinter uns gebracht, Beltane oder Beltaine. Mir fällt im Moment nur das deutsche Wort Walpurgisnacht ein, doch bleiben wir für den Zusammenhang mal bei Beltaine. Ich denke, das stört Dich nicht. Wichtig ist doch der Geist eines Festes, nicht sein Name.
Beltaine ist ein Fruchtbarkeitsfest. Der Frühling hat schon begonnen, Ostara oder Ostern ist das Frühlingsfest. Jetzt geht es um das Wachsen und Gedeihen, die Aussaat. Bei Beltaine geht es um Fruchtbarkeit, um die Belebung von Natur, Tier und Mensch. Viele Heiden scheinen das jedoch dahingehend missverstanden zu haben, dass es um ihre eigene körperliche Fruchtbarkeit geht, und um sonst nichts. „Fruchtbar“ und „befruchten“ sind doch beides Worte, die sowohl für körperliche als auch für geistige Prozesse zutreffen. Eine Unterhaltung kann uns befruchten, ein Gedankengang ist fruchtbar – genauso, wie man als Mann eine Frau befruchten kann. (Obwohl ich mir bei dieser Wortwahl schon so vorkomme, als müsste ich dazu ein Bienenkostüm tragen! Vor Jahren habe ich einmal einen Video mit Ausschnitten aus amerikanischen Shows gesehen. Da war auch ein Stück der „Blues Brothers“ dabei, mit Belushi im Bienenkostüm. „I wanna be your queen bee“ hieß das Lied, wenn ich mich recht erinnere. Da trug er ein geiles Bienenkostüm, aber zur Nachahmung ist das nicht empfohlen!) Natürlich bietet der sogenannte große Ritus mit seinem Geschlechtsverkehr zwischen Priesterin und Priester als Stellvertretung für das Liebesspiel zwischen Göttin und Gott einen glaubhaften Vorwand für Sex. Aber wann ist der große Ritus das letzte Mal in einem Kreis vor Zeugen (schönes Wort: ich bezeuge, wenn Du zeugst ...) vollzogen worden? Schon die Wortwahl macht es doch deutlich. Wer sagt denn ernsthaft „Hey, ich hatte gestern Geschlechtsverkehr“ oder „Wollen wir beide Geschlechtsverkehr haben?“. Kein Mensch. Und trotzdem fällt mir eben für die Beschreibung des großen Ritus kein besseres Wort ein. Und die Einladung zu einem Beltaineritual samt „großem Fickritus“ dürfte die meisten Leute eher abschrecken. „Poppen für die Fruchtbarkeit!“ oder „Miteinander schlafen festigt unser Heidentum!“, so oder so ähnlich sollten es manche Heiden auf ihre T-Shirts drucken lassen. Kann man Fruchtbarkeit nicht anders ausdrücken als durch das gute alte Rein-Raus-Spiel? Ich gebe zu, Fruchtbarkeit hat viel mit Sex zu tun. Zumindest bei uns Menschen. Für Gemüse ist Geschlechtsverkehr wahrscheinlich eher Nebensache, und auch die meisten Tiere dürften mit unserem Konzept der Fortpflanzung wenig anfangen können. Warum schwingt es dann noch immer bei unserem Nachdenken über Beltaine mit (und erzähle mir keiner, er hätte noch nie von Sex im Zusammenhang mit Beltaine gehört!)? Natürlich ist ein Teil dieser Überlegungen hinter dem Zusammenhang Beltaine–Sex schon realistisch. Beltaine hat einen großen Ritus, und es gibt mehr als einen Fantasy-Roman, in dem er auch vollzogen wird (am liebsten in Ackerfurchen, wenn ich mich recht entsinne). Aber ist das in unserer Zeit noch realistisch, so prüde wie wir alle sind? Wer mag es schon, wenn ihm beim Sex zwanzig Heiden zuschauen? Sex in Ackerfurchen ist nicht besser oder schlechter als anderer Sex; nur: Die Kleidungsstücke müssen nachher in die Reinigung. Was mich stört, ist nicht der Sex. Man sagt mir nach, dass ich ein wenig verklemmt bin. Scheinbar ist das der Makel, der vielen (wenn nicht gar allen) Magiern anhaftet. Wir klemmen uns große Stäbe in die Hand und vergessen oft, wofür die auch stehen könnten. Wir reden über Zärtlichkeit und Nähe und Sex, und schaffen es dann nicht, unsere tollen Ideale umzusetzen. Wir Magier sind „verkopft“ im übelsten Sinne. Unser Denken entfernt uns von unseren Körpern. Ich versuche, meine eigenen Fehler so weit es geht zu kompensieren. Ich weiß von meinen Lücken und versuche, sie irgendwie zu umschiffen (nebenbei ist das ein viel realistischeres Selbstbild als der endlose Versuch, die eigenen Lücken zu stopfen oder zu kaschieren – ich mache mir selbst Warnschilder an die Löcher und versuche, sie zu umgehen). Ich störe mich am Zwang zum Sex bei Beltaine. Ich will Sex nur haben, wenn mir danach ist. Nicht, weil der Mond richtig steht oder der Wind richtig weht. Nicht, weil die Sterne es mir empfehlen. Beltaine hat etwas mit Fruchtbarkeit zu tun. Mit Fruchtbarkeit, geistig wie körperlich. Aber auch mit Liebe. Ich will jetzt nicht gegen den Sex argumentieren. Dazu finde ich Frauen viel zu angenehm, Zärtlichkeit viel zu schön, Sex viel zu verlockend. Aber ich möchte behaupten, dass wir uns einiger unserer Sinneswahrnehmungen verschließen, wenn wir unsere Fruchtbarkeitserfahrungen nur auf Sex reduzieren. Und um einen Schritt weiterzugehen: nur auf heterosexuellen Sex (ich bin nicht schwul, aber einige meiner besten Freunde – dürfen die dann nicht Beltaine feiern?). Mir wäre es lieb, wenn alle Heiden an Beltaine Sex hätten. Und an Samhain. Und an Ostara, und jeden Vollmond. Und und und. Aber bitte nicht zwanghaft an Beltaine, das nimmt der Sache den Spaß und verwandelt uns von Heiden in Maschinen.
Oder andersherum: Wenn wir dafür sind, dass Sex zu Beltaine gehört, wer stirbt dann für das Ritual an Samhain?
Meine Liebe ist bei Dir, Dein Homo Magi
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Mein mentales Fotoalbum
Hallo Salamander,
ein Mensch, der nach einem Autounfall alles über sich und sein Leben vergessen hat, zieht – als er aus dem Krankenhaus kommt – wieder in seine „alte“ Wohnung, die ihm jetzt unvertraut, gar fremd erscheint. Er beginnt damit, sein altes Leben wieder in Besitz zu nehmen. Er sitzt oft stundenlang daheim und schaut sich alte Fotoalben an, wirft Blicke in Bücher, die er in seinen Regalen stehen hat, versucht anhand der Dosen im Küchenschrank herauszubekommen, was ihm „früher“ geschmeckt hat. Und er wird versuchen, mit seiner Umwelt Kontakt aufzunehmen. Er wird vielleicht seinen alten Kalender hervorkramen und ein paar Leute anrufen. Wenn er schüchterner ist oder seiner neuen Neugier noch nicht traut, dann wird er sich vielleicht darin versuchen, Briefe oder E-Mails zu schreiben. Stück für Stück wird er sich wiederentdecken. Er findet ein Hemd im Schrank, das eine bestimmte Erinnerung wachruft. Er entdeckt einen Geruch in einer Rasierwasserflasche, der ihn die Augen schließen lässt und ihn an den Kuss einer schönen Frau erinnert. Er findet ein Buch, das er als Kind gelesen hat und erinnert sich wieder an jenes Kind, das einmal er war. Und langsam aber sicher werden seine Freunde und Verwandten wiederkommen. Einige haben ihn schon am Krankenbett besucht, Verwandte meist, Geschwister oder Eltern. Andere haben es gescheut, wollten ihn vielleicht auch nicht überbelasten, während er im Krankenhaus lag und mit seiner Geschichte und Rolle rang. Eine Freundin vielleicht, dann der junge Mann, der neben einem die Schulbank gedrückt hat, auch ein paar Nachbarn, die klingeln und versuchen, ihm zu erklären, wer sie sind, wer er „war“ und was sie verbunden hat. Viele Geschichten scheinen sich anfangs nicht zu verbinden, Namen tauchen nicht wieder auf oder in eigenartigen Zusammenhängen. Eines Tages entdeckt der Mann beim Hören einer Geschichte, dass der Spitzname, den er schon oft gehört hat, der Name seiner Ex-Freundin ist. Auf einmal finden Namen und Bild zueinander. Oder ein Onkel kommt vorbei, schüchtern fast, mit Blumen unter dem Arm. Sie hatten Ärger, der Mann und sein Onkel. Und auf einmal ist alles wie weggewaschen, findet man Mut für einen neuen Anfang. Und eines Tages wacht er auf und hat einen Tag vor sich, in dem nichts im Dunkeln liegt. Jeder Fußtritt, jeder Gegenstand, jede Person ist ihm vertraut. Und wenn er abends in sein Bett geht, dann hat er das Gefühl, wieder ein Leben zu haben – sein Leben. Und doch weiß er, dass dieses neue Leben sich von seinem alten Leben unterscheidet. Er konnte Entscheidungen neu treffen, weil seine Tafel wie blankgewischt war. Er hatte eine neue Chance erhalten, alles zu ordnen. Und er hat sie – hoffentlich – genützt.
Warum erzähle ich Dir diese Geschichte? Weil sie ein wenig von dem aussagt, was ich über das Entstehen der „Neuheiden“ im 20. Jahrhundert denke. Eine Kultur, ein Land wird auf einmal wach und stellt fest, dass es Teile seiner Geschichte „ausgeblendet“ oder „vergessen“ hat. Wir Deutschen (wenn ich dieses „wir“ einmal so im Raum stehen lassen kann) hatten das schon einmal, in der Romantik. Auch diese war eine Rückbesinnung auf das (mythische) Mittelalter, ein Wiedererwachen von Riten und Zeichen, Liedern und Tänzen. Viele Elemente der Romantik tauchen auch wieder bei uns Heiden und Magiern auf. Auf einmal stellten wir fest, dass wir mit dem christlichen Abendland nicht alles erklären konnten. Die Religion war nicht in der Lage, mit den Veränderungen der Industrialisierung Schritt zu halten (oder meinetwegen war sie auch überholt, weil irgendwelche Veränderungen am Sternenhimmel geschahen; meine Erklärung ist weniger elegant, wie ich zugeben muss). Und man besann sich darauf, was „früher“ hier gewesen war. Mit einem Bein stand man noch in der „normalen Welt“, nutzte Auto und Zug, sah fern und hörte Radio. Man kaufte sich neue CDs und duschte warm. Aber das andere Bein war im Heidentum, stand einem mythischen Zeitalter nahe, in dem noch Götter um das Geschick der Erde fochten.
Und hier ist es genauso gelaufen, wie es auch bei meinem Beispiel-Patienten laufen würde. Man schaut sich um, versucht erst einmal festzustellen, wo man ist und wer man ist. Man entdeckt alte Kultplätze wieder und erinnert sich an Geschichten, die einem als Kind zugeraunt worden sind. Es wurde versucht, Plätze wiederzufinden und sie wieder mit Leben zu füllen. Man beschäftigte sich mit alten Liedern, Sagen, Gedichten und Geschichten. Viele Menschen versuchten, ihre eigene Geschichte aufzuarbeiten. Wer sind wir? Woher kommen wir? Und immer wieder ließen einzelne Gegenstände, die man fand, die Erinnerung an das hochkommen, was früher war. Das Gesicht eines Baumgeistes an einer Kirche, ein schöner Hain mitten im Wald, der Innenraum einer alten Fliehburg, ein Gedicht aus der Romantik, ein mittelalterliches Liebeslied, ein trüber echter Apfelsaft, etwas Gewürzwein – das ganze Bild war nicht mehr zu rekonstruieren, aber Stück für Stück konnte man versuchen, sich das zurückzuerobern, was man verloren geglaubt hatte.
Vor einigen Wochen war ich umständehalber in Budapest. Und ich nahm auch an einer Stadtrundfahrt teil. Es ist lustig, denn es gibt in Budapest mehr als einen Ort, wo man verschiedene geschichtliche Epochen nebeneinander sehen kann. Betrachtet man den Gellertberg von der anderen Donauseite aus, dann sieht man osmanische Gebäude, katholische und orthodoxe Kirchen, Gebäude der K.u.K.-Monarchie und stalinistische Säulen. Man sieht aber auch den Gellertberg selbst, und auf dem befand sich – wenn man meiner Stadtführung Glauben schenken will – ein keltisches Heiligtum, auf dem die Hexen früher ihren „Hexensamstag“ gefeiert haben. Irgendwie war das rührend übersetzt, und ich hatte viel Spaß dabei, leise in mich hineinzukichern. Der Gellertberg ist schön, sogar ein Ort der Kraft, wenn man sich auf ihn einlassen will. Voll mit Touristen, natürlich, aber das ist bei solchen Orten öfters der Fall. Aber mir fiel wieder ein, wie wichtig es mir ist, mein Leben genauso angegangen zu sein wie jener Mann in meinem Beispiel. Ich verlor mein magisches Gedächtnis und habe es wiederfinden müssen. Irgendwie spürte ich mein ganzes Leben lang, dass es etwas gibt, was ich nicht benennen oder erklären kann. Aber ich versuchte auch immer weiter, mein „Erbe“ wieder mit Leben und Erinnerungen zu füllen. Ein Buch hier, ein Lied da, ein Kuss dort, ein Blatt hier. Mich und meine Einstellungen prägen die Erfahrungen, die ich in meinem Leben gemacht habe. Und mich prägen die Bilder, die in meiner geistigen Wohnung stehen, meine Verwandten, die mir Dinge über mich erzählen können. Und meine Verwandten, das sind für mich die nächsten europäischen Kulturen. Die Geschichte der Deutschen, aber auch die Slawen, die Zigeuner, die Juden. Auch die Römer, die Griechen und die Kelten haben mein magisches Denken mitbestimmt. Und es sind auch die Bilder in meinem mentalen Fotoalbum, die ich aufarbeiten gegangen bin. Der Wald im Herbst, die Blindschleichen im feuchten Gras, der Salamander auf dem Stein, die blühende Wiese. Der Geruch von reifen Äpfeln, aber auch der Geruch von frischem Teer. Billiges Papier schöner Kinderabenteuer und die Illustrationen der Romantik in alten Gedichtbänden. Verzeihe mir also, wenn ich Dir manchmal nicht folgen kann, wenn Du von fremden Ländern und ihren Kulturen sprichst. Ich interessiere mich dafür, und ich höre Dir gerne zu. Aber ich bin noch dabei, mein Leben wiederzufinden. Und ich kann erst mit anderen über mein Leben in der Magie reden, wenn ich mein Leben in der Magie „wieder“ gefunden habe. Ich bin ein Sucher, und noch suche ich. Mich. Es ist ein langer Weg, aber ich gehe ihn gerne. Denn am Ende finde ich mich, und ich habe hoffentlich noch einmal die Chance erhalten, bestimmte Dinge zu überdenken – und vielleicht beim zweiten Versuch anders zu handeln als beim ersten Versuch.
Ich denke an Dich. Du bist nicht allein.
Alles Liebe, Dein Homo Magi
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Die wahre Lehre
Hallo Salamander,
nichts ist gefährlicher als die „wahre Lehre“. Ich dachte immer, die wäre nur in monotheistischen Religionen möglich. Denn eigentlich gehört doch zu einer „wahren Lehre“ ein „wahrer Lehrer“. Beim Christentum und genauso stark im Islam handelt es sich um „Offenbarungsreligionen“. Ein Mensch (beziehungsweise: ein Mann, Frauen scheinen in patriarchalen Kulturen nicht die Gelegenheit zu erhalten, eine Religion zu gründen) hat eine Offenbarung, spricht zu Gott, den Ahnen oder dem großen Wagugu und macht die Ergebnisse dieser Unterhaltung jetzt zu seiner Religion. Und natürlich will er – da vom wahren Glauben erfüllt – auch andere Menschen davon überzeugen, sich seiner Religion (sprich: der wahren Religion) anzuschließen. Und dies geht nicht ohne Blutvergießen vor sich, denn natürlich sind die anderen Menschen nicht sofort bereit, dieses Primat einer neuen Religion zu ertragen. Für das Judentum gilt dies in abgeschwächter Art und Weise, hier ist Moses zwar für sich ein Religionsgründer, aber ihm zur Seite stehen andere Personen, die viel zur Gesetzessammlung beigetragen haben.
Dies ist vielleicht der große Unterschied zwischen Heidentum und Christentum – das Heidentum ist keine Offenbarungsreligion. Wir Heiden haben keine Stunde Null, in der das Heidentum gegründet worden ist, keinen Ort, von dem alles ausging. Und wir haben auch keinen Religionsgründer, dessen Wort auf die Goldwaage zu legen und dessen Taten alle wunderbar sind (im doppelten Sinne). Das Heidentum ist ein Konglomerat verschiedenster Religionen, die alle eine unterschiedliche Geschichte haben. Es gibt nicht „das“ Heidentum, nicht „die“ heidnische Schrift. Entschuldige, wenn ich im Folgenden ein wenig spitz werde. Aber in der Übertreibung liegt eine Kraft, die manchmal Dinge sichtbar macht, die sonst untergehen würden. Soviel als Vorwort. Dass ich selbst Schwierigkeiten mit den Wicca habe, das dürftest Du schon das eine oder andere Mal mitbekommen haben. Die Asatru streiten sich immerhin – wenn überhaupt – dann miteinander nur über die Frage, welche Übersetzung der „Edda“ dem Geist der Asen am nächsten kommt („Simrock! Simrock“ höre ich sie rufen.). Für die Kelten gilt bekanntlich der alte Lehrsatz „Fünf Kelten, sechs Kulturen“. Niemand würde ernsthaft versuchen, alle Kelten kulturell unter einen Hut zu bekommen – einen so großen Hut gibt es nicht. Und selbst wenn der Hut groß genug wäre – die Kelten würden sich sicherlich auf keine Farbe einigen können. Die Wicca sind da für mich problematisch. Hier gibt es „große Namen“, die man gelesen haben muss, wenn man einer bestimmten Richtung zugehört (wenn die „großen Namen“ nicht gar für die Wicca an sich allgemeinverbindlich sein sollen). Und oftmals scheint es mir mehr um das „ich bin von dem und dem inspiriert worden“ zu gehen als um echte Spiritualität. Reiki und Christentum sind sich darin ähnlich, dass das Wissen/die Fähigkeiten in einer direkten Kette vom „Gründer“ zum letzten Mitglied durchgegeben werden. Wicca sollte – nach meinem Verständnis – nicht so sein. Ist es aber doch, wenn es auf einmal Doktrinen gibt. Eine Grundtendenz habe ich dabei immer festgestellt, die ich als die drei heiligen Gesetze für den Umgang mit Wicca gerne in Stein meißeln würde: Wicca sind erstens leicht beleidigt, zweitens leicht beleidigt und drittens leicht beleidigt. Und ich glaube, dass es genau dieses „Beleidigtsein“ ist, was mir den Umgang mit ihnen schwer macht.
Salamander, altes Haus, Du weißt besser als jeder andere, dass ich einen Hang dazu verspüre, Menschen durch den Kakao zu ziehen. Das ist nicht böse gemeint, das ist nicht wirklich eine fiese Angewohnheit, sondern eher der Versuch, Leute ein wenig zu verwirren und sie aus ihrer üblichen Umgebung herauszureißen. „Panisch“ kommt von Pan, und manchmal würde ich gerne mit kleinen Hörnern durch die Menge schwirren. Ein Loki, der sich einen Spaß daraus macht, Thor in Frauenkleider zu kriegen. Und so ist es auch mit mir und den Wicca. Ein Asatru, den man beleidigt, der wird laut. Dann habe ich was, um mich damit auseinander zusetzen. Ein Kelte, den man beleidigt, der fängt an, einen in einen längeren Wettkampf mit Worten, Reimen und Liedern zu verwickeln. Auch das ist eine Ebene, auf der ich mich gerne auseinandersetze. Ein Wicca, den man beleidigt, der schmollt. Okay, lieber Salamander, Du wirst jetzt sicherlich einwenden, dass eine Beleidigung nicht der beste Anfang für eine Beziehung ist. Das gebe ich gerne zu. Aber warum schauen wir uns denn immer wieder Filme wie „Casablanca“ an, wo am Ende zwischen Menschen, die eigentlich verfeindet sein müssten, eine wunderbare Freundschaft beginnen kann? Ich erwarte von (selbsterklärten) Priesterinnen und Priestern die Fähigkeit, über den äußeren Schein eines Menschen hinwegzusehen. Wenn sie das nicht schaffen, dann sind sie für ihr Amt nicht geschaffen. Die Magie ist auch hier ein gutes Beispiel. Sie lässt mir genügend Raum, um das was ich tue, in Begrifflichkeiten zu packen. Um Menschen zu „berühren“, muss ich erst zu ihnen durchdringen. Und ich dringe zu ihnen durch, indem ich ihre Verteidigungslinien kurz durchschlage und sie berühre – sanft oder weniger sanft, je nachdem, wie gut ich meinen Schlag dosiert habe. Dann ziehe ich mich zurück und schaue mir an, was passiert. Leider ist es nicht immer möglich, den Gegenschlag wegzustecken. Aber damit muss ich leben, das ist halt eben eine meiner Unzulänglichkeiten, dass ich selbst austeile und nicht immer einstecken kann. Aber ich habe dieses Prinzip der Auseinandersetzung schon viele Jahre lang gepflegt. Aus dem Dialog entsteht die Diskussion, nicht aus dem Monolog. Nur, wenn ich mit jemandem Meinungen austauschen kann, dann kommt es zu einem echten Austausch. Wenn ich etwas sage, und der andere geht weg (weil er schmollt oder verletzt ist oder sich beleidigt fühlt), dann ist der Prozess an dieser Stelle abgebrochen. Und jetzt sag bitte nicht, ich solle einfach lieb und nett fragen, wenn ich Antworten will. Ich bin vielleicht weichgespült, aber es gibt doch Grenzen dessen, was ich an Selbstverleugnung zu erbringen bereit bin. Das sind doch alles erwachsene Menschen, mit denen ich mich da auseinandersetze. Priester und Magier, von denen man eine bestimmte „Weisheit“ – oder sei es auch nur Charakterentwicklung – erwarten kann. Wenn das nicht vorhanden ist, dann sind sie in meinen Augen Scharlatane, sonst nichts. Verzeih, wenn das nicht zu dem Bild des „Softlan“-Magiers passt, das Du Dir manchmal von mir zu machen scheinst. Wie sagt Jessica Rabbit in dem schönen Film „Roger Rabbit“? „Ich bin nicht schlecht, ich bin nur so gezeichnet.“ Wir alle erhalten Zeichen und Bezeichnungen, werden gezeichnet. Die einen erhalten sie so, dass sie von außen sichtbar sind, die anderen tragen sie innen. Meine Geschichte hat mich zu dem gemacht, was ich bin. Damit lebe ich, damit sollten auch andere leben können.
Alles Liebe, Homo Magi
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Gras
Hallo Salamander,
im Moment gibt es nichts, das schöner ist, als die freie Natur zu beobachten. Gestern bin ich von der Arbeit heimgeradelt und habe einen längeren Umweg in Kauf genommen. Die Stadt hat wieder einmal Gärtner ausgeschickt, die mit ihren kleinen orangen Autos von Anlage zu Anlage fahren, um den Rasen zu schneiden, die Büsche zu kürzen und das Unkraut zwischen den Platten der Gehwege zu beseitigen. Etwas mehr Wildwuchs würde vielen dieser Anlagen gut tun. Einige Parks hätten etwas dazu gewonnen, wenn das Gras wild wachsen und die Büsche über die Mauern ranken würden. Doch ich habe mit solchen Phantasien kein Glück. Manchmal sieht man einen alten Garten, der eine Weile lang nicht gepflegt worden ist, oder einen Park, in dem eine Ecke wild gelassen wird. Dann kann man in etwa nachfühlen, was ich meine. Aber im Moment ist es etwas anders, im Moment denke ich bei solchen Anlagen nur noch an eines: Gras. Ich liebe den Geruch von frischgeschnittenem Gras. Ich könnte mich fast reinsetzen, und immer wieder – meist, wenn ich nicht meine besten Sachen anhabe – setze ich mich auch hinein, rolle im geschnittenen Gras auf und ab, schiebe meine Hände hinein, werfe es hoch und schaue dann nach oben, während Halm für Halm auf mich herniederrieselt. Wenn ich gezwungen wäre, eine Religion zu gründen – sie hätte im Frühling ein Ritual, das frisches Gras einbindet, und im Herbst eines, das mit Stroh verbunden wird. Es mag sein, dass viele Heiden Bäume schön finden. Ich mag sie auch, liebe den Effekt, wenn das Licht mild durch die Blätterdecke eines Waldes auf den Boden herabfällt. Ebenso liebe ich das Geräusch des Windes in den Bäumen, den Geruch von Moos auf den Baumstämmen und die Geräusche, die ein Wald macht, wenn kein anderer Mensch zu hören ist. Aber es ist doch das Gras, was mich immer wieder am meisten fasziniert. Oft sieht der Grasboden aus wie eine lange, grüne Decke, die sich jemand über den Bauch geworfen hat. Von einem Berg oder auch nur von einem Aussichtsturm herab hat man den Eindruck, dass der Flickenteppich von Äckern und Wiesen eine Steppdecke sei, die sich ein müder Riese über den Körper gezogen hat. Gras sieht überall anders aus. Gras im Gebirge ist ein völlig anders Gewächs als Gras in der Ebene. Gras schmeckt an anderen Orten anders, es riecht anders. Und Gras hat einen lustigen Geschmack – ich würde es nicht in Mengen essen, aber drei vier Halme betauten Grases sind lecker. Viele Gräser eignen sich auch für Salat. Bäume erinnern mich irgendwie an alte Großonkels – weise und noch voller Kraft, voll von eigenartigen Hinweisen auf uralte Geheimnisse. Gras ist dann mehr eine riesige Menge von kleinen Kindern, die auf dem Boden herumtollen, im Kreis tanzen und ab und zu an der Hose ziehen, um auf sich aufmerksam zu machen. Kleine Wesen, schwache Wesen – aber viele. Gras schneidet. Man kann auf Gras Musik machen. Gras ist grün. Gras schneidet. Wenn ich an einen Ort denke, der für meine Art Glauben, für meine Magie steht, dann ist das immer eine Wiese voller Blumen. Und ich liege auf dem Rücken, habe die Hände unter dem Kopf gefaltet und schaue den Wolken zu. Und sie bilden Formationen, Gesichter, erzählen Geschichten. Und das Gras steht um mich herum, tanzt im Wind und raunt mir Geschichten ins Ohr. Kleine Geschichten, süße Geschichten, wahre Geschichten.
Dein Homo Magi Juni
Freundschaft
Hallo Salamander,
Du hast mich schon mehrmals gefragt, wie ich zur Freundschaft stehe. Ich habe ein paar Mal schon versucht, Dir darauf – wenn auch vielleicht nur in Andeutungen – zu antworten. Dies liegt nicht daran, dass ich mich bewusst um diese Frage drücken will. Es ist eher so, dass ich unbewusst versuche, der Frage auszuweichen. Freundschaft ist für mich ein wertvolles Gut. Ich bin dankbar dafür, dass es Menschen gibt, die ich als meine Freunde bezeichnen kann. Aber ich gehe nicht leicht Freundschaften ein, und im Rückblick über die letzten Jahrzehnte muss ich wohl auch zugeben, dass es nicht immer einfach ist, mit mir als Freund zusammenzuleben. Aus meiner Kindheit ist eigentlich kein Freund übrig geblieben. Der beste Freund meiner Kindertage meldet sich heute häufiger bei meinem Bruder als bei mir (um ehrlich zu sein: Er meldet sich alle zehn Jahre bei mir und mehrmals im Jahr bei meinem Bruder), aber das ist völlig unproblematisch. Im Kindergarten und auch noch in Grundschule und Förderstufe ist man eigentlich zu jedem nett, der aus dem selben Stadtteil oder Dorf kommt und mit einem den morgendlichen Anfahrtsweg teilt. Bei über einer halben Stunde Schulweg schließt man schnell Kontakte – oder wechselt die Schule. Der eine oder andere Schulfreund läuft mir dann auch immer mal wieder über den Weg. Man tauscht ein paar Nettigkeiten aus, wechselt ein paar Sätze und geht wieder auseinander. „Schiffe, die des nachts vorüberziehen“ nennt man das, glaube ich. Ich bin nicht sauer, wenn ich jemanden wiedertreffe, nein. Aber es geht auch keine allzu große Faszination davon aus, zumindest keine Faszination, die mich dazu zwingen würde, diese Treffen erneut willentlich herbeizuführen. Für meine Oberstufe sieht die Sache schon anders aus. Ich hatte Pech mit meinen Lehrerinnen und Lehrern. Ich hoffte immer darauf, dass von diesen später mal der Impuls zu Klassen- oder Schultreffen ausgehen würde. Aber meine erste Grundschullehrerin ist schon lange tot (sie stand schon damals kurz vor der Rente), die zweite ist sehr freundlich, aber uninteressiert. Die Klassenlehrerin aus der Förderstufe ist heute pädagogische Leiterin meines ehemaligen Schulzweigs – und sicherlich völlig überarbeitet. Und von den drei Lehrern, die da noch kommen, sind zwei tot und eine im Altenteil (hier wieder das gleiche Problem wie bei meiner ersten Lehrerin). Einer meiner Lehrer ist an einem Wurstbrot erstickt, der zweite an Aids gestorben. Bei beiden war es vorher abzusehen. Der eine war Alkoholiker, der andere schwul in einer Zeit, in der Aids gerade erst bekannt wurde und Homosexualität noch ein echter Makel war. Als es zehn Jahre nach meinem Abitur darum ging, ein Jahrgangstreffen zu organisieren, war ich einer von drei Ausrichtern. Ich glaube, dass ich das nicht wieder tun würde. Es ist zu frustrierend, wenn man Leute wiedersieht, die man früher als fit eingestuft hat. Dickbäuchig, politisch konservativ, mit ihrem Leben völlig unzufrieden doch ohne den Impuls zur Veränderung. Ich will nicht behaupten, dass es mir – im Vergleich zu meinen ganzen Mitschülern – am besten gegangen wäre. Aber ich war auf eine bestimmte Art mit mir selbst im Reinen, die anderen nicht. Diese Erfahrung lässt sich auch auf mein weiteres Leben übernehmen. Wenn ich heute auf meine Schulzeit zurückblicke, dann ist da eigentlich heute nur noch ein Mensch übrig, den ich aus der Schule bis heute als Freund behalten habe. Der Rest sind einige gute Bekannte und viele Bekannte, sogar einige Menschen, die den Weg über „Freund“ hin zu „Bekannter“ gemacht haben. Da gab es keinen Streit, keine Auseinandersetzung – man driftet auseinander, die Interessen separieren sich, man sieht sich seltener. Auch aus meinen beiden Studiengängen (ich habe immerhin über zehn Jahre in Hochschulen verbracht, bevor ich den Absprung geschafft habe) sind nicht viele gute Bekannte übrig geblieben, nur ein einziger Freund. Auch hier war es eher die Trennung der Interessen. Nach meinem ersten Abschluss habe ich mich relativ bald entschlossen, NICHT in diesem Beruf zu arbeiten. Die Entscheidung fiel mir damals leicht, und es hat über zehn Jahre gedauert, bis ich hauptberuflich in dieses Feld zurückgekehrt bin. Man schließt dann wenig Freundschaften, weil man genau weiß, dass das, was man gerade macht, nur ein Übergang ist. Mein Zweitstudium war mein Wunschstudium. Aber hier war ich eher die Ausnahme – die meisten meiner Mitstudenten haben ihren Abschluss nie gemacht, sind aus dem Studium in Arbeit oder andere Ausbildungsgänge gedriftet. Und da ich selbst dringend meinen Magister machen wollte, fiel es mir schwer, deren Leben zu verstehen. Heute würde mir das einfacher fallen, damals war es mir nicht möglich. Meine einzigen Freunde aus diesen Jahren – ich würde sie nicht als Heiden bezeichnen, aber als Mystiker. Und ich hoffe, dass wir auch Freunde geworden wären, wenn wir uns nicht im Studium kennengelernt hätten.
Die Menschen, die ich als meine Freunde bezeichne, stammen fast alles aus Kreisen, die ich mir gesucht habe. Freunde der phantastischen Literatur (so möchte ich es mal umfassend nennen, ob es nun SF-Fans oder Fantasy-Leser sind) oder Menschen aus der heidnischen Szene. Komisch, aber das sind halt die Aufenthaltsorte, die ich mir gewählt habe, weil meine Interessen mich in diese Richtung treiben. Und hier fällt es mir leichter, Geistesverwandte zu treffen als während meiner langen Ausbildung. Natürlich gibt es auch hier Menschen, mit denen ich – obwohl mein Interesse da gewesen wäre – nie richtig warm geworden bin. Man kann nicht immer Glück haben, manchmal sind die Umstände oder die Zeit einfach gegen einen, und man findet nie wieder einen perfekten Moment, um eine Freundschaft zu beginnen. Andere Menschen haben sich einfach in mein Herz geschlichen. Man sah sich, traf sich wieder, redete, machte etwas gemeinsam – und auf einmal stellt man fest, dass man einen Freund hat. Ein Rezept dafür gibt es nicht, es passiert einfach (und das ist auch gut so). Manche Menschen werden von meinem Humor abgeschreckt, von meiner manchmal schroffen Art oder meiner eigenartigen Art und Weise, Zuneigung zu zeigen. Ich liege immer noch mit mir selbst im Zwiespalt, ob das was ich tue, richtig ist. Aber es ist in mir, es ist meine Art zu leben. Wäre es einfacher, wenn ich verträglicher wäre und dafür weniger ich selbst? Wahrscheinlich wäre das für meine Umwelt der gangbarere Weg. Aber es wäre nicht mein Weg, nicht mein Leben. Ich wünsche mir, dass ich wegen Dingen gemocht werde, die wirklich aus mir kommen und die ich mir nicht angewöhnt habe, um jemanden damit zu gefallen (was eine reine Koketterie wäre). Daher sind Freundschaften mit mir schwierig. Aber ich versuche, den Menschen, die ich meine Freunde nennen, auch ein Freund zu sein. Ich bin da, wenn sie Hilfe brauchen. Ich rede, wenn ich reden sollte. Und ich schweige, wenn ich schweigen sollte. Zumindest versuche ich es. Freundschaften kriegt man geschenkt; ich habe noch kein tragfähiges Rezept gefunden, das Freundschaften herstellt. Aber ich bin der Meinung, das man dieses Geschenk betreuen muss. Freundschaften müssen gepflegt werden. Manchmal muss man eigene Eitelkeiten zurückstellen und jemandem helfen. Manchmal muss man Möbel schleppen oder eine Wohnung streichen. Manchmal mit jemanden eine halbe Nacht durchquasseln oder zwei Wochen nacheinander jeden Abend zwei Stunden telefonieren. Dafür sind Freunde da. „Den Freunden ein Freund“ wäre mal ein schöner Nachruf für mich, wenn es nach mir ginge. Ein hohes Ziel, was ich sicherlich nicht immer erreichen werde. Aber das Bemühen, dieses Ziel zu erreichen, ist ein edles Ansinnen. Und das ist unser Leben manchmal – nicht eine wundervolle Tat, kein hervorragendes Ergebnis, sondern nur der Versuch, ein edles Ansinnen durchzusetzen.
Alles Liebe, Dein Freund Homo Magi
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Drachenjagd
Lieber Salamander,
ich will Dir erzählen, was mir am Wochenende passiert ist. Ich werde nicht versuchen, es zu kommentieren oder zu deuten. Es ist nicht der Sinn von allen Erfahrungen, sofort verstanden zu werden. Das, woran ich teilnahm, war eine Art „moderierte magische Reise“. Ich lag auf einer Decke in einer Halle, und um mich herum nahmen zwanzig bis dreißig andere an dieser Reise teil. Nur war mein erstes Reiseerlebnis, wenn ich es mal so nennen darf, völlig anders als die Erlebnisse der anderen (zumindest soweit sie mir berichtet worden sind). Aber urteile selbst.
Ich öffnete die Augen und befand mich auf dem Deck eines Schiffes. Das Gefühl verriet mir, dass das Schiff flog. Vor mir, sozusagen in meinen Händen lag ein großes Steuerrad, das ich umklammert hielt. Zwölf Stangen gingen von der Nabe aus und durchstießen den hölzernen Kranz, der das Rad bildete, genau so weit, dass man außen bequem an sie greifen konnte. Ich selbst war um die Hüften mit zwei dicken Tauen gefesselt, die wiederum in vier metallenen Ösen auf dem Deck endeten. Doch ich war kein Gefangener, sondern ich war hier befestigt, damit ich im Falle eines Sturmes oder eines plötzlichen Manövers nicht über Bord gerissen würde. An den Seiten des Decks befand sich eine nicht einmal hüfthohe Reling. Das Schiff hatte nur einen Mast, an dem ein großes, beiges Segel hing. Der Wind, der es ab und an aufbäumte, hatte eine magische Qualität. Ich vermute, dass ich selbst es war, der immer wieder eine Brise kommen ließ, die das Schiff wieder ein Stück weiter bewegte. Das Deck vor mir, vielleicht dreißig Schritte lang, war bis auf vier Gegenstände und deren Mannschaft leer. Es handelte sich um vier mechanische Harpunenschleudern, die mit großen metallenen Kurbeln gespannt worden waren. An jeder der vier Schleudern stand ein eigenartiges Wesen. Es sah ein wenig aus wie ein Skelett in Stiefeln, Hosen und einem großen Überwurf. In den leeren Augenlöchern brannte ein eigenartiges, fahles rotes Licht. Suchend durchstreiften ihre Blicke die Umgebung. Weit sehen konnten wir nicht. Ein dichter Nebel lag um uns. Und hier wurde mir klar, dass ich mich wirklich in der Luft befand. Erstens war neben dem Schiff kein Wasser zu sehen und zweitens konnte ich das Schiff so zur Seite legen, wie das bei einem richtigen Schiff niemals möglich gewesen wäre. Ich weiß nicht, wie viel Zeit verging, die ich im Nebel treibend verbrachte. Immer wieder blähten sich die Segel auf und wir bewegten uns wieder etwas weiter. Manchmal glaubte ich im Nebel Figuren zu sehen, die an uns vorbeizogen. Andere Schiffe? Wesen? Ich wusste erst nicht, wonach ich und die vier Skelette Ausschau hielten. Der Nebel drang inzwischen durch meinen Pullover auf meine Haut, und eine klamme Kälte machte sich breit. Doch ich fuhr weiter; das Schiff und ich schoben uns Stück für Stück durch den eigenartigen Nebel. Und endlich war es soweit. Einer der Schatten hatte sich dem Schiff genähert, und auf einmal drang ein Feuerball aus ihm hervor. Der Nebel riss kurz auf und ich sah einen gewaltigen, hellroten Drachen, aus dessen Rachen ein Feuerball durch den Nebel schoss. Sofort rissen zwei der Skelette ihre Schleudern herum und zwei Harpunen fanden ihren Weg zu dem Drachen. Die eine Harpune durchschlug seinen rechten Flügel, die andere drang in seinen Bauch ein. Der Drache schrie und brüllte, Feuer kam aus seinem Rachen. Er versuchte nun, das Seil an der Harpune zu zerreißen oder die Harpunen aus seinem Fleisch zu ziehen. Immer wieder musste ich waghalsige Manöver fliegen, um nicht in unseren eigenen Seilen gefangen zu werden oder gegen den Drachen zu fliegen. Der Trick war, die richtige Distanz zu wahren. Der Kampf zog sich über Stunden hin. Irgendwann gelang es den beiden anderen Schützen auch, ihre Harpunen in den Drachen zu versenken. Und langsam begannen wir beide zu ermüden – der Drache wie ich. Und mit seinen letzten Zuckungen drehte sich der Drache zu mir um und schleuderte Feuer auf mich und mein Schiff. Warum er das nicht schon viel früher getan hatte – ich weiß es nicht. Takelage und Reling fingen sofort Feuer. Der Drache rollte sich über seinen Flügel ab und fiel wie ein Stein nach unten. Blasen von Blut drangen nun mit hoher Geschwindigkeit aus den Wunden. Mein Schiff wurde an den Seilen hinterhergezogen, während das Feuer sich immer weiter ausbreitete. Die Skelette unternahmen nichts, um sich vor den Flammen in Sicherheit zu bringen. Aber ich durchschnitt mit einem Messer, das ich hinten an meinem Gürtel fand, die Seile um mich herum. Wir durchdrangen den Nebel und ich konnte fern unter mir eine Landschaft sehen. Die Seile waren durchschnitten, und ich zog es vor, mich mit ausgebreiteten Armen über die Reling zu stürzen, anstatt mit Schiff und Drachen zu zerschellen.
Dann öffnete ich die Augen und ich war wieder wach. Wie gesagt, Salamander. Manche Dinge kann man nicht verstehen. Sie geschehen einfach und wir müssen sie akzeptieren. Auch das ist Magie.
Dein Homo Magi
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Der Kongress
Lieber Salamander,
am Wochenende hatte ich – mal wieder – Gelegenheit, an einem Kongress teilzunehmen. Du weißt, dass ich manchmal solche eigenartigen Ideen habe. Da fahre ich dann ein Wochenende weg, meistens in eine andere deutsche Großstadt, und lasse mir dann zwei oder drei Tage lang Vortrag um Vortrag um die Ohren schlagen. In den wenigstens Fällen geht es da um magische Themen – zumindest formal. Einige der schönsten Vorträge über Magie habe ich z.B. auf dem Kirchentag, auf dem Historikertag oder auf Literaturtagungen gehört. So war es auch an diesem Wochenende. Ich war auf einer Literaturveranstaltung, die sich u.a. auch mit christlichen Mystikern des 19. und 20. Jahrhunderts beschäftigt hat. Sei mit dieser Umschreibung zufrieden, denn ich will im Moment nicht verraten, wo genau ich gewesen bin – gewisse Dinge sollten weiterhin mein Geheimnis bleiben dürfen, oder? Nun, einer der Vorträge beschäftigte sich mit künstlichem Leben. Und hier ging es nicht wie bei einem naturwissenschaftlichen Text darum, möglichst viele Fakten möglichst schnell zu begreifen, sondern es ging um moralische Diskussionen. Ich bin es eigentlich leid, etwas über Gentechnologie zu lesen oder zu hören. Ich verstehe nicht wirklich viel von Chemie oder Biologie, aber oftmals habe ich den Eindruck, einen Werbetext der Industrie zu lesen, wenn ich solche Artikel studiere. Nun, dieses Mal hatte ich Glück. Ich habe mir während und nach dem Vortrag ein paar eigene Gedanken gemacht, die ich Dir kurz niederschreiben will. Immerhin bist Du ja auch immer scharf darauf, zu erfahren, was in meinem Kopf passiert. Es ging um die Frage der Schaffung künstlichen Lebens durch den Menschen. Begonnen und aufgezogen wurde der Vortrag an dem Widerspruch zwischen der Thematik des Golems und der Thematik des Homunkulus. Eigentlich ist der Golem ein künstliches Wesen, geboren aus dem Versuch, einen Menschen – genauso wie Gott es laut der Bibel getan hat – zu erschaffen. Die Materialien (Lehm) sind die gleichen, die auch bei der Schaffung Adams verwendet worden sind. Und ohne göttlichem Odem bzw. ein göttliches Wort ist der Golem nicht lebensfähig. Er ist nur ein Körper, der erst beseelt werden muss. Und in der Geschichte um Rabbi Löw schwang für mich auch immer etwas die Bedeutung mit, dass der Golem Werkzeug ist, aber auch Trauer und Leid verspüren kann. Das Gegenteil des Golems, oder eher eine andere Möglichkeit der Schöpfung, ist der Homunkulus. Hier schafft der Mensch – ob es nun um eine Faust-Persönlichkeit oder einen reinen Wissenschaftler geht – Leben aus sich selbst, ganz ohne Gott. In den klassischen Anleitungen war es der männliche Samen, der nach einem Reinigungsprozess und unter bestimmten äußeren Einflüssen neues Leben schuf. Ähnlich wie eine Alraune entstand durch Magie ein menschliches Zerrbild, das von Menschen geschaffen war. Während des Vortrags, der mit vielen Bildern und Literaturbeispielen untermauert war, fiel mir auf, dass meine Ableitung des Roboter-Motivs aus dem Golem eigentlich falsch ist. Natürlich ist der Gedanke einfach, dass der Tscheche Capek mit „R.U.R.“ einfach das Golem-Motiv übernommen und damit den Roboter nicht selbst erschaffen, aber immerhin benannt hat. Aber es scheint mir inzwischen zu einfach, dies so zu folgern. Von der Idee der Gottlosigkeit her steht der Roboter nämlich mehr auf der Seite des Homunkulus – er ist ohne göttlichen Funken geschaffen und versucht, die ihm fehlende Seele zu erhalten. Der Golem versucht nicht, eine Seele zu erhalten. Der Roboter schon. Ist Data aus „Raumschiff Enterprise“ nicht eine Maschine, die versucht ein Mensch zu werden? Und ist nicht auch Klatuu aus „Der Tag an dem die Erde stillstand“ eine Maschine, die dafür lebt, Aufgaben auszuführen; eine Maschine die ohne Herren und Anleitungen – trotz der ihr gegebenen Macht – hilflos ist, weil sie keine Seele besitzt? Wie oft findet man das Motiv der fehlenden Seele beim Roboter – von Asimovs Robotergeschichten über die „Questor Tapes“ bis hin zum Androiden „Vision“ bei Marvel. Oder vielleicht wollen wir den Roboter in der Tradition des Golem sehen, weil wir hoffen, dass das seelenlose Ding, das einen weiten Teil unserer modernen Welt begleitet, in Wirklichkeit mit dem Gedanken an Gott geschaffen worden ist. Roboter flankieren unsere Fabrikstrassen, Roboter führen Operationen durch, Roboter erkunden den Meeresgrund und die fernen Planeten. Homunkuli ohne Seele, die drohen, unsere Rolle – und unsere Träume? – zu übernehmen. Vielleicht wäre es ehrlicher, wenn wir zugeben würden, dass Roboter keine Seele haben und keine Seele erhalten werden. Wir haben Homunkuli erschaffen, keine Golems. Und auch die Klontechnologie wird uns nur verdoppeln, reproduzieren, nicht etwas Neues erschaffen, sondern immer wieder Bekanntes wiederholen, endlos wiederholen. Anstatt das zu schützen, was die Vergangenheit uns an Lebewesen zur Verfügung stellt, versuchen wir die Zukunft mit Wesen zu füllen, die nach unserem Bild und unserer Vorstellung erschaffen sind. Wir schaffen aus uns selbst ein Homunkuli der Welt, das lebendig, aber gottlos ist. Die dunkle Zukunft des „Blade Runner“ ist uns näher, als es uns lieb sein sollte. Irgendwie bin ich da mehr der Freund von „Gattaca“ – hier zählt die Seele, gewinnt der Glauben über die Technik.
Alles Liebe, Dein Homo Magi
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Geschenke und Gegen-Geschenke
Lieber Salamander,
Geschenke sind etwas Feines. Als Kind habe ich immer auf Weihnachten oder meinen Geburtstag hingefiebert, weil das eine Chance war, etwas Neues an Geschenken „abzustauben“. Das schöne an uns drei Geschwistern ist, dass sich unsere Geburtstage ganz nett über das Jahr verteilen. Lange Durststrecken gab es nie, und durch kleine Geschenke für die Zeugnisse und Sonderfeiertage wie Ostern war ich eigentlich immer ganz gut versorgt. Natürlich war das nicht immer Schokolade oder etwas zum Spielen, später dann Bargeld (scheinbar gehen Eltern etc. ab einem gewissen Alter die Ideen für Geschenke aus!), aber in den meisten Fällen war ich schon als Kind sehr zufrieden mit dem, was ich bekam. Auch selbst versuchte ich immer wieder, Leuten die ich mochte an entsprechenden Tagen Geschenke zu machen. Zum Geburtstag (auch wenn ich mich heroisch bis heute weigere, Geschenkpapier zu verwenden – alte Zeitungen erfüllen den selben Zweck und sind sicherlich damit sehr gut recycled worden!), zu Weihnachten oder auch zu anderen Gelegenheiten, wenn mir der Sinn danach steht (eine gute Möglichkeit ist immer auch ein Gastgeschenk, wenn man irgendwo übernachtet). Zu Weihnachten habe ich die letzten Jahre immer einen Zeichner in meiner Umgebung dazu überredet, mir eine Karte zu zeichnen. Die habe ich dann drucken lassen und im Bekanntenkreis verschickt – ein schönes Geschenk und ein Indiz dafür, dass man an den anderen denkt. Aber sowenig Probleme ich mit Geschenken im normalen Leben habe, umso mehr Schwierigkeiten habe ich damit im Bereich der Magie. Natürlich werden die meisten Leute auf den ersten Blick denken, dass Geschenke wenig mit Magie zu tun haben. Pustekuchen. Ich will zwei unterschiedliche Situationen betrachten und meine Meinung zum Thema „Heidentum und Geschenke“ bzw. „Magie und Geschenke“ daran deutlich machen.
Erstens. Ein gemeinsames Fest. Das Kreismitglied M. richtet für den Kreis eine nette Feier in ihrer Wohnung aus. Das Wetter draußen ist für ein Ritual im Freien gerade nicht geeignet, oder es gibt andere Gründe, die ein Rausgehen unmöglich machen, und so feiert man drinnen. Sie kümmert sich um was zu trinken, kocht Kaffee und Tee, räumt das Wohnzimmer auf, stellt das Telefon kurz vor der Feier aus, organisiert Wegbeschreibungen für die Leute, die noch die da waren, macht Small Talk mit jenen, die zu früh da sind und kümmert sich um jene, die als letzte gehen, richtet vielleicht ein paar Schnittchen und Knabberkram für die Zeit nach dem Ritual oder besorgt die Adresse eines Pizza-Bringdienstes, der verlässlich und schnell liefert. Außerdem hat sie ein wenig nette Musik für die Zeit vor dem Ritual und nach dem Ritual ausgesucht und die Aschenbecher ausgeleert. Ich selbst bin nun Gast bei diesem Ritual. Also bringe ich selbstverständlich eine Kleinigkeit mit – Bargeld finde ich stillos, aber warum nicht ein paar Blumen, eine Kleinigkeit zum Knabbern (nicht immer Pralinen, auch Cashew-Kerne werden immer gerne genommen), vielleicht etwas Wein oder sogar ein nettes Buch. In diesem Fall geht es bei dem Geschenk um einen Austausch – denn ich erhalte ja auch etwas an diesem Abend – und das ist meiner Ansicht nach auch völlig in Ordnung.
Zweitens. Die magische Ausbildung. Mein magischer Lehrer R. macht sich seit Monaten Mühe mit mir. Er hat sich bereiterklärt, mir bei ein paar Fragen zu helfen. Entweder ist er ein guter Handwerker, der mit hilft meinen Siegelring fertigzustellen. Oder er hat Ahnung von der Kultur der Robonen oder von den heiligen Büchern von Planktotsel und möchte mir einfach helfen, damit klar zu kommen. Vielleicht ist es auch einfach so, dass ich jemanden zum reden brauche, denn ich auch mal abends um 23.00 Uhr am Telefon vollquatschen kann und der nichts dagegen hat, wenn ich abends auf seiner Matte stehe und mit ihm Kaffee trinken will. R. kopiert mir vielleicht auch mal ein halbes Buch oder besorgt mir eine seltene CD, er leiht mir seine Bücher und ich bin bei ihm immer gerne willkommen. Dann habe ich nun überhaupt keine Probleme damit, R. mal zum Essen oder in das Kino einzuladen. Bargeld würde ich ihm nicht anbieten, das passt in dieser Situation auch überhaupt nicht, aber kleine Geschenke sind für mich kein Problem und zeigen ihm, dass ich für seine Hilfe dankbar bin.
In beiden Fällen halte ich Geschenke für eine nette Idee. Ich würde sie nicht erzwingen, ich würde sie nicht geben, wenn ich das Gefühl hätte, dazu verpflichtet zu sein. Aber wenn ich mir die – natürlich oftmals idealisierten Beschreibungen – von Heidentum in früheren Epochen anschaue, dann ist es doch das Gabe gegen Gabe-Prinzip, was ich immer herauslese. Ob ich jemanden Obst oder Blumen mitbringe – es bleibt ein Geschenk. Wir vergessen oft, dass es nicht nur Priesterinnen und Priester sind, die Dinge tun, damit Magie und/oder ein Kreis funktionieren. Kreismitglied M. und Lehrer R. tun auch etwas dafür, dass die Rituale funktionieren. Es ist vielleicht nicht auf den ersten Blick sichtbar, weil wir auf die großen Worte und die breiten Gesten schauen. Aber es ist vorhanden. Und wir sollten uns ab und an dafür bedanken. Sonst ist es fort, und wir kriegen es nie wieder.
Dein Homo Magi Juli
Verstecken und Finden
Lieber Salamander,
manchmal ist es schwerer, etwas zu verstecken, als etwas zu finden. Edgar Allan Poe hat es an einem Brief bewiesen, Chesterton an einem ganzen Menschen – auch der Krimi tut sich schwer damit, etwas so zu verstecken, dass es nicht gefunden werden kann. Und auch hier stellt sich heraus, dass die einfachsten Lösungen die besten sind – man versteckt etwas so, dass es eigentlich gar nicht versteckt ist. Die Menschen neigen dazu, die offensichtlichen Dinge zu ignorieren und in den dunklen Ecken zu suchen. Aber wenn man sich erst einmal Gedanken über ein Versteck gemacht hat und nicht nur etwas „weggesteckt“ hat, dann macht man es jedem Sucher schwer, es wiederzufinden. Die offensichtliche Lösung – da, wo alle schauen – ist schnell abgehakt, die zweite Möglichkeit – mein Gegenüber hat sich überlegt, wo ich nicht schauen würde und es dort versteckt – ist bald auch vorbei. Und hier beginnt dann der Reiz, die Auseinandersetzung zwischen unterschiedlichen Gehirnen um die Frage, wer wen am besten verwirren und wer was am besten verstecken kann. Piraten brachten – wenn man der populären Literatur folgen mag – alle jene um, die wussten, wo ihr Schatz liegt („Die Schatzinsel“ hat wohl auch hier unsere Sicht der Welt geprägt!), ebenso die Pharaonen. Dinge, die man wiederfindet, machen heute noch Schlagzeilen – sei es die „Titanic“ oder weitere Sarkophage in Ägypten. Und Dinge, die man nicht findet, machen auch Schlagzeilen – ob jetzt Nessie oder das Bernsteinzimmer gemeint sind. Wie sieht es aus in der Magie mit Dingen, die man versteckt und findet? Gerade russische Märchen handeln davon, dass ein Magier oder eine Hexe das Herz in einem Ei oder einer Kiste verbergen, damit es nicht gefunden wird. Auch Seelen werden gerne außerhalb des Körpers gelagert, um dem Zugriff entzogen zu sein (bei Hauff ist es das Herz, das durch einen Stein ersetzt wird). Bei den Verstecken der Hexen ging es natürlich auch darum, vor Angriffen sicher zu sein. Wenn ich jemanden nicht töten kann, weil ich seine Seele nicht finde, dann kann ich niemals einen wahren Triumph erhalten. Mir wird immer das letzte fehlen, um komplett zu sein. Wie oft werden in Sagen Menschen zerschnitten und ihre Teile verstreut (auch die Bibel kann hier ein paar Beispiele liefern), damit sie nicht beerdigt oder wiederhergestellt werden können. Vielleicht motiviert uns das auch immer wieder, Geschichten um den Gral zu lesen. Dieser Gegenstand wird immer gesucht, anscheinend auch ab und an mal gefunden, aber sein Aufenthaltsort ist – wie ein heilsgeschichtliches El Dorado – immer noch unbekannt. Heute verstecken wir Magier nicht mehr unsere Seelen (warum eigentlich nicht – ein Versteck im Cyberspace wäre doch ganz lustig, oder?). Aber wir verbergen unsere Gedanken. Die SF-Literatur ist voll von Wesen, die unsere Gedanken lesen können. Das geht von trivial (wie das Mutantenkorps bei „Perry Rhodan“) bis literarisch („Demolition“ von Alfred Bester). Aber beide (Extrem-)Beispiele liefern uns Informationen über unsere Ängste und Hoffnungen. Der Telepath John Marshall, später Chef des ganzen Mutantenkorps, liest – nachdem er seine Gabe erkannt hat – zuerst die Gedanken seiner hübschen Nachbarin und verschiebt daher seine Abreise auf den nächsten Morgen ... Und die ganze Handlung in „Demolition“ dreht sich um die Frage, wie ein nicht-telepathischer Detektiv ein Verbrechen unter Telepathen aufklären kann. Im einen Fall verwendet man das Lesen von Gedanken dazu, Liebesabenteuer zu erleben. Im anderen Fall gelingt es dem Protagonisten durch Einsatz seiner Intelligenz, eine Gabe zu überlisten, die er selbst nicht hat. Unsere Gedanken sind unser neumodisches Versteck. Wir verbergen Dinge in unseren Hirnen, weil sie dort anscheinend sicher sind. Und deswegen erschrecken uns auch Visionen von Telepathen und Gehirnsonden, weil sie in Bereiche einzudringen drohen, die uns sind. Und auch Hypnose macht uns deswegen nervös, weil wir der Kontrolle des Bewusstseins entzogen werden und Dinge tun, die wir sonst nicht tun würden („Dr. Mabuse“ ist immer ein schönes Beispiel für Urängste – so auch hier). Wenn wir Dinge zu verstecken haben, dann ist der Geist aber ein gänzlich ungeeigneter Ort. Denn wir müssen dort immer wieder selbst hin, wenn wir unser Geheimnis berühren wollen. Wie der Seeräuber, der zu „seiner Insel“ zurückkehren muss, müssen wir auch zurück zum Schatz, das Versteck besuchen, um zu erfahren, dass wir beruhigt schlafen können, weil der Schatz noch da ist. Gollum in „Der Herr der Ringe“ ist ein gutes Beispiel für solche Verhaltensweisen ... scheinbar sorgt das nicht dafür, dass man zu einem glücklichen Wesen wird. Ich glaube, dass es am sinnvollsten ist, das Versteck zu räumen. Es ist nicht sicher, weil wir gezwungen sind, es immer wieder zu besuchen um uns zu versichern, dass noch alles gut verwahrt ist. Besser wäre es, wir würden unsere Geheimnisse auf mehrere Orte verteilen – und ein paar davon sollten offensichtlich sein. Denn dies sind die am leichtesten zu versteckenden Geheimnisse – die, die nachher jeder sieht. Und ich würde mir auch Gedanken darüber machen, welche offensichtlichen Geheimnisse ich in meiner Umwelt übersehe. Probleme wie Kindesmissbrauch und Alkoholismus sind oft jedem in der Familie bekannt – sie sind nur tabu, werden nicht erwähnt. Ein offenes Geheimnis, das schreckliche Folgen haben kann. Ist das nicht in der Magie auch so? Wenn man wirklich verstecken will, dann sollte man sich jedoch eine dritte Möglichkeit überlegen. Nicht im Gehirn, da ist das Nachschauen zu mühselig. Nicht in der Öffentlichkeit, weil manche Geheimnisse dort auch nicht gut aufgehoben sind. Man sollte seine Geheimnisse jemanden anvertrauen, dem man vertraut, den man gar liebt. Für sie oder ihn ist es wesentlich einfacher als für uns, das Geheimnis zu betrachten – weil das Fluidum des Schatzes fehlt, welches das Geheimnis für uns hat. Und sicher ist das Geheimnis trotzdem – oder wir haben uns in unseren Gefühlen getäuscht. Aber das ist eine Gefahr, die man eingehen können muss, wenn man wachsen will. Und das ist doch letztendlich das Ziel – wachsen. Die eigenen Ängste konfrontieren, immer wieder und die Grenzen dessen verschieben, was wir uns trauen. Und sich verändern. Mutabor, Salamander. Mutabor!
Dein Homo Magi
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Spiele
Hallo Salamander,
ich habe Jahre meines Lebens damit finanziert, dass ich Spiele verkauft habe. Ich weiß noch, wie alles anfing. Schon früher, als Kind habe ich gerne gespielt. Meine Großmutter behauptet ja weiterhin, ich hätte nur so gerne gespielt, weil sie mich beim „Mensch ärgere Dich nicht!“ immer hat gewinnen lassen. Ich weiß nicht ob diese Geschichte stimmt. Aber ich habe einige Jahre gebraucht, um mich beim Spielen damit abzufinden, dass ich auch einmal verliere. Später habe ich dann angefangen, Spiele „auf höherem Niveau“ zu spielen. Der Vater eines Klassenkameraden hatte nicht nur einen Nachbau von Waterloo auf dem Dachboden, um dort mit Zinnsoldaten die Schlacht nachzuspielen, sondern er besaß auch Spiele wie „Civilization“. Gegen ihn haben wir – seine zwei Söhne, mein Bruder und ich – immer gerne gespielt. Da ging immer ein ganzer Samstag oder Sonntag drauf. Er hat jedes Mal gewonnen, unter anderem deswegen, weil er sich die Lage jeder Karte und jede Figur auswendig merken konnte. Aber gegen Mittag zahlte er jedem von uns eine Pizza. Kein Wunder, der Mann war Professor für theoretische Mathematik an der örtlichen Universität – der hatte sowohl Geld als auch das nötige Gehirn. Mit ihm, oder besser gesagt über seine Söhne, kam ich auf mein erstes Spieletreffen. Das fand dann in den Räumlichkeiten der Universität statt, und es drängelten sich etwa zweihundert Personen – die meisten davon männlich – in diversen Sälen herum und spielten Brettspiele. Viele beschäftigten sich mit dem Zweiten Weltkrieg, einige mit den Napoleonischen Kriegen oder anderen wichtigen Epochen der Kriegsführung. Zwischendurch befanden sich auch einige Rollenspieler, an unauffälligen Tischen über den Raum gestreut. Und es gab auch einige Tische mit sogenannten „Familienspielen“. Das sind dann Dinge wie „Bausack“ oder „Hase und Igel“. Nun ja, ich will nicht behaupten, dass ich mich zu den pädagogischen Spielen hingezogen gefühlt habe. Es gibt zu viele Zeugen, die belegen können, dass ich gerne „Axis & Allies“ spiele. Und da verrät der Titel dieses Spieles ganz deutlich, dass es nicht um die familiären Probleme einer Hasenfamilie geht ... Durch diverse Irrungen und Wirrungen bin ich dann als Ladenkraft in einem Spieleladen gelandet. Später übernahm ich mehr Funktionen, z.B. den Einkauf und die Verwaltung der EDV für das Lager. Dann haben wir einen Einzelkundenversand aufgebaut, Regeln übersetzt und Spieleveranstaltungen organisiert. Das Geschäft lief, und ich konnte immer neben meinem Studium arbeiten. Oftmals litt mein Studium unter dem Zustand des Ladens – aber das war es mir wert, eine sichere Nebeneinnahme zu haben. Nach meinem Studium war ich eine Weile lang arbeitslos (immerhin zwei Wochen), bevor mir ein Freund anbot, als Geschäftsführer in einen neuen Laden einzusteigen. Er wollte ein Geschäft für Merchandising, Rollenspiele etc. aufmachen – und ich stieg ein. Auch das war nach einem Jahr vorbei, denn ich entschied mich, lieber einen Freund zu behalten und dafür die Arbeit zu verlieren. Ich wechselte zu einem Großhändler, der ähnliche Produkte anbot, mir aber die Stelle eines „European Sales Managers“ anbot. Auch das machte ich, bis die Firma ins Ausland verkauft worden ist. Seit dem habe ich meine momentane Stellung, die dankenswerterweise wenig mit Spielen zu tun hat. Das erhöht dann doch meinen Reiz, mal wieder abends oder am Wochenende zu spielen, weil ich nicht beruflich den ganzen Tag über Spiele reden muss. Warum ich Dir das erzähle? Weil ich glaube, dass man aus Spielen eine Menge über Magie lernen. kann. Denn auch Magie beruht darauf, dass man das Verhalten von Menschen einschätzen kann. Man muss Regeln lernen und sie beherzigen, man muss aber auch lernen, Regeln auszulegen und zu versuchen, innerhalb eines vorgesehenen Rahmens mit anderen Menschen so zusammenzuarbeiten, dass man die Gewinnbedingung als erster erfüllt. Dies alles sind aber auch Vorbedingungen, die ich in der gleichen Form wie für das Spiel für die Magie übernehmen würde. Das Spiel gibt uns die Möglichkeit, unsere „sozialen Fähigkeiten“ zu trainieren. Und das sind doch genau die Fähigkeiten, die bei den meisten Magiern zu kurz kommen. Im Spiel lernt man, zu reden. Man lernt zu verhandeln, man lernt aber auch, eigene Misserfolge als Erfolg zu verkaufen und von der eigenen Strategie abzulenken. Ein gutes Beispiel für ein Gruppenspiel ist das sehr bekannte „Siedler von Catan“, aber auch „Vertigo“ und selbst das gute alte „Monopoly“ sind Beispiele für unterhaltsame Spiele. Natürlich darf man „Monopoly“ nicht ernstnehmen, sonst darf man sich gleich mit einer langen Kapitalismuskritik auseinandersetzen. Und selbst ich unterscheide zwischen dem Zweiten Weltkrieg als historischem Ereignis und „Axis & Allies“ als Brettspiel. Aber auch das Trennen von Ebenen ist etwas, das wir in der Magie immer und immer wieder einsetzen müssen – und daher auch lernen und trainieren müssen. Der „homo ludens“, der spielende Mensch ist in uns allen enthalten. Und unser „homo magi“ ist mit diesem „homo ludens“ eng verwandt – und ich glaube, dass es dem Homo Magi sehr gut getan hat, dass sein „homo ludens“ dann doch irgendwann gelernt hat, zu verlieren, ohne dabei in die Tischkante zu beißen. Trotz meiner Großmutter ging das irgendwann gut – also besteht auch für mich noch Hoffnung!
Dein Homo Magi
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Die Kordel und das Universum
Lieber Salamander,
ich hatte mich bereit erklärt, Magie sozusagen „Schritt für Schritt“ zu erklären. Leider stellte ich beim Erklären fest, dass dies keinesfalls so einfach ist, wie ich mir das vorgestellt habe. Gerade die ersten Schritte, die „basics“, sind wichtig, weil alle späteren Schritte davon abhängen, so dass man hier keinen Fehler machen sollte. Und man gerät auch bald in den Bereich des obskuren Wissens, wenn man in den Grundlagen Dinge einbaut, die wenn doch nicht unbedingt falsch, so doch schwer verständlich sind. Um es etwas flapsig zu formulieren: Wenn ich schon an die Existenz einer Hohlwelt glaube, dann sollte ich das nicht in den Grundlagenlektionen einbauen – oder mich damit abfinden, dass nicht alle Leute mir weiterhin zuhören werden. Die Grundlage der Magie so wie ich sie betreibe ist der Fortschrittsgedanke. Seit dem Wegfall des Kommunismus als weltumspannende Ideologie ist dieser Glaube ein wenig untergegangen, aber ich halte weiterhin an dieser Idee eines Fortschritts in der Entwicklung des Universums fest. Ich lege mich nicht fest, ob es sich um eine aufsteigende oder eine absteigende Entwicklung handelt – das streift dann Themen wie Thermodynamik und die Entstehung des Universums. Und da sind meine Lücken deutlich größer als mein Wissen. Aber es gibt einen Anfang und ein Ende für das, was ich als Schöpfung bezeichnen möchte. Und Anfang und Ende implizieren eine Entfernung zwischen beiden, aber auch eine Entwicklung. Und für Magie als dynamisches System brauchen wir diese Entwicklung, weil nur in einem veränderlichen Universum Magie sinnvoll Veränderungen herbeiführen kann. Nur dann, wenn alles in Bewegung ist, kann ich selbst auch Bewegungen benutzen oder selbst herbeiführen, um damit Magie zu wirken. „Panta rei“, alles fließt. Ein großer Vorteil des magischen Weltbildes ist seine Definitionskraft. Als eines der wenigen Gedankensysteme ist es in der Lage, von der Gegenwart aus sinnvoll Vergangenheit und Zukunft zu erklären. Man stelle sich eine Kordel vor, die über eine Tischplatte gelegt ist. Die Kordel ist die Zeit, die Geschichte des Universums, die von einem Ende zum anderen Ende der Tischplatte verläuft. Für das Modell stellen wir uns weiterhin vor, dass die Tischplatte endlich ist, wir aber nicht erkennen können, wo die Enden sind. Jetzt müssen wir uns vorstellen, dass wir uns quer zur Kordel bäuchlings auf die Tischplatte legen und einen Finger am ausgestreckten Arm unter die Kordel schieben. Wenn unsere Vorstellung richtig ist, dann liegen wir jetzt auf dem Bauch auf einem Tisch, und vor uns verläuft von links nach rechts (oder von rechts nach links, wem das lieber ist) die Kordel über den Tisch. Das sind dann die Momente, wo man darauf hofft, dass im richtigen Leben keiner zur Tür hereinkommt, weil es schwierig wäre, den Anblick zu erklären. Machen wir weiter: Wir beginnen ganz rechts, soweit wir eben mit dem Finger unter die Kordel kommen und bewegen unseren Arm nach links soweit wir können, ohne unseren Finger unter der Kordel hervorzuziehen. Der Punkt, an dem der Finger ganz rechts unter der Kordel liegt, ist die Gegenwart. Durch die Bewegung von rechts nach links definieren wir den Verlauf der Zeit und durch die Länge der Strecke, die wir von rechts nach links berühren können, definieren wir unseren Beobachtungszeitraum (einfacher gesagt: unser weiteres Leben). Links und rechts unseres Fingers entstehen kleine „Hubbel“, weil wir die Kordel natürlich leicht anheben. Und man kann sich vorstellen, dass die Wellen, die hier entstehen, sich durch die Kordel in beide Richtungen fortpflanzen. Das heidnische Weltbild, das wir uns in diesem Zeitalter angeeignet haben, ist nun eines, das versucht, die Erkenntnisse der Wissenschaften in das Weltbild einzubauen. Wir glauben nicht länger daran, dass die Erde eine Scheibe oder der Mittelpunkt des Universums ist – und vertreten damit Positionen, bei deren Erringung die christliche Kirche zum Beispiel große Schwierigkeiten hatte. Oder wenn man sich das Verhältnis der meisten Heiden zum Darwinismus in Vergleich zum Verhältnis einiger christlicher Gruppen dazu ansieht, dann wird man erkennen, dass die Heiden eher auf der Höhe des wissenschaftlichen Weltbildes sind als diese Gruppierungen. Für den Heiden ist es nachvollziehbar, dass sich das wissenschaftliche Weltbild ändert. Die meisten heidnischen Schriften, die meisten Werke über Magie stammen aus den letzten hundert Jahren. Dies hat nicht nur etwas mit einer „heidnischen Renaissance“ zu tun, sondern auch damit, dass der Buchdruck samt der Einführung der neuen Technologien natürlich dazu geführt haben, dass das Informationsangebot massiv gewachsen ist. Davon profitieren wir im Gegensatz zu den Offenbarungsreligionen, welche die Grundlagen ihrer Religion aus der Zeit vor dem neunten Jahrhundert nach Christus beziehen. Um es etwas dämlich auszudrücken: Das moderne Heidentum ist zeitnaher, weil es in den letzten hundert Jahren gezwungen war, seine Wurzeln komplett zu überdenken bzw. neu zu finden. Diese Anstrengung blieb anderen Religionen „erspart“ – mit dem Effekt, dass hier auch gewisse Lerneffekte ausfielen. Die Magie ist eine flexible Weltsicht; wir können von unserem heutigen Standpunkt aus durch die Magie Vergangenheit und Zukunft definieren. Wir sehen zwar nicht, wie weit die Kordel in jede Richtung reicht, aber wir sehen die Kordel, fühlen das Material, aus dem sie besteht, spüren den Druck auf unserem Finger. Und wir können dadurch, dass immer unser Hier und Jetzt von der Stelle markiert wird, an der sich unser Finger befindet, von einem festen – wenn auch flüchtigen – Punkt aus Aussagen über andere Zeiten machen. Unser momentaner Standpunkt, unser Beobachtungspunkt ist erhöht und erlaubt uns einen besseren Blick. Und den nutzen wir. Es braucht uns nicht zu scheren, dass sich das Weltbild in den letzten Jahrhunderten drastisch verändert hat – das Magiebild hat sich auch verändert, es wird sich weiterhin verändern. Zumindest hoffe ich das, denn Stillstand ist Rückschritt. Unsere Sicht der magischen Welt verändert sich genauso wie unsere Sicht der realen Welt. Ein wenig erinnert mich das an einen Koloss von Rhodos auf Schneeschuhen. Der Koloss steht über der Hafeneinfahrt zur Erkenntnis, und wir müssen zwischen beiden Füßen hindurch, um den Hafen zu erreichen. Auf der einen Seite steht der Koloss auf dem Ufer der realen Welt, auf der anderen Seite ist es die magische Welt. Und beide Welten sind im Fluss, daher die andere Vorstellung vom Koloss, der vorsichtig erst den einen und dann den anderen Fuß vorschiebt, bis er in Fahrt geraten ist und sich vorwärts bewegt. Beide Bilder korrespondieren schlecht miteinander (ein beweglicher Hafen ist keine gute Idee), aber ich kann so in wenigen Worten ausdrücken, was ich meine. Wir Magier sind dieser Koloss – wobei ich mir das Bild mit den tönernen Füßen für andere Beispiele aufheben möchte ... Ich habe dem Universum schon eine Bewegung unterstellt. Diese Bewegung brauchen wir, denn wir nutzen diese Bewegung für unsere eigene Bewegung. Aber das Universum gibt noch andere Dinge vor – nämlich die physische Umgebung unserer Existenz. Dies sind Grundannahmen wie die Schwerkraft, aber auch der Aufbau unseres Sonnensystems. Für die Heiden ist die Sonne genauso wichtig wie der Mond; beide haben ihre Bedeutung, ihre Aufgaben. Es gibt eine Theorie die besagt, dass wir Menschen die Raumfahrt nur entwickelt haben, weil der Mond so nahe an der Erde ist – hätten wir es „im ersten Sprung“ bis zum Mars schaffen müssen, dann würden wir immer noch keine Raumschiffe besitzen. Doch so ist der Reiz immer vor unseren Augen, die „letzte Grenze“ weiter hinauszuschieben. Früher waren es die Abenteurer, die ihre Boote bestiegen und damit den Ozean befuhren, die Erkunder, die fremde Länder durchwanderten, die Forscher und Archäologen. Heute sind wir es, die gesamte Menschheit, die sich auf dem „Raumschiff Erde“ aufgemacht hat, um neue Horizonte zu erreichen. Auch eine nette Vorstellung, oder? Ein realistisches Weltbild bedeutet aber auch, dass wir die Grenzen unseres Körpers kennen. Wir können nicht fliegen, wir können nicht unter Wasser atmen, wir brauchen Nahrung. Und die Dinge, die wir in uns hineinlassen, beeinflussen auch den Zustand unseres Körpers. Über die Luft – den „Odem“ der Magie – haben wir eine Menge lernen müssen in den letzten hundert Jahren. Wir wissen jetzt einiges über den Einfluss von Nikotin und über Schadstoffe in der Luft, aber auch über Stoffe wie Plutonium, die wir nicht wahrnehmen können, die uns aber trotzdem zu töten in der Lage sind. In unserer Nahrung nehmen wir Kunstprodukte zu uns, seien es der weiße Zucker oder genetisch veränderte Nahrungsmittel jeder Art. Über unsere Flüssigkeitszufuhr können wir uns mit Alkohol vergiften. Ich möchte niemanden zwingen, bestimmte Dinge nicht oder bestimmte andere Dinge zwanghaft zu konsumieren. Ich bin nur der Ansicht, dass man sich bewusst (!) machen sollte, was man zu sich nimmt. Menschen, die über Strahlung aus dem All reden oder sich über das Orgon fortbilden sollten den Gedanken dahingehend ausweiten, auch ihr „tägliches Leben“ auf Einflüsse zu überprüfen, denen sie ihren Körper aussetzen. Eine Energiearbeit ohne einen Gedanken an andere Einflüsse auf den Körper ist Blödsinn, sonst nichts.
Ich glaube, das langt für heute.
Ich denke an Dich, Dein Homo Magi
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Unsere Quellen
Hallo Salamander,
wir alle leben nicht für uns allein. Die Psychologie kennt den Begriff des „Sozialen Atoms“, das aber nicht nur eine Person, sondern auch dessen engste Bindungen umfasst. Wir stehen nie allein, sondern sind immer mit anderen Menschen verbunden. Wenn wir uns über die Energien, die das Universum durchziehen, Gedanken machen, dann müssen wir uns auch immer darüber Gedanken machen, welche Energien uns mit anderen Menschen verbinden. Die ursächlichste Verbindung ist die über das Blut, über die Geburt. Jeder Mensch hat die Zeit vor seiner Geburt im Bauch seiner Mutter verbracht – und damit ist die Nabelschnur die engste und älteste Verbindung. Die Bindung zwischen Eltern und Kindern ist stark – wie viele Mythen und Märchen bauen darauf auf, dass diese Bindung stärker ist als alle andere Bindungen. Um die Abhängigkeit innerhalb von Familien zu definieren gibt es den schönen Begriff der „vermittelnden Geburten“. Zwischen mir uns meiner Mutter steht eine „vermittelnde Geburt“, nämlich meine. Zu meiner Schwester sind es genauso viele wie zu meiner Großmutter – jeweils zwei. Meine Geburt verbindet mich mit meiner Mutter und diese wiederum ist durch eine Geburt jeweils mit meiner Schwester bzw. meiner Großmutter verbunden. Dieses Prinzip ist grundsätzlich matrilinear, weil nur die Geburt – im Gegensatz zur Vaterschaft – eine eindeutig überprüfbare Tatsache ist. Warum haben wohl Männer früher ihre Frauen gefangen gehalten? Doch nur, um sicher sein zu können, dass sie selbst der Vater der Kinder sind. Die Vaterschaft ist niemals sicher – und aus diesem Grunde wurden die meisten restriktiven Kontrollmechanismen eingeführt, welche die Sexualität von Frauen einschränken. Es ging darum, die Vaterschaft eindeutig zu beweisen. Nun, Männer scheinen da ein wenig verletzlich zu sein. Ich finde es weniger wichtig, ob man ein Kind selbst gezeugt hat, als ob man es erzogen hat. Was hat ein Kind davon, dass es vom Vater ein wenig Sperma mitbekommen hat, aber diesen Vater Zeit seines Lebens nicht zu Gesicht bekommt? Derjenige Mann, der es großzieht, ist der Vater, der von Bedeutung ist. Aber das sind Überlegungen der Neuzeit, die sich unsere Vorfahren kaum zu eigen gemacht haben werden. Früher war auch auf der männlichen Seite – wie es auch heute noch in vielen Kreisen der Bevölkerung üblich ist – das wichtige Prinzip ebenso die Zahl der vermittelnden Geburten. Analog zur Geburt durch die eigene Mutter war die biologische Vaterschaft die zweite Prägung. Unsere Gesellschaftsform ist weiterhin patriarchalisch. Dies ist nicht nur beim Namensrecht noch abzulesen, sondern auch in konservativen Kreisen der Gesellschaft ist dies immer noch stark verbreitet (und ich möchte an dieser Stelle nur kurz auf Adel und Kirche verweisen, um meine These zu untermauern!). Das Blut bindet uns an unsere Familie. Und das Blut verbindet uns mit jenen, die uns nahe sind. Der Wunsch, die eigene Familie zu schützen, ist vielleicht nicht in unseren Genen einprogrammiert, aber er sitzt ganz tief in unserem Bewusstsein. Deswegen ist es wichtig, sich bei einer magischen Ausbildung auch darüber Gedanken zu machen, wer man ist und woher man kommt. Wer sind meine Eltern? Wer sind meine Kinder? Wer sind meine Geschwister? In der amerikanischen Fernsehserie „Roots“ wurde dies sehr schön dargestellt. Die Schwarzen der USA können in dieser Serie ihre Identität, ihre afrikanischen Wurzeln nur dadurch wiedererlangen, dass sie sich nach eben diesen Wurzeln auf die Suche machen. Bei einem langsamen Gang durch die Jahrhunderte, zurück bis zum Sklavenhandel von Afrika nach Nordamerika, wird dem Autor immer klarer, wer er ist und was ihn prägt. Schon zu Beginn der Geschichte war er ein erwachsener Mann, eine Persönlichkeit. Aber die Tiefe erhielt er erst dadurch, dass er um sein „Woher?“ und sein „Wohin?“ wusste. Wie viele Geschichten über magische Wesen enthalten den Teil, dass entweder der Protagonist selbst herausbekommen muss, wer er ist, oder von jemand die Aufgabe erhält, herauszufinden, wer der andere ist? Wie viele vertauschte Kinder, wie viele Findelkinder müssen erst erfahren, wer sie sind, bevor sie erfahren können, was sie sind? Die Suche nach den Wurzeln, der Gang zu den Ursprüngen gehört mit zu den wichtigsten Aufgaben des Magiers. Wir sollten das Wasser erst benutzen, wenn wir die Quellen kennen, aus denen es gespeist wird.
Dein Homo Magi
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Die Mächte des Magiers
Hallo Salamander,
Starhawk schrieb einmal, dass es vier traditionelle Mächte des Magiers geben würde: zu wissen, zu wollen, zu wagen und zu schweigen (aus „Mit Hexenmacht die Welt verändern“). Jetzt möchte ich mir nicht nachsagen lassen, in allen Dingen mit ihr und ihren Büchern einer Meinung zu sein – aber in diesem Punkt trifft sie den Nagel auf den Kopf.
Ein Magier muss ein Verlangen nach Wissen in sich spüren. Nur wer die Grenzen der eigenen Welt überschreitet, wer immer wissen will, was hinter dem Horizont liegt, der trägt in sich den Funken, der ihn zum Magier machen kann. Wissen an sich ist eine Belohnung, die sich von der Neugier nicht wenig unterscheidet – doch während die Neugier immer neu gefordert werden muss und immer neue Ziele sucht, kann das Wissen sich aus sich selbst erweitern. Die Aussage „Ich denke, also bin ich“ führt – wenn man sie konsequent weiterdenkt – zur Erkenntnis. Zumindest ist dies theoretisch so, praktisch ist diesen Weg noch niemand gegangen.
Ein Magier muss aber auch Dinge wollen. Der Wille ist Grundlage einer jeden magischen Ausbildung. Nur ein starker Wille kann Dinge ignorieren, nur ein starker Wille kann Dinge beherrschen und nur ein starker Wille kann funktionieren, wenn das ganze Universum Stein um Stein auf den Weg zu werfen scheint, der die Straße zur Erkenntnis bildet. Es scheint, als gäbe es ein Naturgesetz, das die Suche nach der Erkenntnis nur unter Schwierigkeiten zulässt – und diese Schwierigkeiten sind es, die durch unseren Willen bezwungen werden müssen.
Die Fähigkeit etwas zu wagen, der Mut, ein Wagnis einzugehen, ist notwendig, denn der Magier muss viele Male die Grenzen seiner eigenen Erfahrung überschreiten, Dinge tun, vor denen er Angst hat. Nur die eigenen Ängste, die man besiegt hat oder zumindest zu kontrollieren gelernt hat sind keine Einfalltore mehr für Bedrohungen von außen. Nur der, der Dinge tut, obwohl sie gefährlich sind, wird seine Antworten erhalten. „Humans go, where angels fear to tread“ – unsere menschliche Ignoranz führt dazu, dass wir manchmal Dinge wagen, die keiner sonst wagen würde – und wir obsiegen trotzdem.
Die Fähigkeit zu schweigen ist für mich die schwierigste der vier Gaben. Jeder, der mich kennt, wird jetzt leise lachen. Nein, meine Schwierigkeit liegt nicht nur darin, dass ich geschwätzig bin. Man kann über Dinge schweigen und trotzdem andauernd reden. Das Problem beim Schweigen ist es, dass man manchmal Dinge nicht erklärt, weil man weiß, dass jemand etwas lernen muss und dies nicht lernt, wenn man vorher alles erklärt. Manchmal muss man schweigen, weil es Informationen gibt, die man nicht weitergeben darf oder soll. Und manchmal, ganz selten, ist es die Kraft im Schweigen, die einem die nötige Kraft gibt, um etwas zu tun. Bei vielen Ritualen wird am Anfang und am Ende gesprochen. Dazwischen ist das Schweigen. Und dieses Schweigen lässt die Natur um uns herum laut werden. Wir können auf einmal hören, wie die Welt um uns herum das Schweigen zu füllen scheint. Manche hören Harfen, andere Sphärenklänge, wieder andere den Wind in den Bäumen oder das Wispern der Geister. Was ich höre – nun, darüber will ich heute schweigen.
Ich denke an Dich, Salamander, und ich weiß, dass Du das Zeug hast, ein fähiger Magier zu werden. Du musst nur lernen, zu wissen, wollen, wagen und schweigen. Ich werde Dir helfen, so weit ich kann.
Dein Homo Magi August
Sonne und Mond
Lieber Salamander,
wir könnten in aller Ruhe die These diskutieren, dass es auf einer identischen Erde, auf der es keinen so hellen Mond wie unseren gegeben hätte, auch keine heidnische Religion gegeben hätte. Ignorieren wir jetzt einfach mal die Probleme, welche die Konzeption eines nicht-sichtbaren Mondes erzeugt, und stellen wir uns eine Welt ohne das „Himmelsauge“ vor. Einfache Ergebnisse dieses Nachdenkens sind Thesen wie die Idee, dass unsere Raumfahrt durch das nahe „lockende Ziel“ gefördert worden ist. Aber abgesehen von seiner Wirkung auf Ebbe und Flut hat der Mond noch andere Effekte – und ich meine nicht den Monatszyklus der Frau. Der Mond ist der Spiegel der Sonne. Neben dem Rhythmus des Tages entsteht so ein zweiter Zeitlauf, der das Jahr in Stücke teilt. Der Monat, der Vollmond – das sind beobachtbare Faktoren, die uns einen Anhalt geben, wie man das Jahr in verwertbare und handhabbare Stücke teilen kann. Das heidnische Jahr orientiert sich am Mond, und es orientiert sich an den Gegebenheiten der Umwelt. Der Jahreskreis steht für Aussaat und Ernte, für Geburt und Tod, aber auch für das Verschwinden und die Wiederkehr des Lichts. Und dieses Licht, dass wir nicht umsonst schon in den frühsten Religionen mit dem Leben verbunden finden, ist es, dessen Wiederkehr wir erhoffen und feiern. Die Natur wächst und vergeht, das Licht des Mondes wächst und vergeht. Das Sonnenlicht unterscheidet sich von Tag zu Tag nur minimal, nur über den Jahreslauf hinweg ist die Veränderung zu beobachten. Der Mond verändert Licht und Größe in einfacher zu beobachtenden Abständen. Und vom vollen Rund hin zum lichtlosen Neumond bleibt immer kurz eine schmale Sichel am Himmel hängen, so wie das letzte Lächeln der Grinsekatze oder ein freundliches Grinsen der Gottheit im Sinne von „Ich komme bald wieder!“. Und wenn wir den Mond – wie es in vielen heidnischen Religionen der Fall ist – mit der Muttergottheit oder einfach dem weiblichen Aspekt der Gottheit gleichsetzen, dann bleibt für die Sonne nur noch der männliche Teil der Gottheit. Soviel Sinn diese Zuteilung auch manchmal machen mag, ein Kritikpunkt fällt mir doch ein. Ähnlich chauvinistischer Theorien könnte man hier den Mond analog nur als reproduzierend betrachten, während das Licht ursächlich von der Sonne ausgeht. So wie die Frau – glaubt man dem Frauenbild der letzten Jahrhunderte – nur wiedergeben, eben reproduzieren kann (hiermit war ausdrücklich auch die Schwangerschaft gemeint!) ist es der Mann, der erschafft und produziert. Ich denke mir manchmal, dass wir eines Tages in die Gefahr geraten könnten, diese Ansicht auch auf die Lichtparabel zwischen Sonne und Mond zu übernehmen. Deswegen sind für mich sowohl Sonne als auch Mond Möglichkeiten, den weiblichen und den männlichen Teil der Gottheit zu verehren – und das Licht ist ein Aspekt der Gottheit, aber eben ein besonders augenfälliger Aspekt, der es mir einfach macht, ihn zu erblicken. Und – um auf mein Denkmodell vom Anfang zurückzukommen – ohne einen sichtbaren Mond wären wir um viele wunderschöne Oden an den Mond ärmer. Und unzählige Liebespaare im Laufe der Geschichten hätten nicht gewusst, unter wessen Licht sie sich küssen sollen. Auch der arme Werwolf hätte uns mit seiner haarigen Bedrohung verschont – und das wollen wir doch nicht, oder? Der Mond soll bitteschön bleiben, was er ist: sichtbar. Und das nächste Mal, wenn ich ihn betrachte, dann werde ich mir überlegen, ob er das Licht der Sonne nur wiederspiegelt, oder ob er es nicht auch verändert. Denn Mondlicht ist anders – viel sanfter, und die Farben sehen unter dem Mond ganz anders aus als im gleißenden Schein der Sonne. Zum Glück, denn es wäre ja auch schade, wenn die Welt unter jedem Aspekt der Gottheit gleich aussehen würde.
Dein Homo Magi
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Urlaub
Lieber Salamander,
eigentlich bin ich ein großer Feind von Urlaub. Jahrelang habe ich mich davor gedrückt, zu verreisen. Das liegt an verschiedenen Faktoren. Auf der einen Seite verlasse ich ungern mein Studierzimmer mit meinen schönen Büchern, meinen Unterlagen und meinem Arbeitsplatz. Auf der anderen Seite ist das Verlassen der gewohnten Umgebung auch immer mit Aufwand verbunden – Koffer packen, Waschzeug suchen, Papierkrieg von Ausweis bis Fahrkarte. Und es gibt wenige Orte, die mich so fesseln, dass ich dort unbesehen wieder hin fahren würde. Also ist auch der Anreiz, die „Lockung der Ferne“ bei mir nicht sehr weit entwickelt. Außerdem habe ich viele Jahre lang studiert. Und böse Zungen behaupten, dass man als Student keinen Urlaub braucht, weil man das ganze Jahr frei hat. Nun, dem kann ich nicht zustimmen. Das ist wohl eher von der Frage abhängig, wie man studiert und was man studiert. Aber seit einigen Jahren bin ich das, was man im Volksmund als berufstätig bezeichnet. Und natürlich erwirbt man dann auch einen Urlaubsanspruch, den man ungern verfallen lassen will – oder sich den Ärger mit der Personalabteilung einhandeln möchte, weil man seinen Urlaub nicht genommen hat. So geht es mir auch im Moment. Ich „muss“ Urlaub nehmen, und ich habe mich auch breitschlagen lassen, Urlaub zu nehmen. Seit fast 20 Jahren fahre ich jedes Jahr auf das selbe Treffen von Fantasy-Fans. Nein, ich will jetzt hier keine Werbung machen und keine Namen nennen, danke. Aber zu erwähnen bleibt, dass es mir von Anfang an Spaß gemacht hat und auch weiterhin Spaß macht. Und so werde ich die Seele baumeln lassen, ein wenig faulenzen, ein wenig quatschen und ein wenig Blödsinn machen. Mal sehen, was mir so einfällt. Zelte habe ich schon viele Jahre nicht mehr aufgestellt, das ist dieses Jahr definitiv wieder „dran“. Und spazieren könnte ich mal wieder, ob alleine oder in der Gruppe. Und morgens ins Schwimmbad, noch vor dem Frühstück, und einige Runden schwimmen und dann laaaange duschen – gerne auch in männlicher Gesellschaft zwecks Geklöne beim Akt der Säuberung. Das sind doch alles Dinge, die wirklich zur Erholung beitragen. Ein gutes Buch (nein, heute mal keine Empfehlungen, sorry), vielleicht abends mal ein nettes Bierchen oder zwei. Muss auch nicht sein, ich kann die Zeit auch mit Wasser und Brause rumbringen. Bier ist ein nettes Getränk, wenn man dazu zum Beispiel Skat spielen kann. Ach ja, meine Skatkarten muss ich noch einpacken. Wer weiß, vielleicht finde ich ein paar „Gegner“. Und, lieber Salamander, mein Urlaub gibt Dir auch die Gelegenheit, festzustellen, dass ich trotz aller Dinge sicherlich nur ein Mensch bin. Ich werde genauso krank wie andere Menschen, ich habe genauso meine Fehler wie andere Menschen und ich bin manchmal genauso urlaubsreif wie andere Menschen. So wie heute. Dankbar kann ich nur dafür sein, dass die Natur im Sommer keinen Urlaub macht. Ich habe schon ziemlich viel Bock auf Sonne ...
Alles Gute, Dein Homo Magi
P.S.: Nein, ich schreibe Dir keine Karte. Du kennst mich doch. Aber vielleicht bringe ich Dir was mit; und wenn es nur ein Lächeln ist, das ich im Urlaub gewonnen habe. P.P.S.: Ich werde Dich vermissen. Das alleine ist doch schon den Urlaub wert, oder?
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Traditionen und Mäntel
Hallo Salamander,
wenn Du mich fragen würdest, über welches Thema in Bezug auf das Heidentum ich in den letzten Wochen am meisten nachgedacht habe, dann würde ich Dir antworten „über die unseligen Traditionen“. „Selig“ ist in diesem Zusammenhang nicht als christlicher Begriff zu verstehen, sondern ich verwende es ähnlich wie das Wort „heilig“ als Bezeichnung für etwas oder jemanden, der/die/das „im Heil steht“. Einige unpassende Umschreibungen dafür wären „am richtigen Ort zur richtigen Zeit“, „mit sich selbst im Reinen“ oder „im Lot“. Einfach etwas, das so wie es ist, richtig ist – und zwar nicht nur richtig nach den Maßstäben der Menschen, sondern auch richtig nach den Maßstäben der Gottheiten. Zurück zu meinem ersten Thema, den Traditionen. Ich bin schon einige Jahre in der heidnischen Szene unterwegs (denn eine Szene ist es, noch keine Bewegung oder Massenorganisation), und ich hatte in diesen Jahren mehr als eine Gelegenheit, mir verschiedene heidnische Glaubensgemeinschaften anzuschauen. Da waren die Menschen nordischen Glaubens; Asatru, wie sie sich oft selbst nennen. Da gab es Menschen, die sich selbst als Wicca bezeichneten – ob jetzt einzelne Hexen oder ganze Coven, ob größere Organisationen oder einfache Arbeitsgruppen, das war für das, was ich beobachten wollte, erst einmal egal. Dann gab es Menschen keltischen Glaubens, aber auch Freunde von indianischen Mythen, sibirische Schamanen und sogar Gläubige vor einem griechisch/römischen Hintergrund. Und wenn sich mehrere Heiden unterschiedlicher Herkunft treffen, dann unterhält man sich gerne über seine Religion. Und interessanterweise ist diese Religion nicht (!) das Heidentum, sondern man grenzt dieses kleine Gebiet (zumindest klein im Vergleich zum Glauben der Gesamtbevölkerung) noch einmal ab und unterscheidet zwischen verschiedenen Stücken oder Segmenten im Heidentum. Das ist doch so, als würde man die große Obsttorte, aus der das religiöse Bild unserer deutschen Gesellschaft besteht, teilen und sich mit einem Stückchen – dem Heidentum – beschäftigen. Und anstatt nun zu versuchen, Gemeinsamkeiten zu finden streitet das Stückchen Ananas mit dem Fitzel Sahne, und die halbe Erdbeere liefert sich einen Glaubenskrieg mit dem Schokoladenstreusel. Um in diesem Bild zu bleiben: Ich bin zwar nur eine halbe Erdbeere, aber die Grenze, die mich – zumindest in Glaubensdingen – vom Rest der Gesellschaft unterscheidet ist die heidnische Identität, nicht die genaue Farbe und Nuancierung meiner heidnischen Identität. Wir tragen das Heidentum wie einen Uniformmantel, auf dem auf bunten Spangen, Abzeichen und Aufnähern genau vermerkt ist, welchen Rang wir in welcher Tradition innehaben, welche mystischen Erfahrungen uns auszeichnen und wann wir mit welchem Meister oder welcher Lehrerin mal einen Milchkaffee geschlürft haben. Mir wäre es lieber, ich könnte – um wieder in einem Bild zu bleiben – einen verschlissenen alten Armeemantel tragen, von dem alle Zeichen abgetrennt sind; nur noch heraushängende Fäden künden davon, dass ich mal Abzeichen trug, die ich aber selbst entfernt habe. Der Mantel ist es, der mich auszeichnet. Ich bin Heide, und da ist es egal, ob ich Westheide, Südheide, Nordheide oder Ostheide bin. Wenn sich jemand für meine Glaubensdinge genauer interessiert: gerne! Aber ich will nicht eingeteilt und katalogisiert werden, weil ich einer bestimmten Tradition angehöre. Die Unaufgeklärtheit der Gesellschaft, die Dummheit der Menschen – das sind Ziele, gegen die sich zu streiten lohnt. Die Frage, ob ich heidnischer bin als mein Mit-Heide, die gehört nicht zu diesen lohnenden Zielen. Zerschlage das an den Traditionen, was Dich einengt, werter Salamander. Lasse nur das übrig, was den Wind Deines Geistes frei wehen lässt und was es Dir erlaubt, das zu sein, was Du im Grunde Deiner Seele bist – ein Mensch, der sich mit den Begriffen „magisch“ und „heidnisch“ selbst definiert.
Dein Homo Magi
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Internet
Hallo Salamander,
ich glaube, ich habe schon mehrmals erklärt, dass ich das Internet völlig überschätzt finde. Natürlich ist es richtig, dass man damit Informationen schneller austauschen kann. Man kann Dateien per Mail verschicken, sich an Diskussionsgruppen beteiligen und im Internet unter den obskursten Stichworten nach Informationen suchen. Und natürlich ist das gerade für Leute, die sich für Heidentum und/oder Magie interessieren, von Vorteil. Das Internet ist von Heiden scheinbar „durchsetzt“. Das ist eine Entwicklung, die auch schon vor einigen Jahren beim Zusammenhang Science Fiction-Fans und Internet sichtbar war. Das Internet ist voll von Leuten, die sich für phantastische Literatur oder Esoterik interessieren. Einen vernünftigen Erklärungsansatz dafür habe ich leider nicht zu bieten. Vielleicht ist es so, dass gerade ein doch etwas phantasieloser Job wie das Internet dazu führt, dass man sich in seiner Freizeit viel mit phantastischen Dingen beschäftigt. Oder die Beschäftigung mit Phantastik führt dazu, dass man sich einen Beruf sucht, der sturzlangweilig und „realistisch“ ist. Ich weiß es nicht. Auf jeden Fall ist es so, dass Heiden verstärkt im Internet präsent sind. Trotzdem glaube ich weiterhin, dass das Netz VÖLLIG überschätzt wird. Ich will drei Gründe nennen, warum ich dieser Ansicht bin – und sei es nur, um mit Dir darüber in eine Diskussion zu kommen.
1.) Das Internet bringt einen nicht dazu, Fragen zu stellen. Man muss die Fragen haben, bevor man die erste Seite im Internet öffnet – oder man ist verloren, weil man Antworten auf Fragen bekommt, die man noch nie in seinem Leben gestellt hat oder gar jemals stellen wollte. Und die Fragen sind es doch eigentlich, die in der herkömmlichen magischen Tradition jemand auf unseren Weg kommen lassen. Das „Woher?“ und das „Wohin?“ sind die Fragen, die sich uns stellen, wenn wir über unser (echtes) Leben nachdenken. Diese Fragen werden vom Internet nicht unterstützt.
2.) Das Internet erschafft keine neuen Erfahrungen. Die Reproduzierbarkeit der Erfahrung nimmt dank technischer Hilfe zu, aber neue Erfahrungen werden nicht generiert. Natürlich kann ich für mich neue Dinge sehen, wenn ich in das Netz gehe – aber das sind Erfahrungen aus zweiter Hand, Zeugnisse der Erfahrungen anderer Menschen, die in einer bestimmten technischen Form gespeichert und weitergegeben werden. Die eigene Erfahrung sollte es aber sein, die mich beim Lernen voranbringt – ich muss lernen, meinen Wahrnehmungen zu trauen, und das kann ich nicht, wenn ich nur über fremde Wahrnehmungen nachdenke. Das Internet ist eine Art riesiges magisches Auge, ein großer magischer Spiegel mit Millionen von Facetten. Doch ich sehe nicht ein Bild, sondern unendlich viele Bilder – und es ist schwierig, den Blick zu fokussieren, wenn ich nicht vorher genau weiß, was ich sehen will – und hier hinkt der Vergleich mit dem magischen Spiegel, denn der magische Spiegel verlängert mein Auge, während das Internet mich durch die Augen anderer Menschen sehen lässt.
3.) Das Internet zeigt keine Gefühle. Und das Zeigen von Gefühlen ist es, was Menschen näher bringt. Ich kann über das Netz Leute kennenlernen – aber wenn ich mit ihnen eine Weile Kontakt hatte, dann kommt in mir der Wunsch auf, sie von „Angesicht zu Angesicht“ zu treffen. Aber wenn ich Leute treffen will – warum muss ich als „Durchlauferhitzer“ das Internet davor schalten? Würde es nicht einfach ausreichen, eine Kontaktanzeige aufzugeben oder einfach einen Abend in eine Kneipe zu gehen?
Salamander, ich weiß, dass Du mich wegen meiner Kommentare für blauäugig halten wirst. Dann sei doch bitte so gut, und nimm Dir eine halbe Stunde Zeit und denke über das nach, was ich geschrieben habe. Und dann, und wirklich erst dann darfst Du mir eine Antwort formulieren. Ich bin sehr neugierig ...
Alles Liebe, Dein Homo Magi
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Herbst
Hallo Salamander,
in wenigen Tagen beginnt er wieder: der Herbst. Komisch eigentlich. Ich mag den Sommer sehr gerne, bin ein Freund von lauschigen Temperaturen im Freien, sitze gerne bis 2.00 oder 3.00 Uhr morgens draußen bei einem Kaffee oder Bier und rede bis in die Nacht hinein, während die Sterne am Himmel über mir blitzen. Aber der Herbst, ach, das ist die Jahreszeit, die meine Seele am meisten anspricht. Warum? Diese Frage kann ich Dir nicht so einfach beantworten. Drei unterschiedliche Antworten kann ich bieten. Eine ist poetisch, eine ist magisch, eine ist heidnisch. Beginnen wir mit der poetischen Antwort.
Der Herbst ist die Jahreszeit der Farben. Zu keiner anderen Zeit des Jahres nimmt der Wald so unterschiedliche Farbtöne an wie im Herbst. Im Frühling ist alles grün und saftig, im Sommer ist alles bunt, im Winter ist alles weiß. Der Herbst ist es, der farbig ist. Und zwar nicht in dem Sinne, in dem man den Sommer vielen Farben zuordnet. Im Sommer sind alle Farben kräftig, so als hätte ein Kind aus einem gigantischen Malfarbkasten alle Pflanzen mit hellen Farben bemalt. Der Herbst ist es, wo die Farben gemischt sind – gedeckt, gefleckt, manchmal auch in eigenartigen Kombinationen gemischt. Der Wald verwandelt sich in ein Kaleidoskop von Farben, und während die Blätter von den Bäumen fallen kann man von Woche zu Woche die Farbverschiebung des Waldes beobachten. Und nasses Laub riecht fast so gut wie frischgeschnittenes Gras.
Der Herbst ist die Jahreszeit des Windes. Im Sommer weht mal ein kühles Lüftchen, oder es kracht richtig, und ein Gewitter stürzt herunter. Der Winter bringt den Schnee und den kalten Wind, der Frühling ist eher ein Freund der Brise. Es ist der Herbst, in dem der Wind zu seiner vollen Kraft erwacht. So, als hätte er den Rest des Jahres in Ruhe – von einigen großen Ausnahmen abgesehen – verbracht, erscheint er jetzt, um durch alle Winkel des Landes zu wehen. Früher habe ich mir immer vorgestellt, dass er vor dem Ende des Jahres alle Winkel des Landes bereist, um am Ende Kunde abgeben zu können über das, was er gesehen hat. Dieses doch sehr kindliche Bild habe ich mir bis heute behalten. Ich arbeite gerne mit dem Element Luft, weil es für mich Gedanken und Bilder repräsentiert. Der Wind ist der ideale Bote, um Geschichten zu erzählen. „Der Wind hat mir ein Lied erzählt“, singt der Schlager unwidersprochen. Und ich benutze die Winde gerne als Melder, als Boten, als Bringer von Nachrichten und Verbreiter der Post. Sie ziehen vom Ende der Welt zu uns und kehren zurück. Und während sie wehen, wispern sie miteinander und mit der Welt. Klatschbasen sind sie, die Winde. Man muss nur lernen, dafür zu sorgen, dass sie für einen statt gegen einen arbeiten, dann hat man gewonnen. Salamander, Du wirst Dich jetzt fragen „Spinnt er jetzt endgültig?“, weil ich hier Dinge verrate, die ich in der Magie anwende. Ich kann Dich beruhigen. Nur weil man etwas über den Wind weiß, wird man es nicht unbedingt anwenden. Die meisten meiner Kollegen sind paranoid, misstrauen meinen Tipps allein deswegen, weil ich sie freiwillig gebe. Und den Wind kann man nicht zu seinem Willen zwingen, man kann ihn nicht beherrschen. Er ist nicht in einer Hand zu fassen, so wie ein Stück Fels zu fassen ist. Und man kann ihn nicht einsperren, so wie man Wasser einsperren kann. Und er ist nicht im selben Maße einfache Energie, so wie das Feuer einfache Energie ist. Der Wind ist – nun ja – anders. Er lässt sich nicht beherrschen, man kann ihn nur dazu bringen, mit einem zu kooperieren. Und da kann ich schreiben und reden, soviel ich will – „Der Wind weht, wo er will!“ Und so viele Erklärungen ich auch abgebe, ich würde den Wind nicht dazu bekommen, mit jemandem zu arbeiten, den er nicht leiden kann. Also sind meine Worte zwar gezielte Indiskretionen, doch für den, der den Wind nicht „in sich“ hat, von wenig Nutzen.
Der Herbst ist auch die Jahreszeit der Veränderung. Ich weiß, dass klingt nach den Eröffnungen zu den beiden ersten Punkten schrecklich banal. Aber für mich ist es eben der „wind of change“, der „Wind der Veränderung“, der im Herbst durch unsere Häuser bläst und mit sich neue Ideen und neue Möglichkeiten bringt. Zu Samhain endet, dem allgemeinen Glauben der Heiden nach, das Jahr – welche Zeit wäre dann besser für ein Umdenken geeignet als die Wochen und Monate davor? Die wilde Jagd reitet zwischen den Jahren, wenn man der Sage glauben schenken kann. Die Raunächte sind zwischen Weihnachten (Wintersonnenwende, um im heidnischen Bezugsrahmen zu bleiben) und dem Fest der heiligen drei Könige (der 6. Januar). Aber mir war schon als Kind klar, dass die wilde Jagd irgendwann zusammengestellt werden muss. Ich glaubte nicht an die Geschichten von reitenden Toten, den „ghost riders in the sky“, aber ich glaubte daran, dass „Irgendetwas“ in den Wolken reitet und Veränderung bringt. Wenn der Himmel sich abends rot färbt, wenn der Wind um das Haus bläst und an den Rollläden schüttelt, wenn sich Samhain nähert und ich mir darüber Gedanken mache, was ich dieses Jahr verabschieden will – welche Zeit des Jahres wäre besser dafür geeignet, sich noch einmal mit den Möglichkeiten einer Veränderung zu beschäftigen als diese?
Alles Liebe, Dein Homo Magi September
Verschollene Orte
Hallo Salamander,
eigenartigerweise sieht man sie immer wieder: Straßenschilder, auf denen Namen ausgestrichen oder übermalt worden sind. Immer wieder frage ich mich, was mit den Orten geschehen ist, die früher auf diesen Schildern standen? Oder nähern wir uns dem Problem mal von der anderen Seite. Orte wechseln relativ selten ihren Platz in der Geographie. Ab und an wird mal ein Ort wegen einer Tagebauförderung verlegt, und ebenso selten müssen Orte Talsperren weichen. Vielleicht wird ein Ort auch aufgegeben, weil alle Leute wegziehen oder der letzte Einwohner verstirbt. Eine Tagebauförderung gibt es bei mir in der Gegend nicht, und auch wenn ich wo anders unterwegs bin, glaube ich eigentlich, dass ich ganz gut weiß, ob hier entsprechende Orte zu finden sind. Talsperren sind an die Existenz von Flüssen gebunden – und in der Nähe meiner Heimatstadt gibt es kein Gewässer, das den Namen Fluss verdient hätte. Und Bäche aufzustauen macht ökonomisch wenig Sinn – und außerdem verschwinden dann als Folgeerscheinung selten ganze Orte von der Karte. Und wenn man unterwegs ist, dann langt ein einfacher Blick auf die Straßenkarte, ob eine Talsperre in der Nähe ein ausreichender Grund für ein übermaltes Schild ist. Der dritte Grund ist ein wenig realistischer. Man kennt diese offengelassenen Siedlungen spätestens seit dem Mittelalter, wo Kirchsprengel geräumt werden, wenn der Boden nicht mehr genug hergab oder andere Siedlungsgründe verlockender waren als der Platz, auf dem man gerade die ersten Häuser gebaut hatte. Kriege und Epidemien führten dazu, dass Orte verwaisten. Aber heute sind die Orte wesentlich „stabiler“. Man verrückt nicht einfach eine Siedlung samt Kanalisation, Stromversorgung und Straßennetz. Und auch Kriege und Epidemien sind für meine Wohngegend und die letzten vierzig Jahre eher auszuschließen. Warum verschwinden dann Orte? Ich will ein paar Argumente ausschließen, die man mir sicherlich erst einmal entgegenschleudern würde, bevor man mir in Ruhe zuhört. Erstens: Ich bilde mir das nur ein. Leider muss ich mitteilen, dass ich das Phänomen schon seit vielen Jahren beobachte und nicht (!) den Eindruck habe, dass ich mir das einbilde. Es gibt diese „korrigierten“ Schilder, und es gibt sie nicht nur auf Landstraßen, sondern auch auf Autobahnen. Zweitens: Orte werden umbenannt, und daher müssen die Schilder geändert werden. Mir sind außer einigen Umbenennungen in der ehemaligen DDR und der Schaffung von neuen Orten im Rahmen der Gebietsreform der 70er Jahre keine Gründe bekannt, warum eine Siedlung umbenannt werden sollte. Und: Wenn der neue Name auf dem Schild der bekannte Name ist (z.B. „Leipzig“), wie muss dann der alte Name geheißen haben, der geändert worden ist? Mein Vorschlag lautet dann auf „Primpf“ oder „Klutzbeckhausen“, aber an diese Varianten kann sich dann auch keiner erinnern. Drittens: Die Schildern wurden verändert, weil man jetzt eine andere Straßenführung vorzieht. Wenn also vorher die beste Abfahrt nach Gurkenhausen über Erbsenheim ging, und durch den Bau der Umgehungsstrasse jetzt die Strecke via Ober-Kartoffel kürzer ist, dann macht es schon Sinn, die entsprechende Beschilderung zu ändern. Aber ob es daher Sinn macht, das Schild sozusagen halb zu recyceln und – nach der Streichung von Textteilen – den Rest unverändert stehen zu lassen? Wäre dann nicht die Neuanschaffung des Schildes die bessere Idee? Und selbst wenn man einen Teil der Schilder behalten müsste (in diesem Fall das Schild Ausfahrt Erbsenheim), wo bleibt dann das neue Schild an der entsprechenden Straße (im entsprechenden Beispiel das Schild Gurkenhausen via Ober-Kartoffel)? Die Wahrheit ist, wie üblich, schwer zu begreifen. Ich habe viel Spaß bei der Beobachtung „meiner“ Schilderfälschungen. Vor langen Jahren habe ich mal eine Geschichte gelesen, in der ein Computer mit den Daten über die Erde gefüttert wurde. Und dann sollte er – auf eine irre Idee des Programmierers hin – herausfinden, ob es vage Erinnerungen an Orte gibt, die absichtlich aus unserer menschlichen Erinnerung verdrängt worden sind. Der Computer rechnete eine Weile lang und antwortete dann: „Ja, Chikago!“ Daraufhin lachten sich die anwesenden Programmierer tot, denn es sei doch unwahrscheinlich, dass man eine Stadt mit einem solchen Namen vergessen könnte ... Na ja, vielleicht ist Atlantis auch erst von den Verkehrsschildern gelöscht worden. Oder die Zeitzwerge, die jeden Morgen die Kulisse für einen weiteren Tag auf der Erde aufbauen, haben mal wieder die Kulissen für einen Ort aus Versehen zerstört und müssen jetzt dringend den entsprechenden Ort aus dem Tourprogramm werfen. Oder eine außerirdische Macht versucht seit Jahren, mit mir über scheinbar unbeschriebene Verkehrsschilder zu kommunizieren – bei Steve Martin kriegt man im Film wenigstens noch lesbare Informationen geliefert. Ich weiß es nicht; ich habe auch keine benutzbare Theorie. Meine einzige verwertbare Behauptung ist die, das es mehr Rätsel gibt, als wir uns träumen lassen. Einige davon sind auch kindisch, das mag sein. Und Du wirst auch über mich lachen – bis in einem Depot entlang der Autobahn die alten Verkehrsschilder auftauchen, auf denen dann Dinge stehen wie „Lemuria – 26 km“.
Dein Homo Magi
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Entrümpeln
Lieber Salamander,
manchmal bin ich wirklich überrascht, was man alles so findet, wenn man eine Wohnung entrümpelt. Kuscheltiere, von denen man nicht mehr genau weiß, wann man sie für wen angeschafft hat. Bücher mit Widmungen, in die man seit dem Tag, an dem man sie geschenkt bekommen hat, nicht mehr hineingeschaut hat. Kleine Keramikfiguren, die man irgendwann mal schrecklich süß fand, und die jetzt als Staubfänger in einem Regal stehen. Für Bücher gilt das noch viel stärker. Schöne Bildbände, billige Bestellungen, interessante Titel – man stellt sie in das Regal, schaut vielleicht am Tag des Kaufes mal kurz hinein und wartet dann darauf, dass der eigene Berg von ungelesenen Büchern so klein wird, dass man auch diese „Schätze“ lesen kann. Doch selten hat man Glück. Wahrscheinlich gibt es stapelweise ältere Magier, die ihrer erschrockenen Familie ihre Bücher hinterlassen – gelesene wie ungelesene. Für das Rollenspiel „Call of Cthulhu“ gab es mal ein Szenario, in dem die Spieler damit beauftragt waren, einen Ghoul zu jagen, der in einem Friedhof hauste. Es stellte sich dann heraus, dass der Ghoul ein verstorbener Bücherliebhaber war, der jetzt sein Untotendasein dazu nutzte, all jene Bücher zu lesen, die er in seinem Leben nicht lesen konnte. Wer von uns Bücherliebhabern traut sich dabei den ersten Stein zu werfen bzw. den armen Ghoul vom Untoten in einen Toten zu verwandeln? Und bei „Twilight Zone“ gab es eine Episode, wo nur der schwächliche brillentragende Bücherwurm den Atomkrieg überlebt – um endlich allein mit seinen geliebten Büchern zu sein. Und dann zerbricht seine Brille ... Aus dem oben gesagten kann man hoffentlich entnehmen, dass ich Bücher liebe. Eine Aufräumaktion bringt bei mir immer einige Dinge zutage, die ich beseitigen kann. Uralte Hosen, durchgescheuerte Pullover, ein paar Stofffiguren und wenn alles gut läuft noch ein eigenartiges Stück Keramik, das nach drei überlebten Umzügen jetzt endlich den Weg alles Vergänglichen gehen muss. Aber Bücher – nein, Bücher beseitige ich nur sehr ungern. Ich bin auch immer willig, mir neue Bücher zu kaufen – wobei sich das Wort „neu“ hier nur darauf bezieht, dass sie „neu“ in meiner Wohnung sind, denn die wenigsten Bücher kaufe ich wirklich zum Ladenneupreis. Warum sollte ich auch? Das Angebot in Antiquariaten und auf Flohmärkten ist reichhaltig. In den Antiquariaten meiner Heimatstadt kennt man mich, man weiß, dass ich mich schon bei den Mitarbeitern melde, wenn ich eine Frage habe – und bis dahin kann ich unbehelligt in den Regalen herumwühlen und mich durch Berge von alten und älteren Büchern fräsen. Auf Flohmärkten habe ich es mir angewöhnt, zwei Touren zu machen. Eine in der Nacht vor dem offiziellen Start des Flohmarkts oder am frühen Morgen. Dann kann ich in aller Ruhe über Bücherpreise schachern und mir das Angebot anschauen. Tagsüber gehe ich dann noch einmal mit meiner Familie über den Flohmarkt. Aber hier liegt der Schwerpunkt dann aus verständlichen Gründen nicht mehr im Bereich von Büchern, sondern hier geht es dann auch um Kinderspielzeug etc. Aber Bücher – Büchern kann ich irrsinnig schwer widerstehen. Sie wirken fast magisch auf mich. Das Wissen vergangener Zivilisationen, gespeichert zwischen Buchdeckeln. Ah! Ich fräse mich durch viele Bücher durch, doch die meisten lese ich nur an, um dann nach 20, 30 oder gar 100 Seiten festzustellen, dass ich nicht angetan bin. Und umso mehr ich lese, desto schwerer ist es, mich zu begeistern. Nur ein Beispiel: Nachdem ich fast zwanzig Jahre lang alles gelesen habe, was an Science Fiction Rang und Namen hat, bin ich jetzt dazu übergegangen, zwischendurch mal immer wieder einen Krimi zu lesen. Es ist ganz nett, mal in ein Genre hineinzuschauen, in dem man (noch nicht?) den Eindruck hat, klar erkennen zu können, welcher Roman kolportiert worden ist. Ist auch mal eine Abwechslung. Und dann diese wunderbaren Bildbände, die Geschichtsbücher, die Gedichte. Das Wegwerfen von Büchern fällt mir schwer, obwohl ich immer auch mal Bücher in die Hand bekomme, die von Pilzen befallen oder einfach in Auflösung begriffen sind. Aber manchmal raffe ich mich dann doch auf, und die schlimmsten Vertreter ihrer Gattung landen im Müll. Und die Bücher, die zu gut für den Müll aber zu schlecht für meine Sammlung sind, die führe ich zurück in den Bücherkreislauf ein. Einige wandern in Antiquariate, andere auf Flohmärkte oder Basare. Man soll ja nichts verkommen lassen. Und vielleicht kann ich so irgendwann mal einen anderen Leser glücklich machen ...
Dein Homo Magi
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Passende Worte zur eigenen Magiebeschreibung
Hallo Salamander,
Du hast mich gefragt, wie ich das beschreiben würde, was ich an Magie betreibe. Ich muss Dich enttäuschen: Mir fehlt das passende Wort. Andere Kollegen behängen sich mit Titeln – sei das jetzt „Exorzist“, „Feng-Shui-Fachmann“, „Reiki-Meister“, „Magier“ oder „Herr der dunklen Künste“. Auch fremde Sprachen werden gerne benutzt, um sich selbst mit einer Bezeichnung zu versehen. Das einzige, was ich bieten kann, ist eine obskure Wortkombination, die ich aus dem Lateinischen geklaut habe: Homo Magi. Und das sagt nicht viel mehr aus als „magischer Mensch“. Ich war immer schon kein Freund von Etikettierungen, und von daher bin ich immer verzweifelt bemüht, mir die Aufkleber vom Revers zu ziehen – was mich aber nicht daran hindert, anderen Leuten voller Freude selbst Aufkleber auf das Revers zu kleben, wenn sie anfangen, mich Gruppen zuzuteilen. Nein, ich kann keine Kurzbeschreibung liefern. Aber ich kann Dir eine Geschichte liefern.
Es gab mal ein kleines Dorf mit etwa zwanzig oder dreißig Hütten. Dieses Dorf hatte ein großes Problem: Ein gewaltiger Teil seiner Ernte, das größte Schlachttier des Dorfes und mindestens ein Heuschober wurden jedes Jahr das Opfer eines großen, roten Drachens, der immer zum Erntedankfest aus dem Himmel auf das Dorf herunterstieß und sich seine Gaben holte. Die Dorfbewohner wussten nicht, wie sie das Problem bekämpfen sollten. Doch sie hatten über das Jahr hinweg etwas Geld zurückgelegt. Und mit diesem Geld stellten sie sich vor den Schulzen des Dorfes und baten diesen, sich um eine Rettung für das Dorf zu kümmern. Dieser Schulze nun wusste, dass nur mit Magie dem Drachen zu begegnen war. Und so musste er sich mit den beiden einzigen Quellen für magische Hilfe auseinandersetzen, die es in seiner Nähe gab. Und er holte Erkundigungen ein, und schon nach wenigen Tagen wusste er, zwischen welchen Angeboten er sich entscheiden konnte. In jeweils etwa vier Tagesreisen Entfernung vom Dorf gab es im Norden und im Süden des Dorfes einen Magier. Beide waren vom selben Meister ausgebildet worden, beide waren ungefähr gleich alt und galten als gleich mächtig. Der eine von beiden lebte an der Küste des Meeres. Er bewohnte einen hohen, fast fensterlosen Steinturm, sicherlich höher als fünf Männer, die aufeinander stehen. Er lebte dort fernab von jeder menschlichen Niederlassung am Ende der Straße, die zur Küste führte. Und doch berichten Schiffer und Schäfer, dass sie ihn gesehen hätten. Sie berichten von bunten Lichtern, die nachts aus den Fenstern des obersten Stockwerks dringen. Sie sprechen von farbigen Flammen, die manchmal aus der Spitze des Turmes schießen. Sie sprechen von eigenartigem blauem Feuer, das sich manchmal über dem Dach des Turms zu schlängeln scheint. Aber dieser Magier war nicht unfreundlich oder unhöflich, er suchte nur die Gesellschaft der Menschen nicht. Aber für eine rechte Bezahlung war er bereit, den Menschen zu helfen. Der andere Magier lebte im Inneren des Landes. Sein Haus stand am Rande einer kleinen Siedlung. Doch in seinem Haus war er selten anzutreffen. Tagsüber saß er – soweit das Wetter es zuließ – in seinem Garten und las oder bearbeitete sein Blumenbeet, das neben den bekannten Blumen auch einige exotische Blumen von strengem Geruch und seltener Farbe beherbergte. Abends war er oft im kleinen Gasthaus des Ortes anzutreffen. Hier trafen sich die Arbeiter nach der Feldarbeit, aber auch einige Schreiber und Händler aus der nahen Stadt machten hier Station auf ihren Reisen durch das Land. Der Magier saß hier, trank, redete, sang oder spielte Karten. Man sah ihn nur selten zaubern. Manchmal erfreute er die Kinder mit kleinen Kunststückchen, oder er heilte eine Kuh oder bezauberte einen Acker, mehr Frucht zu geben. Auch er war für eine angemessene Zahlung bereit, Aufträge anzunehmen.
Salamander, wenn Du der Vogt des kleinen Ortes wärest, der sich gegen den Drachen zu erwehren hat – welchen von den beiden Magiern würdest Du wählen? Und, mal ehrlich: Ist eine solche Geschichte nicht besser als ein Titel oder eine Bezeichnung, die doch nur leer ist ohne das gelebte Beispiel?
Alles Liebe, Dein Homo Magi
P.S.: Für einen längeren Brief blieb leider heute keine Zeit. Ich bin zum Kartenspielen verabredet ...
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Gedanken zum Ende des Jahres
Hallo Salamander,
komisch, wie schnell die Zeit verfliegt. Eben noch fing ich damit an, Dir jede Woche einen Brief zu schreiben. Und auf einmal ergibt ein Blick in meinen Kalender die Erkenntnis, dass in wenigen Wochen das „magische Jahr“ vorbei ist, das ich mir selbst als Zeitrahmen gesteckt hatte. Und ich frage mich in einem ersten Rückblick nicht, was sich in Dir verändert hat. Komisch eigentlich, wo es doch mein Ziel war, Dir etwas über Dich, mich und die restliche Welt beizubringen – soweit man etwas dadurch beibringen kann, dass man Dinge einfach aus der gewohnten Umgebung herausnimmt und sich etwas genauer anschaut. Ich wollte auch nicht als erstes wissen, was sich in mir verändert hat. Es ist sehr die Veränderung der Beziehungen zwischen uns beiden, die mich interessiert. Freundschaften sind eine Art Hypothek auf die Zukunft. Man ist bereit, Gefühle zu investieren, obwohl man in der Zeit der bisherigen Freundschaft nicht immer dafür einen Ausgleich bekommen hat. Man erzählt Dinge über sich, tut Dinge, weil man das Gefühl hat, der oder die andere ist ein Freund, ein Mensch, der einem nahe steht. Und in solchen gegenseitigen Freundschaftsverhältnissen zählt nicht, ob man genauso viel gegeben hat, wie man genommen hat. Es geht eher darum, ob man bereit war, das Geben und Nehmen so hinzunehmen, wie es kam. Manchmal gewinnt man, manchmal verliert man. Aber man hat einen Freund bzw. eine Freundin. Dies ist ein anderes Verhältnis als das in einer Beziehung! Ich will nicht behaupten, dass ich hier über Beziehungen spreche. Ich schreibe über Freundschaften zwischen Menschen, die sich gerne haben, mögen, aber keine Liebe füreinander empfinden. Eine Ausbildung ist normalerweise nicht dafür gedacht, Freundschaften zu entwickeln. Sind wir mit unseren Schullehrern befreundet gewesen? Pflegen wir den Kontakt noch nach dem Ende der Schulzeit? Wollten wir Dinge von ihnen, die in den Bereich Freundschaft gehören, oder war unsere gegenseitige Beziehung noch von Pflicht und Aufgaben geprägt? Mögen wir unsere Chefs? Alle diese Fragen kann man mit „Nein“ beantworten, denn Freundschaften und Hierarchien widersprechen sich. Aber eine Unterhaltung über Magie – oder einfach: über jedes Thema – muss man nicht als Lehrer-Schüler-Verhältnis führen, mit einer Seite, die Wissen gibt und einer Seite, die Wissen nimmt. Die besten Lehrer-Schüler-Verhältnisse sind doch die, bei der beide Seiten profitieren. Man erklärt etwas, doch man lauscht auch der Diskussion. Man zeigt etwas, doch man schaut auch auf die anderen Möglichkeiten, Dinge zu sehen. Schüler sind wie Kinder, sie hinterfragen alle angestammten Muster und geben uns damit auch die Möglichkeit, Muster zu überdenken und gegebenenfalls zu durchbrechen. Ähnlich würde ich es auch für das Verhältnis zwischen uns beiden benennen. Ich habe versucht, Dir etwas zu erklären. Doch über die Fragen, die Du mir gestellt hast, und über die Unterhaltungen, die wir über Deine Fragen und meine Antworten geführt haben, habe ich eine neue Welt erblicken dürfen: Deine Welt. Und in dieser Welt sind viele Dinge anders als in meiner Welt. Und ich habe mich dazu entschlossen, im Laufe dieser Zeit ein paar meiner Standpunkte zu verändern oder ganz aufzugeben – entweder, weil mir Dein Standpunkt sinnvoller erschien, oder weil ich glaube, dass weder Dein Standpunkt noch mein Standpunkt richtig sind, und wir versuchen müssen, einen neuen Standpunkt zu finden. Und vielleicht ist es genau dieser Austausch, der – wenn richtig und ernst gemeint durchgeführt – dazu führt, dass man nicht in ein hierarchisches System hineinfällt, sondern doch immer wieder eine gemeinsame Ebene herstellen kann. Eine thematische Ebene, die ohne ein Gefälle auskommst. Diese Ebene ist es, die uns beiden am meisten bringt. Auf dieser Ebene habe ich Dich gezwungen, ein paar Hypotheken auf die Zukunft aufzunehmen. Und auch ich musste manchmal über meinen Schatten springen und Dinge tun, die ich normalerweise nicht tun würde. Aber ich glaube, dass dieser ganze Aufwand sich lohnt, wenn ein Gefühl der gegenseitigen Achtung entstehen konnte. Und wenn aus diesem Gefühl im Lauf der Zeit mehr wird, gar Freundschaft, dann bin ich sehr zufrieden. Nein, nicht nur zufrieden, glücklich fast.
Ich danke Dir, Dein Homo Magi Oktober
Magier und Priester
Lieber Salamander,
es ist doch oft so, dass man eigenartigerweise auf Dinge gedrängt wird, die man selbst verdrängt hat. Meine Gedanken über den Zusammenhang und Unterschied zwischen Magie und Priestertum waren mal wieder an einem toten Punkt angelangt, als ich in einem Buch (und zwar an einem Ort, wo man es nicht vermuten würde) folgendes Zitat fand: „Theurgie ist das Werk eines Gottes, ein Theurg aber ist jemand, der mit Gott ‚arbeitet‘. Ein Zauberer bannt Geister, ein Theurg überredet sie.“[3] Dieses Bild gefällt mir gut. Es bezeichnet den Unterschied zwischen Magie und Priestertum einmal aus einem anderen Winkel. Ich selbst sehe den Unterschied gerne in der Wirkrichtung. Ein Magier beeinflusst die Magie der Welt, zwingt ihr seinen Willen auf. Der Priester lässt die göttliche Energie durch sich fluten, er ist nicht zuständig für das Zustandekommen oder Binden der Energie – sie ist einfach da. Und er kann die Energie eigentlich nur durch sich hindurchleiten und versuchen, auf ihre Wirkung Einfluss zu nehmen – einen echten Einfluss hat er nicht. Bitte verzeihe mir, wenn ich eben „Priester“ geschrieben habe, obwohl in heidnischen Kreisen die Priesterin die üblichere Form sein dürfte. Aber um keine in meiner Erklärung nicht vorhandene Differenz männlich-weiblich einzubauen, hätte ich als Alternative Magierin und Priesterin schreiben müssen – und das erschien mir doch als etwas übertrieben. Natürlich liegt dies auch daran, dass unsere Sprache gewisse Bilder nicht zulässt – aber das geht für meinen momentanen Ansatz hier etwas zu weit. Der Priester in der oben genannten Definition (ich behaupte einfach einmal, dass das schöne Wort Theurg hier dem entspricht, was ich mit Priester bezeichne) geht mit der Energie ähnlich gut um. Es ist der Unterschied zwischen bannen und überreden, der oben herausgearbeitet wird. Im einen Fall ist es die Auseinandersetzung zwischen der Energie und unserem Willen (ausgedrückt durch das Wort bannen, das Assoziationen an Bannkreis und Bann weckt), im anderen Fall ist es das Wort überreden, das eher einen Verhandlungscharakter zwischen der magischen Energie und dem Priester andeutet. Vielleicht ist es wirklich so – die Energie, welche der Theurg (um dieses Wort einmal selbst zu verwenden) beeinflussen kann, ist von ihm unabhängig. Sie hat eigene Werte und Ideen, verfügt über eine Art moralische Initiative. Der Einfluss des Priesters erstreckt sich also eher auf den Bereich vor der Anrufung, in dem er festlegt, welchen moralischen Vorstellungen er selbst anhängt. Dieser Überlegung folgend kommt dann die Beschwörung/Anrufung, welche – wenn richtig gewirkt – dazu führt, dass eine Energie/Entität/Wesenheit erscheint, welche die vorher formulierten Wertkriterien teilt. Die Magie ist eine Energieform, die vom Magier beeinflusst werden kann. Der Einfluss des Magiers kann also gewirkt werden, ohne dass man sich vorher – in welche Richtung auch immer gehende – Gedanken über ein ethisches Konstrukt macht. Daher glaube ich, dass Ethik und Moral für den Magier wichtiger sind als für den Priester.
Aus diesem Grunde, und um ein paar Bewertungsmaßstäbe einzuführen, die ich selbst für wichtig halte, hier meine eigene Vorschlagsliste für Grundregeln: 1. Tue nur, was Du wirklich willst, wenn Du GROSSE Magie wirkst. Finde heraus, was Du willst, bevor Du handelst. 2. Wenn Du Leute verletzt, dann kann es sein, dass irgendjemand Dir dafür weht tut. „Du kriegst dreifach zurück ...“ ist ein alter Sinnspruch der Magie, der einen wahren Kern enthält. 3. Schutzbedürftige (Behinderte, Kinder etc.) sind tabu. 4. Tote sind tot. Was wir beschwören können, sind nur Schatten, Erinnerungen, Schemen – Finger weg vom richtigen Tod! 5. Halte Deine Freundschaften. 6. Beeide nichts, dessen Du Dir nicht sicher bist. Tausche nur Blut, wenn Du es wirklich willst. 7. Es gibt eine Gottheit.
So, ich hoffe, ich habe Dir etwas zum Nachdenken gegeben.
Alles Gute, Dein Homo Magi
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Carmina Burana
Hallo Salamander,
letzte Woche war ich in einer Ballett-Aufführung. Du weißt, dass ich kein sehr großer Freund dieser Kunstform bin. Im Fernsehen denke ich bei Ballett – wohl nicht ganz zu Unrecht – immer an das Fernsehballett, das bei „Zum blauen Bock“ durch die Sendung geisterte. Und natürlich hat mir auch die Fernsehserie „Anna“ ein bestimmtes Bild vom Ballett in mein Gehirn eingemeißelt. (Womit wieder einmal bewiesen wäre, dass Fernsehen nicht gut für das Gehirn ist.) Aber letzte Woche war das anders. Wenn ich unterwegs bin und die Gelegenheit habe, in schönen Häusern Ballett zu sehen, dann nutze ich die Gelegenheit auch. Vor vielen Jahren erging es mir so in Warschau, wo ich die Gelegenheit hatte, den „Feuervogel“ zu sehen. Jetzt war es wieder eine osteuropäische Metropole, nämlich Budapest. Und hier war es die „Carmina Burana“ von Orff. In kurzen Worten: Ich war begeistert. Die Musik kam zwar vom Band, aber es war eine sehr energetische Aufnahme, die uns da geboten wurde. Latein kann auf verschiedene Arten gesungen werden. Eine Möglichkeit ist eher getragen, so wie im Kirchenlied. Hier wurde Latein aber voller Inbrunst gesungen. Und es verwandelte das Stück wirklich in Zaubersprüche, in die Anbetung von Schicksal und Liebe. Das Ensemble tat sein Möglichstes, um diesen Anspruch zu untermauern. Die Bühnendekoration war einfach, fast schlicht – ein paar Holzbänke auf Strohboden, die Wände dunkel abgehängt. Auf der Bühne stand anfangs nur ein Gegenstand, ein altertümlicher Gong. Dazu kamen ein Brunnen in der hinteren Ecke samt einigen metallenen Waschschüsseln. Und mit diesen Gegenständen zauberten die Tänzerinnen und Tänzer mit ihren Bewegungen ein faszinierendes Wechselspiel zwischen Freude und Trauer auf die Bühnenbretter. Nun, ich hatte Glück im Unglück. Eigentlich war ich spät gekommen und hatte nur noch eine Karte ganz vorne erhalten: Platz 1, Reihe 1. Aber dafür war ich ganz nahe im Bühnengeschehen, hatte immer wieder das Gefühl, die Darsteller berühren zu können. Und vielleicht war das auch Teil der Faszination, die davon ausging. Ich war Teil der Handlung, weil es direkt vor mir dargestellt wurde. Die Kunst war keine Konserve aus dem Fernseher. Und fast anderthalb Stunden saß ich wie versteinert und schaute und hörte. Nachher, beim Nachdenken über diesen Abend, ist mir einiges klar geworden. Am deutlichsten wurde mir aber, dass Magie und Musik enger verbunden sind, als ich es bis jetzt gefühlt habe. Die Beatles sind ein gutes Beispiel, um damit Elementarmagie zu wirken. Doch viel stärker sind einige Werke der klassischen Musik. Woran dies liegt? Ich habe nur Vermutungen. Es ist natürlich auch die Orchestrierung, die bewirkt, dass diese Stücke viel mächtiger wirken als die modernen Aufnahmen. Ein gewisser Bekanntheitsgrad spielt auch mit. Und klassische Musik ist näher am Gefühl. Zumindest behaupte ich das einfach mal, ohne dass Du in der Lage wärst, meine Aussagen über meine Gefühle zu widerlegen. Ein Trick, ich weiß. Aber er wirkt.
Auf immer der Deine, Homo Magi
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Wie geht es nach Samhain weiter?
Lieber Salamander,
das magische Jahr ist fast vorbei. Wir nähern uns Samhain, dem Tag, an dem es heißt, sich von Dingen zu verabschieden, die man im alten Jahr zurücklassen will. Wie bereitet man sich darauf vor? Was ist wirklich schlecht und muss zurückbleiben, was ist zwar störend, gehört aber zu den Aufgaben, die man lösen muss und die man nicht aus seinem Leben löschen darf? Die Abgrenzung ist jedes Mal schwierig. Viele Heiden, die ich kenne, werfen an Samhain Dinge ins Feuer. Sie trennen sich von Erinnerungen, die sie verabschieden wollen – sie denken an das, was im letzten Jahr gestorben ist und nun unwiderruflich in den Bereich hinter den Türen unserer Welt verschwindet. Und sie lassen die Flammen, Hitze und Feuer, ihre Erinnerung reinigen. Ich finde die Idee sehr schön, dass man sich beim Tod eines lieben Menschen zusammenfindet, und Geschichten über ihn erzählt. Wenn bei uns jemand stirbt, dann stellen sich vom Schützenverein über den Hausfrauenbund bis hin zu Großonkel Waldemar alle an die offene Grube und sprechen Dinge, die klischeehaft und langweilig wirken. Dieselben Worthülsen, die eigentlich doch nur ausdrücken, dass man für die Trauer im Moment keine Worte findet. Aber die Trauer ist doch nicht das einzige Gefühl, das uns beim Dahinscheiden eines Freundes bewegt. Es ist doch auch ein Gefühl der Leere, das zurückbleibt. Witze, die nie wieder erzählt, Lieder, die nun nie wieder gesungen werden. Erinnerungen an Gesten und ein Lächeln sind doch wichtiger für uns als die Mitgliedschaft in Vereinen und die guten Taten für die Gemeinde. Ich selbst habe im Lauf der letzten Jahre eine andere Möglichkeit gefunden, mich dem Problem der Trennung zwischen wichtigen und unwichtigen Erinnerungen zu stellen. Vor Samhain, im Lauf der letzten vier Wochen des magischen Jahres, begebe ich mich eine Weile lang alleine hinaus in die Gegenwart der Gottheit. Ich gehe spazieren, oder setze mich auf eine Bank in den Wald. Manchmal sitze ich auch in einer überdachten Hütte an einem kleinen See und denke nach und schweige die Schöpfung an. Das geht eine ganze Weile so. Dann fange ich an zu reden. Ich hatte Dir schon einmal geschrieben, dass es für mich drei Formen der Unterhaltung gibt: Dialog, Monolog und Gebet. Das Gebet ist davon für mich die schwierigste Form. Ich rede gerne laut, wenn ich bete. Und das ist nicht überall möglich, ohne dass einen alle Leute eigenartig anschauen – natürlich ist es für Außenstehende schwierig, eine Unterscheidung zu treffen, ob ich gerade mit Mikrowellen vom rumänischen Geheimdienst aus ferngesteuert werde und daher vor mich hinbrabbele oder ob ich bete ... Nein, aber das sind einfach Erscheinungsformen, die unsere Stromlinien-Gesellschaft in der Öffentlichkeit nicht mehr zu tolerieren bereit ist. Ich gehe also hinaus in die Natur und rede. Manchmal kriege ich auch Antworten, manchmal ist es einfach nur schön, sich seine Sorgen und Ideen von der Seele zu reden. Und ich erzähle jedes Mal brav, dass ich vorhabe, zu Samhain wieder ein Ritual zu machen. Und ich bitte um Hilfe bei der Trennung zwischen Dingen, die ich verabschieden kann, und Dingen, die ich behalten sollte – auch wenn da zum Teil Dinge dabei sind, die mir wehtun oder mich stören. Ich glaube nicht, dass dies die beste Lösung für mein „Problem“ ist. Aber es hilft mir, einen Teil der Verantwortung abzugeben. Das Ziel ist es vielleicht schon, die Verantwortung selbst tragen zu können – aber ich weiß nicht, ob dies für einen gläubigen Menschen wirklich anzustreben ist. Ich will nicht, dass man alle Verantwortung auf Gottheiten abschiebt – aber alle Verantwortung und alle Entscheidungen allein zu übernehmen, das halte ich auch für die falsche Lösung. Auf jeden Fall führen diese Gespräche immer dazu, dass ich mich nachher besser fühle. Manchmal bin ich danach sehr müde, manchmal weine ich oder bin einfach nur sehr still. Aber jedes Mal bin ich berührt und gerührt. Salamander, ich hoffe, dass Du wirklich verstehst, was ich Dir sagen will. Es fällt mir schwer, Dir zu sagen, wie sehr ich Dich in den Zeiten unserer Briefe in mein Herz geschlossen habe. Über mich und meinen Glauben, meine Ansichten und Ideen zu reden, das fällt mir nicht leicht. Ich tue es, weil ich nicht will, dass die Dinge, die ich mir in vielen Jahren angeeignet habe, untergehen, wenn ich eines Tages sterbe. Und ich tue es, weil ich denke, dass meine Hilfen bei Dir gut angelegt sind. Einen Brief noch, und dann darfst Du Dich Samhain Deinen Ängsten und Deinen Erinnerungen stellen. Was schreibt man in einem solchen vielleicht letzten Brief? Wirst Du nach Samhain noch mit mir reden wollen, meiner Hilfe bedürfen, mir trauen? Ich weiß es nicht. Ich werde abwarten und schauen.
Dein Homo Magi
*** Mein kleiner Lurch
Lieber Salamander,
ein Jahr ist eine lange Zeit. Wenn man sich darauf festlegt, ein Jahr lang etwas zu tun, tut man es oft im Gefühl, dass es einem im Moment gut geht. Man hat Zeit, ist motiviert und macht sich wenig Gedanken über die Dinge, die einem im Laufe des Jahres passieren könnten. So und nicht anders ist es auch mir ergangen. Vor einem Jahr habe ich mir vorgenommen, Dir jede Woche einen Brief zu schreiben. Ich wusste nicht genau, über welche Themen ich Dir etwas schreiben will. Wenige Ideen hatte ich im Kopf. Es gibt halt Themen, die man behandeln muss, wenn man über Magie spricht. Der Glauben gehört für mich dazu, moralische Grundlagen, einige Sätze über magische Theorie etc. pp. Einige Themen, die sich im Laufe des Jahres ergeben haben, hätte ich so nicht erwartet. Wenn man mich vorher gebeten hätte, eine Liste der wahrscheinlich auftauchenden Themen zu erstellen, wären sie nicht auf ihr erschienen. Es gibt Dinge, die mir im Herbst, zu Beginn des heidnischen Jahres, nicht im Gedächtnis sind, die einem im Laufe des Jahres auf einmal als bedeutsam auffallen. Außerdem habe ich mir vorgenommen, mich nicht zu Themen der Tagespolitik zu äußern. Es ist ausgesprochen schwer, solche Texte zu verfassen, ohne in das allgemeine Geheul der Wölfe einzufallen. Man will doch eigene Schwerpunkte setzen, selbst etwas erklären, ohne dabei das zu machen, was jeder zu diesem Thema von sich gibt. Und das Gegenteil ist genauso schwer. Texte entstehen in einem bestimmten zeitlichen Umfeld, werden zu einer ganz bestimmten Stunde erstellt und sind gebunden an ein Netz von Zusammenhängen mit den Ereignissen der Welt. Wahrscheinlich hast Du öfters mal Anspielungen vermisst und dafür andere Anspielungen gesehen, die von mir nicht beabsichtigt sind (oder im Text auch gar nicht vorhanden sind, wer weiß). Du bist, wer Du bist und ich bin, der ich bin. Ich bin nicht der Homo Magi, aber ich fand diesen Titel akzeptabel. Ich finde ihn das immer noch, aber ich gebe gerne zu, dass ich heute weiter davon entfernt bin, einen Namen zu finden, der mich und meine Arbeit definiert, als ich es noch vor einem Jahr war. Das ist es doch überhaupt, was unseren Briefwechsel kennzeichnet. Ich versuche, Dir Dinge zu erklären, die mir wichtig sind. Aber im selben Atemzug werde ich gezwungen, über Dinge nachzudenken, die ich Dir erklären will. Und es ist nicht selten, dass ich feststelle, dass ausgerechnet bei Themen, zu denen ich eine fertige Meinung hatte, auf einmal Gedanken in mir aufkamen, die mit meiner bisherigen Sicht der Dinge nicht vereinbar sind. Ich lerne langsam, nichts als gegeben zu betrachten und immer wieder neu über Dinge nachzudenken. Bei meinem Namen geht es mir genauso. Ich habe ihn mir selbst gesucht, aber er hat sich nicht mich gesucht. Das nächste Mal, wenn ich mir einen Namen suchen muss, werde ich dann probieren, mir einen Namen zu suchen, der beides tut – passend sein und zu mir passen.
Ach, die wichtigste Überlegung habe ich mir bis zum Schluss aufgehoben. Lieber Salamander, ich habe es mir lange überlegt. Ich werde nicht, wie ich es am Anfang vorhatte, nach einem Jahr aufhören. Nicht weil ich glaube, dass Du nicht genug gelernt hast. Das ist sicherlich nicht der Grund. Ich bin stolz auf Dich, sehr stolz sogar. Aber es ist so, dass ich merke, dass ich im Diskurs mit Dir lernen kann – Dinge über mich, Dinge über Dich, Dinge über die Welt. Und dieses Lernen möchte ich nicht missen. Ich weiß noch nicht genau, in welchem Stil ich das nächste Jahr mit Dir korrespondieren werde. Erst will ich Samhain abwarten, bevor ich mich erneut äußere. Vielleicht sind es wieder Briefe, so wie das vergangene Jahr. Vielleicht wechsele ich zu einer Form, die mehr in Richtung Essay geht. Oder vielleicht werden es Berichte von meinem Leben als „Homo Magi, Resident Magician“. Wer weiß. Ich war schon immer mehr ein dicker, fauler Detektiv wie Nero Wolfe als ein Dämonenjäger a la John Sinclair, mehr ein nachdenklicher, gläubiger Pater Brown als ein aktiver Theologe wie Pinchas Lapide. Wir werden sehen, wer ich bin und was ich bin und was ich werde. Und ich werde sehen, was aus Dir wird, mein kleiner Lurch.
Ich freue mich auf ein weiteres Jahr mit Dir! Dein Homo Magi Schönheit liegt im Ohr des Hörenden Wie geht es nach Samhain weiter?
[1] Gustav Meyrink, 1868-1932. Zu empfehlen sind u.a. seine Bücher „Der Golem“ und „Der Engel vom westlichen Fenster“. [2] H. D. Thoreau „Walden oder Leben in den Wäldern“ [3] Gene Wolfe in „Ein Gespräch mit Gene Wolfe“ von Robert Frazier, erschienen in „Das Science Fiction Jahr #2“ (1987), herausgegeben von Wolfgang Jeschke (Heyne).
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