Homo Magi Archiv

Wöchentliche Ansichten eines Magiers über den Jahreslauf und die Welt

Teil 2

 

Die Zwerge und der Nebel

Lieber Salamander,

 ein neues heidnisches Jahr hat angefangen. Ich hatte Dir versprochen, dass ich ein weiteres Jahr an Dich schreiben würde. Ehrlich muss ich zugeben, dass es mich sehr gefreut hat, dass Du weiter von mir hören willst. Ich war mir im letzten Jahr nicht sicher, ob ich immer den richtigen Ton getroffen habe. Man wird leicht zu rechthaberisch oder gibt altkluge Ratschläge von sich, wenn man – natürlich: schrecklich gebauchpinselt – weiß, dass jemand darauf wartet, jede Woche von einem zu hören.

Ich hoffe, ich habe die meisten dieser Klippen der Langeweile umschifft. Es würde mich freuen, wenn Du auch dieses Jahr mit Interesse verfolgst, was ich Dir zu sagen habe.

 Die letzten Tage waren für mich sehr schön. Samhain kam und ging, und ich habe es wieder einmal hinter mich gebracht. Das Gefühl, wenn die Tore zwischen den Welten sich öffnen, ist nicht immer schön. Es gibt einfach zu viele von uns, die hinter dem Tor stehen, anstatt davor. Mit jedem Jahr sterben mehr Menschen, die altes Wissen hüten, und es werden weniger Menschen herangezogen, die altes Wissen aufnehmen könnten. Und es ist ein schmerzhaftes Gefühl, wenn man am Samhain durch das Tor schaut, und drüben viele vertraute Gesichter sieht. Oder auch nur einfach die Leere wieder spürt, die in unserer Welt vorhanden ist, weil viele Stellen nicht mehr ausgefüllt werden.

Was meine ich mit altem Wissen? Natürlich könnten das jetzt Dinge sein wie das Geheimnis um Stonehenge oder das Mysterium der Kristallschädel. Doch um solchen Kram geht es mir überhaupt nicht. Für mich ist altes Wissen alles, was uns dem Grund der Dinge näherbringt. Was – so wirst Du nun zu Recht fragen – ist für mich der „Grund der Dinge“? Dies sind für mich die Säulen, auf denen unsere Existenz ruht. Sicherlich ist eine dieser Säulen eine Mischung aus täglicher Arbeit, Beruf, Berufung und Anerkennung. Eine weitere Säule umfasst den weiten Bereich Familie, Freundschaft und Beziehung. Eine dritte Säule ist dem Bereich der Seele zugeordnet – Glauben, Religion, Magie sind Begriffe, die ich hierzu zählen würde. Ich könnte einige weitere Säulen definieren, aber diese drei Säulen reichen aus, um das zu erklären, was ich Dir erklären will.

Wir verlieren mehr und mehr die Bindung an diese Säulen, auf denen wir ruhen. Wir verlieren die Erinnerung daran, dass nicht die Oberfläche, auf der wir stehen, das Wichtige ist. Sondern diese Oberfläche ruht auf Säulen, und diese Säulen stehen auf dem Boden. Dieser Boden ist das Wichtige, er ist der Boden, von dem aus wir erschaffen und erhalten werden. Dieser Urgrund bedingt alles, was auf ihm steht, und ohne ihn ist alles nichts.

 In den letzten Tagen hatte ich auch wieder Gelegenheit, mit meinem eigenen Urgrund Kontakt aufzunehmen. Und es ist schön, wenn man dabei feststellen darf, dass eine Rückbesinnung auf die eigenen Quellen oft dazu führt, dass man die Welt wieder einmal mit den Augen eines Kindes anschaut. Als ich nachts an Samhain an einer Burgmauer stand und in das Tal hinabschaute, da sah ich, wie der Nebel langsam aus dem Dunkel hochstieg und über den Gipfeln der Bäume verharrte.

Dabei wurde mir klar, dass der Nebel eigentlich nur erzeugt wird, damit jene Zwerge, welche die Farben der Blätter auf herbstlich umstellen müssen, ein wenig Zeit für die weiteren Arbeiten erhalten. Mit ihren Farbeimern rennen die Zwerge durch den Wald und malen malen malen – vor unseren Augen durch feuchten, kalten Nebel geschützt. Wahrscheinlich ist die Zahl der Zwerge in den letzten Jahren durch Rationalisierungsmaßnahmen zurück gegangen ... Wie auch immer, der Herbstnebel verdeckt das Herbstlaub, und es ist wirklich so: Wenn die Sonne wieder durchbricht, dann sind mehr Bäume farbig, mehr Blätter haben ihre grüne Farbe gegen Herbstfarben getauscht. Ich werde jetzt das nächste Jahr aufpassen, ob Nebel mit der selben Häufigkeit in Tannenwäldern auftaucht, oder ob er hier – wegen überflüssiger Malerarbeiten – ausbleibt.

 Nun, ich habe damit keine religiösen Erleuchtungen erworben. Aber es ist schön, die Welt mal unbelastet zu sehen – sich nicht Gedanken machen zu müssen über die täglichen Probleme, sondern einfach erfreut die Schöpfung zu sehen und sich an ihr zu freuen. Mit den Augen eines Kindes ist dies am einfachsten, weil Kinder noch frei von jenem selbsterzeugten Stress sind, der so stark auf unsere Seele drückt. Und Samhain soll ja auch unsere Augen öffnen, unsere Herzen weiten und uns wieder daran erinnern, dass wir alle sterblich sind. Und dann ist es doch gut, wenn man manchmal erkennt, dass man nicht nur sterblich ist, sondern dass es auch Dinge gibt, für die sich das Leben lohnt – und seien es auch nur einige amüsierte Momente, während man versucht, das Huschen der Zwerge mit ihren Eimerchen durch den Nebel hindurch zu erkennen ...

Alles Liebe,

Dein Homo Magi

 

Ein Brief setzt Zeichen

 Hallo Salamander,

 ich bin weiterhin der Ansicht, dass Projekte wie der Bau der Kathedralen oder der Pyramiden nicht nur wegen dem Grund unternommen worden sind, der vorgeschoben worden ist. Ich meine damit nicht, dass es geheimnisvolle Gründe gibt, die von der Hauptaufgabe der Gebäude – sei es jetzt als Anbetungsstätte oder als Begräbnisort – ablenken sollten. Vielleicht ist wirklich die Weltgeschichte im Zugang der großen Pyramide versteckt. Vielleicht ist die Kathedrale von Chartres in Wirklichkeit der Deckel über der Höhle, in welcher der heilige Gral versteckt ist. Aber wahrscheinlich ist die chinesische Mauer auch nur ein Hinweis in Sütterlin oder die Autobahnen in Nordrhein-Westfalen geben das komplexe Muster des Sternenhimmels bei der Geburt von Elvis Presley wieder. Ich weiß es nicht, ich meine auch einen anderen Ansatz.

Kathedralen wie Pyramiden sind Zeugen der gemeinsamen Arbeit. Steingewordene Zeugnisse dafür, dass die Summe der einzelnen Arbeitskräfte mehr erreichen kann, als eine einfache Hintereinanderstellung identischer Arbeitskraft. Oder mit anderen Worten: Ein Arbeiter kann in tausend Stunden eben nicht fertigstellen, was tausend Arbeiter in einer Stunde schaffen. Wer schon einmal versucht, alleine ein Regal aufzubauen, der wird voller Ärger feststellen müssen, dass bis zur Einführung der Dritthand (oder wahlweise zur Erlangung der Telekinese) Gruppenarbeit klare Vorteile vor der Einzelarbeit hat.

Nun gut, ich will nicht in Abrede stellen, dass es Dinge gibt, die man alleine sicherlich besser kann. Mir fallen da Dinge ein wie Nudeln kochen, Selbstbefriedigung oder Solitär.

Wie auch immer, es gibt Arbeiten, die gemeinsam gemacht werden müssen. Und nachher schaut man – schwitzend zwar, aber trotzdem glücklich – auf das Werk, und man ist glücklich. Jemand macht die Bierflaschen auf, öffnet den Korb und verteilt was zu Essen und zu Trinken unter den anwesenden Arbeitskräften. Ein Richtfest ist ein ähnliches Ereignis, ein Feiern der gemeinsamen Arbeit.

Wir Menschen machen dies viel zu selten. Vielleicht ist es heute schwieriger, weil die Ergebnisse unserer Arbeit nicht mehr so “handgreiflich” sind wie früher. Ein Haus ist wesentlich klarer zu sehen als ein Projekt, eine Pyramide beeindruckender als ein fertiggestelltes Programm. Aber ziehen wir nicht einen großen Teil der Motivation aus dem gemeinsamen Arbeiten, aus dem gemeinsamen Erreichen von gesteckten Zielen? Vielleicht sollten wir öfter innehalten und das feiern, was wir gemeinsam erreicht haben.

Ein Umzug, eine Geburt, eine schwierige Arbeit – alles Dinge, die wir feiern könnten, weil wir sie nicht alleine geschafft haben, sondern auf andere angewiesen waren. Es ist unser gemeinsames Werk.

Auch ich beteilige mich gerne an solchen Projekten. Und manchmal reitet mich der Schalk, und ich beteilige mich an eigenartigen Projekten. Auf der einen Seite spende ich immer mal wieder Geld für große Bauprojekte, um dann nachher z.B. einen symbolischen Ziegelstein aus Papier zu erhalten. Natürlich weiß ich, dass Geld nicht dasselbe ist wie Arbeitskraft – aber in diesem Fall geht es doch um die symbolische Beteiligung, oder?

Ein Projekt, bei dem ich gerne mitgemacht habe, weil es so schrecklich unproblematisch war, ist die grässliche Kampagne der Deutschen Post “Ein Brief setzt Zeichen”. Da konnte man ein für ein Projekt aus Liebesbriefen in Berlin (“LoveLetters-Building” nennt es die Post brav auf Neudeutsch) eine Karte einsenden, die dann vergrößert an das ebensolche Gebäude gepinnt wurde. Und da ich mich daran beteiligt habe, habe ich als Endergebnis eine schöne Mappe erhalten (nun, die Mappe ist an sich schön, und zwar schön gelb): Ein Bild des Gebäudes, eine Mappe mit Erklärungen des “Aktionskünstlers” Schult (ultrapeinlich, ehrlich) und ein Anschreiben – sogar mit meinem Namen im Briefkopf – samt einer schlecht aus dem Rechner eingelesenen Unterschrift.

Wie auch immer. Mit ca. 100.000 anderen Menschen bin ich jetzt an einem Massenwerk beteiligt. Es sind nicht gerade die Pyramiden, okay. Aber eine Menge Leute haben Energie und wahrscheinlich sogar Liebe in dieses Projekt investiert. Und wie man ja sicherlich weiß, ist das genau die Grundlage, auf der magische Strukturen entstehen ... Bin mal gespannt, wann die ersten Berliner Magier beim Anblick des “LoveLetters-Building” erblinden ... Und überhaupt ist das Gebäude doch die magische Entsprechung für die Rückseite des Mondes, oder?

Dein Homo Magi

 

Die Post ist da

 Lieber Salamander,

 mein Vater ist nicht gerade der Typ Mensch, den ich als moralische Leitlinie für kommende Magier-Generationen ausgeben würde. Das hat verschiedene Gründe; der offensichtlichste ist der, dass mein Vater zwar bereit wäre, sich über Magie zu äußern, aber in seiner Erziehung einem Zeitalter verhaftet ist, das mit der modernen Magie des 21. Jahrhunderts wenig zu tun hat. Mein kleiner Bruder hat einmal behauptet, unser Vater wäre der ideale „Technologie-Tester“. Wenn irgendeine große Firma ein Gerät entwirft, z.B. eine neue Fernbedienung für einen Fernseher, dann sollte Vater in einem Versuchslabor das Gerät und seine Anleitung zum Test erhalten. Es wird keine zehn Minuten dauern, und er hat die Anleitung gelesen und lebt ab jetzt im Glauben, das Gerät vollständig zu verstehen. Sein Vater war Ingenieur, vielleicht hofft mein Vater da auf die Vererbung von erworbenen Fähigkeiten ...

Wie auch immer. Wenn er die Anleitung verstanden hat, wird er versuchen, das Gerät in Funktion zu nehmen. Nun wird es interessant, denn es geht eigentlich nur noch darum, die Zeit zu messen, bis entweder die Fernbedienung gegen die Wand fliegt (weil Vater aufgibt) oder das Gerät unter der Absonderung knackender Geräusche verstirbt (weil das Gerät aufgibt). Zwischen beiden Extremen ist leider keine andere Willensäußerung möglich.

Nun, auf der anderen Seite hat mein Vater aber alle Vorraussetzungen zum Guru erfüllt. So ist er ein reicher Schatz an schlechten Geschichten, die zum Teil so gut sind, dass ich sie für mein eigenes Leben übernommen habe. Die eine Geschichte, die ich aber schwer als meine eigene Lebenserfahrung ausgeben kann, hat etwas mit der Post zu tun.

In meinem letzten Brief an Dich hatte ich von jenem sinnenverwirrenden Projekt geschrieben, an dem ich mich bei der Deutschen Post beteiligt habe. Nun, mein Vater konnte einen wesentlich eigenartigeren Schwank erzählen. Er ist als Kind in Berlin groß geworden. Und dort ist in den letzten Kriegsjahren des zweiten Weltkriegs die dreimal tägliche Postzustellung (!) eingestellt worden, weil aus Kriegsgründen nicht mehr genug Briefzusteller vorhanden waren, um einen reibungslosen Ablauf der Postauslieferung zu garantieren. Bis jetzt ist die dreimal tägliche Auslieferung weder in Berlin noch in einem anderen Teil Deutschlands wiederaufgenommen worden. Die logische Konsequenz daraus ist für meinen Vater, dass der zweite Weltkrieg nicht geendet hat.

Nein, verstehe mich nicht miss, mein Vater ist nicht wahnsinnig. Er benutzt solche scholastischen Argumentationen manchmal nur, um seine Umwelt zu verwirren. Was ihm zumindest in diesem Fall voll geglückt sein dürfte. Die Post lügt ja bekannterweise nicht, und obwohl sie sich in den letzten Jahrzehnten alle Mühe gegeben hat, den letzten Rest an Glaubwürdigkeit zu verspielen, scheint es doch in der Postzustellung erstaunlich gut zu funktionieren. 95% aller Postsendungen erreichen angeblich am nächsten Tag den Zustellungsort im Bundesgebiet, so lautete mal eine Anzeige der Post. Eigenartigerweise sind die 95% jedoch nur Rechnungen und Werbeblätter, während Geburtstagseinladungen und Liebesbriefe innerhalb Deutschlands zwischen zwei und achtundzwanzig Tagen unterwegs sind – wenn sie überhaupt ankommen, was nicht immer garantiert ist. Bei Einladungen bin ich mir manchmal nicht sicher, ob ich überhaupt eingeladen worden bin oder ob es sich nur um eine Notlüge des Party-Veranstalters handelt – aber bei Liebesbriefen ist die Lage doch ein wenig anders, oder?

Nun, der zweite Weltkrieg ist zu Ende, das gibt auch mein Vater zu. Aber manche Dinge müssen halt nicht nur angekündigt und begonnen werden, sondern sie müssen auch beendet werden. In diesem Falle wäre es sicherlich im Sinne meines Vaters gewesen, wenn die Post – als Rechtsnachfolger der Reichspost wohl die Deutsche Bundespost im West-Berlin der Nachkriegszeit – verkündet hätte, dass sie trotz dem Ende der Kampfhandlungen nicht daran denkt, die dreimal tägliche Zustellung wieder aufzunehmen.

Und so ist es doch auch in der Magie, im Ritual. Es langt nicht nur, Dinge zu beginnen. Wir müssen sie auch beenden. Kämpfe eröffnen, Ehen schließen, Kinder segnen – dafür werden immer gerne Rituale eingesetzt. Aber wer bedenkt schon, dass auch am Ende einer Entwicklung ein Ritual stehen muss, wenn die Entwicklung durch ein Ritual eingeleitet oder begleitet worden ist? Alles andere ist doch nur „Pfusch am Bau“, wenn ich das mal so deutlich sagen darf. Wir nehmen die schönen und kraftvollen Ereignisse in der Magie mit und lassen die „schwachen Dinge“ liegen. Ich glaube, dass dies ein Fehler ist. A und W, Anfang und Ende – wie in der normalen Welt, so auch in der Magie.

Und, lieber Salamander, solltest Du jemand kennen, der bei der Post arbeitet – seit doch so lieb und frage mal nach, was mit der dreimal täglichen Zustellung passiert ist. Irgendwie bin ich jetzt auch neugierig – und mein Vater wartet immer noch auf eine befriedigende Auskunft!

Dein Homo Magi

 

Vergewaltigung

 

Lieber Salamander,

es gibt sicherlich Themen, über die zu sprechen mir einfacher fällt. Es gibt immer wieder Themen, um die man in Gesprächen herumeiert, weil sie einem Angst machen, Scham in einem wecken oder einem einfach unbequem sind. Vergewaltigung ist ein Thema, das mir selbst sehr an die Nieren geht. Deswegen habe ich mich bis jetzt darum gedrückt, etwas dazu zu schreiben. Aber in den letzten Tagen kam es in meinem Bekanntenkreis wieder einmal zu einem Ereignis, das mich zwang, noch einmal darüber nachzudenken, wie meine Gefühle in Bezug auf Missbrauch sind.

Eines vorweg: Das Wort „Missbrauch“ ist eigentlich ein Nicht-Wort. Man kann eine Frau nicht gebrauchen, deswegen gibt es eigentlich keinen Missbrauch. Aber dieses Wort ist immer noch in Benutzung, von daher verwende ich es hier – wenn auch nur, um zu erklären, warum ich es nicht benutze. Eine eigenartige Erklärung für die Nicht-Verwendung eines Begriffs. Ich eiere schon wieder herum.

Also. Vor vielen Jahren war ich noch ein junger Mann, der schrecklich in eine junge Frau verliebt war. Sie war sehr schüchtern, ich war sehr zurückhaltend, daher kamen wir zwei irgendwie nicht zusammen. Eines Wochenendes hatte nun meine Clique mit ihrer Clique organisiert, dass wir alle gemeinsam ins Kino gehen sollten. Und wie sich die Dinge fügten, war sie zufällig an diesem Abend alleine (ihre Eltern waren wahrscheinlich auf einer Forschungsreise in den Mittleren Osten oder von ihrer Tochter für eine Nacht hinauskomplimentiert worden), und alle Zeichen standen darauf, dass unsere gemeinsamen Kumpels dafür gesorgt hatten, dass wir erstens ein Alibi für diesen Abend und zweitens die Gelegenheit für einen ungestörten Abend hatten.

So war es auch. Wie Schiffe, die des Nachts vorüberziehen, landeten wir zwei in der Wohnung, während alle anderen – mehr oder weniger leise in sich hineinlachend – ins Kino gingen. Nun, der gemeinsame Abend begann sehr vielversprechend mit Kerzenschein, leiser Musik und Herumgeknutsche. Nach einer Weile begannen wir dann uns gegenseitig auszuziehen. Irgendwann begann sie auf mich einzuschlagen, zu beißen, zu heulen und laut zu schreien. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, und die beste Idee, die ich hatte, war sie fest in den Arm zu nehmen und zu versuchen, mich nicht mehr von ihr schlagen zu lassen. Sie zerkratzte mir den Rücken, biss mir in die Oberarme und riss mir an den Haaren. Ich versuchte nur, sie festzuhalten. Es dauerte eine ganze Weile, bis ihr Weinen zu einem Schluchzen wurde. Und dann erschlaffte sie, brach heulend in Fötus-Position auf dem Bett zusammen.

Es dauerte eine Weile, bis wir beide soweit „rekonstruiert“ waren, dass eine Unterhaltung möglich war. Die Geschichte ist nicht schön, aber in Kürze erzählt. Sie war jahrelang immer wieder von einem Menschen aus ihrem Bekanntenkreis vergewaltigt worden. Das lag schon einige Jahre in der Vergangenheit, und sie hatte gehofft, dass die Wunden geheilt waren. Daher hatte sie sich auch auf den Abend mit mir eingelassen. Ihre Schüchternheit war weniger Teil ihres Charakters, als eine tiefe Verletzbarkeit, die sie zu kaschieren suchte. Nun, ich hatte etwas getan oder gesagt oder ihr einen bestimmten Blick zugeworfen, der sie an die Vergewaltigungen erinnerte. Und was sie damals nie geschafft hatte, nämlich Widerstand zu leisten, das hatte sie jetzt bei mir getan.

Wir haben beide geweint, bis die Geschichte aus ihr raus war. Ich habe ihr geholfen, sich wieder anzuziehen. Sie ging sich schminken, ich brauchte viel Wasser und einige Pflaster, um mich wieder in die Reihe zu bekommen.

Wir haben uns an diesem Abend noch lange unterhalten. Aber die Geschichte, die aus ihr herausbrach, war für mich nicht das Schlimmste an diesem Abend. Irgendwann kamen unsere Kumpels aus dem Kino zurück. Und was sie vorfanden erzählte eine ganz andere Geschichte: Sie verheult, ich mit – wenn auch so gut wie möglich getarnten – Spuren einer Schlägerei am Körper. Und für sie war der Hergang des Abends eindeutig. Ich war der Täter, und sie das Opfer.

Ich hatte versprochen, kein Wort von dem zu erzählen, was an diesem Abend wirklich passiert ist. Weiterhin fühle ich mich an dieses Versprechen gebunden, aber ich glaube nicht, dass jemand aus den bis jetzt genannten Informationen folgern könnte, wer sie ist und wann das wo passiert ist. Egal. Ich hatte versprochen, kein Wort zu erzählen, und so habe ich damals alle Kommentare ohne Anmerkung über mich ergehen lassen. Die anzüglichen Witze, die bösen Blicke ihrer Freundinnen, die dummen Sprüche – ich habe geschwiegen.

Meine Kumpels und ich sind dann irgendwann nach Hause gegangen. Zum Abschied konnte ich sie nicht einmal umarmen oder küssen – ich hatte zu viel Angst, dass sie wieder auf mich losgeht, und sie hatte zuviel Angst, um mich zu berühren. Sie mochte mich, war sogar in mich verliebt. Aber wir konnten uns nicht berühren, weil jeder Angst davor hatte, dass die Berührung etwas weckt, mit dem wir beide nicht umgehen konnten.

Ich habe sie nie wiedergesehen.

Jedes Mal, wenn ich eine Vergewaltigungsgeschichte höre, erinnere ich mich an diesen Abend. Ich bin keine Frau, kann sicherlich nie verstehen, welche Ängste, welche Schrecken eine Vergewaltigung birgt. Doch ich reagiere auf Vergewaltigungsfälle wesentlich aggressiver als auf die meisten anderen Verbrechen, die man mir schildert. Ich will nicht behaupten, dass ich den Schrecken wirklich verstehe. Aber ich habe nur einen kleinen Teil dieser Schrecken selbst abbekommen und es war fast zuviel für mich. Und ich habe erlebt, wie die Umwelt mit solchen Geschichten umgeht, wie viel verharmlost und witzig gemacht wird.

Ich behaupte nicht, dass ich es verstehe. Aber alleine wegen der Angst, die damals jene Frau empfand, in die ich verliebt war, kann ich heute mit Mord oder Totschlag ruhiger und weniger emotional umgehen als mit dem Thema Vergewaltigung. Manchmal ist es auch ganz gut, dass ich hier keine Distanz habe. Schmerz und Anteilnahme erinnern mich daran, dass ich Mensch bin. Homo Sapiens, und nicht nur Homo Magi.

Dein Homo Magi

 

Kampfstern 2001

 

Hallo Salamander,

manchmal erhält man Erkenntnis da, wo man sie nicht sucht. Oder anders herum: Wenn man die Erkenntnis dort erhält, wo man sie vermutet, dann ist man wahrscheinlich sehr leichtgläubig oder vom Glück gesegnet.

Das letzte Wochenende stand bei uns unter einer Art Motto. Dieses Motto hieß „Space Days“. In der Stadt, in der ich wohne, gibt es einen Vorort, in dem ich aufgewachsen bin. Meine Mutter und mein Bruder wohnen dort noch immer (wenn auch in getrennten Wohnungen), meine Schwester hat es bis in das Nachbardorf geschafft. Stolz und Krönung dieses Vorortes ist u.a. eine Art „Gemeinschaftshalle“, die man für verschiedene Veranstaltungen buchen kann. Eine dieser Veranstaltungen waren eben jene schon genannten „Space Days“.

Angekündigt war dies als eine „Science Fiction Modell-Ausstellung“ mit ganz unterschiedlichen Schwerpunkten. Da war einmal die Ausstellung der Modelle, verbunden mit einer Prämierung des schönsten Bausatzes. Mir haben die meisten Sachen gut gefallen, von daher habe ich mich darum gedrückt, den Zettel für die Prämierung auszufüllen. Was hätte ich dort auch hinschreiben sollen? Besonders hervorzuheben waren meiner Ansicht nach zwei Exponate.

Einmal hatte jemand den alten „Mondbasis Alpha“-Bausatz zusammengebaut, mit zwei „Adlern“ versehen (das waren diese eigenartigen Raumschiffe, bei denen man die Fracht als Container herausnehmen konnte) und auf eine wunderschöne Mondoberfläche gestellt. Dahinter saßen auf dem Rand der Bühne zwei alte „Mondbasis Alpha“-Biegefiguren. Das waren diese Figuren, die zwar von außen ein wenig wie „Big Jim“ im Weltraum aussahen, aber eine andere Form von Gelenken hatten. Nicht nur, dass man nicht auf den Rücken drücken und damit einen Arm bewegen konnte (das war die tolle Fähigkeit der „Big Jim“-Figuren ...), nein, die Gelenke waren innenliegend, was den Figuren eine höhere Beweglichkeit und einen höheren Realismus gab.

Das zweite Exponat, das mir gefallen hat, war von einem freundlichen Rentner aufgebaut worden, der auch über eine Urkunde des „Guinness Buch der Rekorde“ verfügte, weil er wohl weltweit der Mensch mit den meisten gebauten Satelliten-Modellen war. Er hatte wunderschöne, liebevoll gearbeitete Modelle dabei – u.a. auch die ganzen frühen russischen Satelliten, die ich aus den von meinem Großonkel aus der DDR mitgebrachten Jugendbüchern kannte.

Das angebotene Video-Programm hat mich nicht interessiert. Statt in einem Nebenraum zu sitzen und mir im Halbdunkel Filme anzuschauen, ziehe ich es bei solchen Veranstaltungen vor, mit einem Kaffee in der Hand mit Leuten zu reden. Und dafür bot die Veranstaltung genügend Gelegenheit. Denn neben der Ausstellung war auch einiges an Händlern aufgefahren worden. Der ortseigene dicke Comic-Händler war da, ebenso zwei Händler mit SF-Taschenbüchern und einige Stände mit Media-Merchandising. Hier gab es den üblichen Trödel – Videos, DVDs, Uniformen, Anstecker, Aufkleber, CDs usw. usf. Ich besorgte mit endlich einen Soundtrack zu „Die Mädchen aus dem Weltraum“ (mit Pierre Brice ...) und stieg bei den Buchhändlern in längere Verhandlungen ein. Am Ende reichte pro Tag ein Rucksack nur unter Mühen für meine Erwerbungen aus und ich war froh, dass ich mich entschieden hatte, jeden Tag einmal vorbeizukommen – das nahm meinem Einkaufsbummel etwas die Hetze.

Die Veranstaltung hatte auch einen Stargast zu bieten, einen Schauspieler namens Herbert Jefferson jr., der in der Serie „Kampfstern Galactica“ Lt. Boomer gespielt hatte. Ehrlich: Ohne die ausliegenden Fotos mit Bildern aus der Serie hätte ich ihn nicht wiedererkannt. Aber ich bin auch kein Freund von Fotosessions mit bekannten Schauspielern. Man wollte hier Geld für jedes Foto mit dem guten Mann, und auch Geld für seine Unterschrift. Das ist mir ein wenig zu unverschämt. Die Veranstaltung hatte zwar einen moderaten Eintrittspreis, aber ich besuche doch solche Veranstaltungen nicht, um mich wie ein Autogrammjäger um Schauspieler zu scharen. Wenn ich eine Unterschrift in einem Buch oder auf einem Bild will, dann besorge ich sie mir entweder mit Widmung (dann habe ich aber auch wirklich mit dem entsprechenden Autoren gesprochen und die Widmung ist dann mehr oder weniger eine Erinnerung daran), oder ich schreibe sie selbst.

Nun, keine Angst, ich besitze kein Buch, in dem ich selbst die Unterschrift gefälscht habe. Aber ich habe ein Buch von Dominik, in dem vorne ein Krakel drin ist plus die handschriftliche Bemerkung in Bleistift „Originalunterschrift!“. Ich werde dieses Mysterium wohl nie lösen, aber das Buch war damals nicht so teuer, als das sich die Investition nicht gelohnt hätte.

Die beiden Tage waren richtig nett. Ich konnte klönen, in Büchern stöbern, in Ruhe Kaffee trinken und mich überhaupt rundum wohl fühlen. Die interessante Überlegung kam mir eigentlich erst auf der Heimfahrt am zweiten Tag. Ich war 16 oder 17 Jahre, als ich das erste Mal auf einen SF-Con (von dem englischen Wort „Convention“, also ein Treffen von Freunden der phantastischen Literatur, wenn man das mal so flapsig sagen darf) gefahren bin. Jahrelang bin ich immer wieder mit der Bahn, später auch als Mitfahrer oder Fahrer mit dem Auto in Deutschland umhergefahren, immer auf dem Weg zu diesen Treffen. Nach England bin ich zum WorldCon gefahren, in den USA war ich auf einer Messe (wenn auch damals beruflich), sogar in den Niederlanden war ich. Und dann müssen fast zwanzig Jahre vergehen, und dieses mal brauche ich nicht einmal etwas dazutun – und dann ist ein entsprechendes Treffen in meinem Heimatort, fünf Minuten zu Fuß von meinem Elternhaus und eine halbe Stunde mit der Straßenbahn von meiner momentanen Wohnung.

Warum gab es das nicht, als ich in dem Alter war, wo ich um jede Mark Fahrtgeld froh war, die ich sparen konnte? Nun, ein paar dieser Veranstaltungen gab es in den letzten zwanzig Jahren im Umfeld meines Wohnortes – und immer war ich an der Ausrichtung nicht beteiligt. Geholfen habe ich immer nur bei Veranstaltungen „weit weg von der Heimat“.

Wäre doch nur damals ... Hätte ich doch nur können ... Nein, das sind die falschen Überlegungen. Damals habe ich etwas gesucht, und ich habe es nur in der Ferne gefunden. Was es war? Sicherlich ging es mir um Ablenkung, um andere Menschen, um Bücher, um die Erfahrung, den Kribbel unter Menschen zu sein, welche die eigenen Interessen teilen. Heute bin ich ruhiger geworden, und das liegt nicht nur daran, dass ich älter geworden bin. Und jetzt kann ich Dinge genießen, die in meiner Nähe stattfinden. Die Ferne lockt noch, aber ihr Lockruf wird nicht übermächtig. Ich fahre gerne weg, aber ich kann auch das Schöne in der Nähe erleben und genießen.

Die Erkenntnis lässt sich nicht erzwingen, die Erfahrungen, die man machen muss, macht man – früher oder später, näher oder ferner.

Viel Spaß dabei!

Dein Homo Magi

 

Ex Refrigerator Lux

Lieber Salamander,

das Wort „Elefantenfriedhof“ ist ein stehender Begriff. Es weist darauf hin, dass man früher glaubte, alte Elefanten zögen sich zum Sterben an einen geheimen Ort zurück. Dieser Platz zum Sterben, der Elefantenfriedhof, wird von ihnen nur aufgesucht, um sich dort hinzulegen und einzuschlafen. Natürlich ist dieser Friedhof voll mit dem wertvollen Elfenbein. Und er ist ein Mythos, denn er sagt eine Menge Dinge über Elefanten aus, die erst beim zweiten Nachdenken auffallen. Zum einen ist das Wort „Elefantengedächtnis“ auch damit verbunden, dass Elefanten scheinbar in ihren genetischen Informationen Hinweise auf einen bestimmten Ort in sich tragen, den sie nur zum Versterben aufsuchen. Wie die Aale, die immer genau wissen, wo sie laichen müssen, wissen die Elefanten also, wo sie zu sterben haben.

Das Elefantengedächtnis erinnert mich immer an einen alten Gary Larson Cartoon. Ein Elefant im Trenchcoat zielt hinter einer Hausecke mit einer Pistole auf eine außerhalb des Bildes befindliche Figur. Und darunter steht (von mir frei übersetzt, weil ich mich an den Cartoon nur auf englisch erinnere; warum auch immer) „Erinnern Sie sich an Kenia, 1956? Das nächste Mal, wenn Sie einen Elefanten erschießen, versichern Sie sich, dass er auch wirklich tot ist.“ Dem braucht man zum Thema Gedächtnis nichts hinzuzufügen.

Zweitens nährt der Mythos vom Elefantenfriedhof unsere Erwartungen von zivilisatorischen oder sozialen Errungenschaften im Tierreich. Der Mensch ist zwar die selbsternannte Krone der Schöpfung – aber manchmal wäre er an der Spitze der Schöpfung nicht gerne alleine. Warum sind unsere Mythen sonst voll von Königreichen sprechender Vögel oder von Siedlungen intelligenter Affen? Dieser Mythos vollzieht dies für die Elefanten - der Glaube an den Elefantenfriedhof unterstellt diesen majestätischen Tieren Gewohnheiten, die im Tierreich so nicht vorkommen.

Den Elefantenfriedhof hat man nie gefunden, die Elefanten versterben weiterhin ganz unprosaisch dort, wo man sie erschießt.

Aber ein anderes Phänomen ließ mich in den letzten Tagen wieder einmal an den Elefantenfriedhof denken. Lieber Salamander, ich weiß, dass Du manchmal mit meinen Erklärungen nicht viel anfangen kannst. Ich möchte Dich bitten, in den nächsten Absätzen nicht die Hoffnung an mich zu verlieren, sondern einfach weiterzulesen. Danke.

Ein Ding, über das ich immer wieder nachdenke, ist der Kühlschrank. Drei Mysterien sind es, die mich im Zusammenhang mit Kühlschränken beschäftigen. Nummer 1 (und das älteste von den drei Rätseln) ist die Frage, ob auch in geschlossenen Kühlschränken Licht ist. Als Kind habe ich mal mit zwei Zahnstochern versucht, ein Blickloch durch die Gummilamellen an der Kühlschranktür zu öffnen. Es ist mir nicht gelungen – ob das daran lag, dass ich nichts sehen konnte, weil es innen dunkel war ... Das Problem hat mich einige Jahre beschäftigt. Dann habe ich eine angeschaltete Taschenlampe in den Kühlschrank gelegt, die Tür geschlossen und mit zwei Löffeln solange im Gummi der Türdichtung gepuhlt, bis ich das Licht der Taschenlampe sehen konnte – aber eben nur das Licht der Taschenlampe, und nicht die Kühlschrankinnenbeleuchtung! Damit hatte ich ein Mysterium des Kühlschrankes enträtselt.

Mysterium Nummer 2 hatte etwas mit dem Verschwinden von Nahrungsmitteln bei Nacht aus dem Kühlschrank heraus zu tun. Das ließ sich aber ohne mystische Erklärungen lösen – womit das Problem auch nicht in den Fragekreis hineingehört, in dem ich es gerade präsentiere. Aber immerhin versuche ich zu dokumentieren, dass ich mich schon länger mit Kühlschränken auseinandersetze. Und das nicht alle Probleme, die um einen Gegenstand kreisen, mystisch oder nicht-mystisch sein müssen.

Also, in diesem Fall waren es immer meine WG-Mitbewohner, die offensichtlich unter eigenartigen nächtlichen Fress-Anfällen litten. Ob durch den Einsatz illegaler Drogen oder einfach durch Störungen im Esszentrum – ich weiß es nicht. Auf jeden Fall gab es die Joghurtschwundnacht, das große Brotbelagsterben und den Exodus der Tiefkühlpizza. Aber alle diese Ereignisse konnte ich auf Mitbewohner oder Gäste schieben. Einer meiner Gäste hat sich noch Jahre später bitterlich darüber beklagt, dass ich den Kühlschrank bei seinem Besuch nachts verschlossen und mit einem Pentagramm gesichert habe. Das Pentagramm hatte ich – mit wilden Flüchen versehen – wirklich mit einem Edding auf den Kühlschrank gemalt, aber die Kette hätte man samt Schloss in aller Ruhe vom Kühlschrank streifen können. Aber mein von Freßsucht gepackter Besuch hat soweit nicht gedacht (was mein Glück war).

Von jenem jungen Mann, den ich auch heute noch kenne, bekam ich dann Jahre später eine nette CD geschenkt, auf der auch ein Stück namens „Mein Freund, der Kühlschrank“ drauf ist. Den Wink habe ich verstanden, und er bekommt bei mir inzwischen immer tagsüber soviel zu essen, dass ihn nachts nicht der Hunger packt.

Mysterium 3 beschäftigt mich seit einigen Wochen. Ich bin ziemlich groß, und schon früh hat meine Mutter Dinge, die ich nicht finden sollte, einfach in das oberste Regal des Kühlschranks ganz nach hinten gestellt. Sie ging zu Recht davon aus, dass ich nicht vor dem Kühlschrank in die Knie gehe, sondern einfach das herausnehme, was ich sofort sehen kann. Irgendwann hat sie mir den Trick erzählt, und seit dem schaue ich immer mal wieder in die geheimen Eingeweide von Kühlschränken. Und dabei ist mir etwas aufgefallen: Auch Lebensmittel wissen, wann sie sterben müssen. Es gibt auch hier einen „Elefantenfriedhof“; voll mit Elfenbein beziehungsweise Verpackungsmüll.

Wenn der Joghurt das Ende nahen fühlt, dann zieht es ihn in die hinterste Reihe des Kühlschranks. Der Quark und der Käse machen Platz, und auf seinem letzten Gang begleiten den Joghurt die guten Wünsche der anderen Lebensmittel. Wenn die Nudeln kurz davor sind, grün zu werden – schon fangen Butter und Wurst an, die mit Nudeln gefüllte Tupperdose nach hinten zu schieben. Und wenn es wirklich große Helden sind, die sterben, dann werden sie sogar von Regal zu Regal nach unten weitergereicht.

Vielleicht ist es auch Ehrfurcht vor dem Übergang des Lebensmittels in eine neue Zustandsform? So wie sich Zivilisationen – glaubt man der „Science Fiction“ a la „Perry Rhodan“ – von einer planetengebundenen Zivilisation irgendwann zu Superintelligenzen entwickeln, so entwickeln sich Lebensmittel zu Schimmelkulturen. Und diese Schimmelkulturen entwickeln irgendwann einmal Raumfahrt und ein eigenes SETI-Programm zur Kontaktaufnahme mit Wesen außerhalb des Kühlschranks. Aber vorher werfen wir die Dosen natürlich weg. Schade eigentlich.

Was will ich Dir mit meinen etwas wirren Aussagen über Kühlschränke und die damit verbundenen Mysterien sagen?

Erstens: Dinge sind nicht immer einfach zu klassifizieren. Kühlschränke lassen sich als Gegenstände klar einordnen; ein Ding ist immer Kühlschrank oder Nicht-Kühlschrank, aber nie Halb-Kühlschrank und Halb-Bett oder Halb-Elfe. Und für Kühlschranke als Gruppe kann man Fragen oder Probleme ansprechen, die nicht alle mystisch oder nicht-mystisch sind. Also kann man Kühlschränke von verschiedenen Blickwinkeln betrachten – genauso auch die Frage nach Atlantis, magische Amulette und Wandkalender.

Zweitens: Probleme tauchen oft an Orten auf, die man für sicher hält – und manchmal sind Orte sicher, die man für problematisch hält.

Drittens: Ich mag es nicht, wenn man nachts meinen Kühlschrank leer isst.

Alles Gute und guten Appetit,

Dein Homo Magi

 

Hi Ho Silver Lining

Lieber Salamander,

im Moment denke ich mal wieder über den Tod nach. Nicht über meinen, keine Angst, sondern über den Tod an sich. Und ich denke über Geschichten nach, die in meiner Umwelt geschehen sind und mit dem Tod zusammenhängen.

Wie die meisten Menschen meines Alters habe ich schon Freunde und Bekannte durch den Tod verloren. Krebs, Aids, Altersschwäche; aber auch durch Autounfälle. Eine Geschichte will ich Dir erzählen. Vielleicht, um Dir etwas über das Sterben zu erzählen. Vielleicht aber auch nur, weil ich die Geschichte mal wieder erzählen will, um sie ein Stück weiter von meiner Seele zu haben. Und vielleicht auch nur, um die Erinnerung wach zu halten.

Während meines Studiums war ich in der Studentenvertretung für die Ausrichtung der Feiern zuständig. Natürlich waren das – wie für eine Hochschule typisch – wüste Feten im Keller, bei denen es laute Musik, eine Bar und viele lustige Menschen gab. Ich bin heute noch im Rückblick der Meinung, dass die besten Feten meines Lebens fast alle in diesem Keller gefeiert worden sind (abgesehen von den Feiern in meiner Wohngemeinschaft – aber das ist eine andere Geschichte ...).

Doch nach der Durchführung einiger Feten spürten wir als Studentenvertretung, dass ein wenig die Luft rauszugehen drohte. Die Leute waren nicht mehr davon begeistert, dass wir immer wieder das gleiche Programm abspulten. Also überlegten wir uns etwas neues: eine Themenfeier.

Schnell hatte sich ein Organisationskomitee aus drei Männern herauskristallisiert – zwei meiner Freunde und meine Wenigkeit. Wir einigten uns auf das Thema „die 70er Jahre“ als Fetenhintergrund. Dann verteilten wir die Aufgaben. Das organisatorische Rückgrat musste hergestellt werden – Anlage, Getränke, Hausmeister, Anmeldung bei der Verwaltung etc. Dann mussten wir uns um die Plakatierung kümmern, den Termin in die entsprechenden Blätter setzen usw. Und natürlich ging es darum, das ganze mit einem besonderen „Touch“ zu versehen.

Wir hatten einige lustige Ideen. Wir wollten selber Disk Jockey spielen, weil wir diesen Musikstil natürlich ausgewählt hatten, da er uns selbst gefiel. Und bei dem Vortreffen, bei dem diese Entscheidung fiel, beschäftigten sich ein Freund und ich damit, dem zweiten Freund Musikbeispiele vorzuspielen. Wir waren sehr euphorisch, und das eine Stück, auf das wir drei andauernd abfuhren, war „Hi Ho Silver Lining“ von Jeff Beck.

Damals gab es noch keine CDs, wir wechselten bei der Fete sogar noch zwischen zwei Plattenspielern und einem Kassettenrecorder hin und her. An diesem Vortreffen haben wir die Nadel immer wieder vor „Hi Ho Silver Lining“ gesetzt und das Stück noch einmal gehört. Und noch einmal. Und noch einmal.

Der Tag der Fete brach an. Die Planung sah vor, dass wir uns an diesem Tag nicht sehr oft vor der Feier sehen würden. Der eine war Bier holen, der andere verlegte Kabel, der dritte räumte Stühle aus dem Weg – das Übliche halt. Und so wunderten mein Freund und ich uns erst zwei Stunden vor dem Einlass zur Feier, dass unsere Nummer Drei verschollen war. Nun, in so Situationen hat man wenig Gelegenheit, vom Originalplan abzuweichen. Und der konnte jetzt nur noch mit einem „Augen-zu-und-durch“ gerettet werden. Wir suchten uns Leute, die seine Aufgaben mit übernahmen. Jemand fuhr noch schnell einkaufen, jemand anderes kümmerte sich um den Aufbau der Zapfanlage etc.

Komischerweise hatten wir nicht einmal Muße, auf ihn pissig zu sein. Wir rödelten wie die Bekloppten, und so waren wir dann auch einige Minuten vor dem Beginn des Einlasses fertig.

Die ersten zwei oder drei Stunden der Fete waren ein voller Erfolg. Es hatte alles noch so geklappt, wie wir uns das vorgestellt hatten. Die Musik lief, das Bier und andere Getränke gingen in Scharen über den Tresen, die Leute waren gut gelaunt und alles verlief wie geplant. Der Kostümwettbewerb wurde dadurch veredelt, dass der eine oder andere ziemlich offensichtlich Mamas oder Papas Kleiderschrank geplündert hatte. Die Leute sahen echt groovy aus.

Nun, gegen 23.00 Uhr kam ein Bekannter von uns bei der Anlage vorbei. Er sah scheiße aus, und wir mussten auch nicht lange fragen, was passiert war – er redete ohne Aufforderung. Da nachmittags niemand von uns beiden zu erreichen war, hatte man ihn informiert. Unser Freund war auf dem Weg zu irgendeiner Besorgung für die Fete von einem Lastwagenfahrer von seinem Fahrrad geholt worden. Der Laster hatte ihm den Kopf zerdrückt; er lag jetzt im Koma auf der Intensivstation. Natürlich hat es uns beiden die Stimmung verhagelt. Unser Bekannter machte sich gleich wieder davon. Er hatte es uns schon vor Stunden ausrichten wollen, aber irgendwie hatte er es nicht geschafft, sich genug zu sammeln, um seine Wohnung zu verlassen. Das war für unsere Fetenvorbereitung sicherlich besser ...

Wir zwei standen also vor einem Dilemma. Der Keller war voll mit einigen Hundert Leuten, der Saal kochte, wir zwei waren die DJs – und wollten eigentlich nur noch Rotz und Wasser heulen. Ich weiß nicht mehr, wer von uns beiden dann meinte, dass wir eigentlich nur nach dem Motto „The show must go on!“ weiterarbeiten könnten. Unser Freund hatte sich tierisch auf die Fete gefreut, und irgendwie war es unsere Aufgabe, die Feier ihm zu ehren durchzuziehen.

Wir zogen sie durch.

Nachts um 3.00 Uhr räumten wir dann die letzten Gäste aus dem Keller. Wir wischten, wir fegten, wir bohnerten. Gegen 4.00 Uhr morgens waren nur noch eine Handvoll Leute da, und das Letzte, das wir nicht demontiert hatten, war die Anlage. Wir zwei schauten uns an und hatten den selben Gedanken: „Hi Ho Silver Lining“. Wir legten das Stück auf, drehten die Boxen volle Pulle auf, tanzten wie die Irrsinnigen und heulten wie die Schlosshunde. Es war sicherlich ein gespenstischer Anblick, aber es war das, was wir zwei in diesem Moment für richtig hielten. Für uns war es richtig und es passte zu der Situation.

Es war ein Abschied. Wir erfuhren erst zwei Tage später, dass er nicht mehr zu Bewusstsein gekommen war. Er starb in dieser Nacht, gegen 4.00 Uhr morgens. Mir tut der Gedanke gut, dass er starb, als die Fete vorbei war und wir für ihn „Hi Ho Silver Lining“ spielten und für ihn tanzten. Ich habe nie wieder für einen Toten getanzt, aber vielleicht werde ich es das nächste Mal tun, wenn ein Freund von mir stirbt. Oder singen oder ein Gedicht aufsagen. Auf jeden Fall werde ich nicht wie alle anderen nur in schwarzem Anzug am Grab stehen und weinen. Das ist mir zu wenig für Menschen, die mir viel bedeutet haben.

Und es ist auch nicht meine Art. Vielleicht ist es das, was ich in dieser Nacht gegen 4.00 Uhr morgens erkannt habe. Dass es egal ist, was die anderen über den Anblick eines tanzenden, weinenden Mannes sagen. Die einzigen zwei Menschen, die das verstehen konnten, sahen mir doch zu. Der eine war in der anderen Ecke der Tanzfläche und tat dasselbe wie ich. Der andere schwebte irgendwo zwischen uns beiden, lächelte uns kurz zu und verschwand.

Alles Gute Dir, wo immer Du auch bist, werter Freund. Ich denke heute immer noch an Dich, wenn ich die Platte abspiele. Ich hoffe, dass es Dir recht ist, was ich hier geschrieben habe. Den Tod kann ich akzeptieren; es sind die Verluste, die schmerzen. 

Salamander, kleine Maus, alles Gute. Ich gehe jetzt meinen Plattenspieler anstellen.

 

Dein Homo Magi

 

Ritual

Lieber Salamander,

 Yule steht vor der Tür, und die Heiden fangen an, sich Gedanken darüber zu machen, was in den nächsten Tagen passieren soll. Die Weihnachtseinkäufe sind fast erledigt, und die Vorbereitung des Rituals, die man so lange vor sich hergeschoben hat, drängt sich mit nicht zu stoppender Macht in den Vordergrund des Bewusstsein.

Dieses Mal will ich Dir nicht erzählen, was ich unter einem Ritual verstehe, sondern ich will zwei Wortführerinnen zitieren. Wenn man etwas hat, mit dem man sich auseinandersetzen kann, ist es oft einfacher, die eigene Position zu bestimmen. Nach einigem Bücherräumen habe ich mich für zwei Werke entschieden. Erstens für Starhawks „Mit Hexenmacht die Welt verändern“[1] und für „Zaubergarn“ [2] von Luisa Francia. Ich hoffe, dass diese Auswahl Dir gefällt.

Was sind Rituale? Warum sind sie von Bedeutung? „Eines der wichtigsten Werkzeuge derjenigen, die Kultur neu weben, ist das Ritual. In der zerstückelten Welt leben wir in einem Teufelskreis todbringender Muster. Das Ritual kann uns helfen, eine Kultur des Lebens neu zu entwickeln.“[3] „Ritual ist der Urschoß der Kunst; seine Wasser speisen weiterhin die Kreativität.“[4]

Richtig, vollste Zustimmung. Das gemeinsame Feiern, das gemeinsame Zelebrieren einer ritualisierten Handlung (!) schafft Nähe und Zuneigung, verbindet und bindet. Und das Ritual ist kreativ – man feiert ein Fest, aber die Art und Weise, wie man das Fest feiert, ist nicht strikt vorgegeben. Natürlich sollte man im Winter nicht unbedingt mit Gewächshaustulpen um sich werfen – aber warum nicht, wenn man dafür eine gute Geschichte hat?

Wann feiert man ein Ritual? Es gibt für mich zwei Gründe, ein Ritual zu feiern. Der erste Grund ist die Koppelung an ein immer wiederkehrendes Ereignis. Der klassische Fall ist hier der Mondrhythmus. Zu jedem Vollmond feiere ich mein Vollmondritual, oder – dem Sonnenjahr folgend – Tag- und Nachtgleiche etc. Der zweite Grund ist die Markierung eines wichtigen Ereignisses, das nicht besonders terminlich festgelegt ist. Diese wichtigen Ereignisse sind z.B. Geburt und Tod, aber auch Geschlechtsreife (Mannbarkeit ist schon ein eigenartiges Wort, oder?), Ehe (wie immer man das Ding auch nennen mag) und die Weihe von Priestern. „Die Übergänge, die eine Kultur mit Ritualen markiert, werden als wichtig erachtet; diejenigen, die ohne weiteres Aufsehen verstreichen, werden zu Nicht-Ereignissen.“[5] „Wenn wir es versäumen, eine wichtige Veränderung in unserem Leben zu markieren und zu feiern, wird dieser Übergang entwertet, unsichtbar gemacht.“[6]

Auch hier meine vollste Zustimmung.

Wie feiert man ein Ritual? Hier befindet man sich in einem eigenartigen Spannungsfeld zwischen „feste Regel“ und „lockerer Rahmen“. Ein Ritual sollte einem bestimmten, wiedererkennbaren Muster folgen, wenn man es über einen längeren Zeitraum immer wieder mit den selben Personen feiert. Aber es sollte auch nicht in seinen Regeln erstarren, sondern das Ritual muss lebendig bleiben. Kein Teil darf sakrosankt sein, aber kein Teil darf sich andauernd ändern. Im Widerspruch dazu steht z.B. die Liturgie des Gottesdienstes der evangelischen Kirche. Hier sind bestimmte „Bausteine“ des Ablaufs immer fest, während andere Bausteine (z.B. die Predigt und die zu singenden Lieder) wechseln. Aber es führt nicht dazu, dass der Gottesdienst „atmet“. Das Ritual muss leben, wenn es Energie transportieren soll.

Eine Ablaufvorgabe kann ich nicht machen, die zwingend (!) sein sollte. Ich kann einen Ablaufvorschlag machen, der sich für mich bewährt hat.

Als Erstes reinige ich mich. Das geht so weit, dass ich vor Ritualen kein Fleisch esse. Kurz vor dem Ritual erde ich mich und versuche danach, einen „heiligen Raum“ um mich zu schaffen – oder um die ganze Gruppe, wenn das vorher so abgesprochen worden ist. Wenn jemand einen Kreis für die Gruppe zieht – gut. Wenn nicht markiere ich mit dem Fuß um mich herum einen Kreis, der für mich zugeschnitten und für mich gemacht ist. Das langt schon, um mich zu schützen – ist aber nur sinnvoll, wenn jeder beschlossen hat, für sich selbst einen Kreis zu ziehen. Ein gemeinsamer Kreis, der z.B. von einem Kreiswächter gezogen wird, hat Vorteile.

Danach würde ich immer die vier Himmelsrichtungen anrufen. Die Zuteilung der Elemente (Feuer, Wasser, Erde, Luft) auf die vier Seiten mag willkürlich geschehen oder nach geheimnisvollen, uralten Regeln – wenn man sich an irgendeine Vorgabe hält, dann gibt diese Vorgabe Sicherheit und einen Rahmen, in dem man problemlos agieren kann.

Dann kommt die Anrufung. Schön fand ich folgendes Zitat: „Geschichtenerzählen ist das Herzstück jedes Rituals.“[7] Und das ist richtig. Nur wenn der Mythos als persönliche Geschichte erlebbar wird, nimmt er einen Platz in unserem Leben ein.

Erlebbare Geschichte? Wie soll das funktionieren? Die großen Themen der Welt kommen immer wieder, wenn auch in veränderter Form, im Lauf der Geschichte vor. Geburt, Tod, Angst, Hoffnung, Liebe, Hass, Krankheit, Schwangerschaft, Ehe usw. – das sind die großen Muster, die immer wieder auf dem Teppich der Weltgeschichte auftauchen. Und sie tauchen auch – wenn auch nicht vielleicht alle oder alle für uns sichtbar – in unserem eigenem Lebensteppich auf. Und es sind Themen, die für uns wichtig, interessant sind. Und diese Themen sollten wir anhand von heidnischen Mustern bearbeiten, und sei es nur, weil wir selbst Heiden sind. Und da bietet sich ein Steinbruch von Bildern an, den wir benutzen können: „In Märchenbüchern finden sich oft schöne Ritualvorschläge. Ein Orakel auf dem Grab der Mutter durchzuführen, kann so wunderbar sein, wie auf die Schwelle spucken und sie zu bitten, unliebsame Besucher fernzuhalten. In Märchen gehen die Hauptfiguren in den Wald und rufen nach geheimen Vorschriften Geister und Zauberer, finden Schätze und tanzen mit Elfen. Alle diese Märchenerzählungen sind auch Beschreibungen von funktionierenden Ritualen, wir brauchen nur Phantasie und Lust, sie selbst auszuprobieren.“[8]

Dem kann ich nur zustimmen. Selbst jemand, der noch nie ein Ritual gemacht hat, sollte sich selbst mit einem gezogenen Kreis schützen können. Er sollte sich vorstellen können, wie die vier Himmelsrichtungen um ihn herum liegen und ihn beschirmen. Er kann sich „Hänsel und Gretel“ vorstellen als hoffnungsvolles Bild für ein Ende der Einsamkeit, oder „Zwerg Nase“ als Hinweis dafür, dass auch Menschen, die ausgegrenzt werden, über Zauber und Fähigkeiten verfügen können. Oder oder oder.

Such Dir selbst ein Bild, und verwende es!

Danach wird das Ritual rückwärts wieder aufgelöst. Die Elemente werden verabschiedet etc., und ganz am Ende wird der Kreis wieder aufgelöst. Sehr empfehlen kann ich danach eine gemeinsame Feier mit etwas zu essen und zu trinken, wo man das Ritual dann in lockerem Rahmen ausklingen lassen kann.

„Mag sein, daß keine dieser Handlungen für sich genommen sehr wichtig ist; mit Sicherheit ist keine Handlung allein ausreichend. Doch die Anhäufung solcher Handlungen, ihre stetige Wiederholung über längere Zeit wird die Antworten auf die Erwartungen des Systems verändern, und infolgedessen wird sich auch das System ändern müssen.“[9]

Dem kann ich mich nur anschließen!

Und in Zukunft werde ich immer mal wieder aus Büchern zitieren, wenn Dir das recht ist. Immerhin bin ich nicht der einzige kluge Kopf im Universum ...

Alles Liebe,

Homo Magi

 

Weihnachten

Lieber Salamander,

jedes Jahr ist der Termin von Weihnachten für die meisten Menschen offensichtlich überraschend. Zwar ist Weihnachten kein beweglicher Feiertag, der nach Mondständen berechnet wird, und auch wird er nicht in relativ kurzer Zeit vor dem Termin festgelegt. Aber nichtsdestotrotz gibt es jedes Jahr Menschen, die von Weihnachten überrascht werden. Und diese kaufen dann – sowohl in Erwartung der sozialen Stigmatisierung beim Nicht-Vorhandensein von Geschenken als auch in Erwartung des Hungertodes wegen der zwei Feiertage über Weihnachten – wie die Wahnsinnigen ein. Spielzeuggeschäfte und Modeläden sind bald für den normalen Kunden „off limits“, wenn er nicht Schlangen an der Kasse in Kauf nehmen will, die das Mitnehmen eines mittleren Taschenbuches zur Überbrückung der Wartezeit rechtfertigen. Und der Besuch von Lebensmittelgeschäften wird zur Lotterie. Gibt es noch Gemüse? Kann ich noch Reste von Nudeln erwerben? Wird noch Kaffee verkauft? Weihnachten ist scheinbar der große Plan einer Clique von Wirtschaftswissenschaftlern, die uns einmal im Jahr an die mageren Jahre der knappen Versorgung nach dem zweiten Weltkrieg erinnern wollen.

Zwar droht dem wenigsten Menschen über Weihnachten eine Mangelernährung, aber es scheint Fälle zu geben, in denen eine Ausstattung der Tiefkühltruhe mit Gemüse nur dann als ausreichend erscheint, wenn die letzten Reste dieser Vorräte bei sparsamer Verwendung bis in den April des nächsten Jahres hineinreichen.

Ich gebe zu, dass die Raunächte für einige Menschen bedrohlich sein können. Aber dass deswegen die allgemeine Versorgung zusammenbricht, ist doch eher unwahrscheinlich. Und selbst wenn die Zivilisation, so wie wir sie kennen, nach Weihnachten zusammenbricht – ohne Strom ist die beste Tiefkühltruhe sinnlos, und der Erwerb von Schusswaffen wäre dann wohl sinnvoller als der Erwerb von Tiefkühlenten.

Nun, ich erinnere mich düster an einen Krimi, in der eine Frau ihren Mann mit einer Tiefkühlkeule erschlägt und diese nachher dem Kommissar vorsetzt. Aber ich glaube, dass solche sinisteren Pläne in den wenigsten Fällen der Auslöser für die Kaufwut sind.

Vielleicht ist es auch so, dass man sich zwischen den Jahren (schöner Begriff, nicht wahr?) vollfrisst, um nicht unvorbereitet auf einmal über sein Leben nachdenken zu müssen. Die Raunächte sind ein schöner Zeitpunkt, um zu sich zu finden und nachzudenken. Und vielleicht wollen das gar nicht alle Menschen. Sicherlich ist dies in einigen Fällen so bedrohlich, dass man lieber eine Ente pro Tag isst und dann vollgestopft in der Ecke herumliegt, anstatt über sich und sein Leben nachzudenken.

Ein Freund von mir ist konsequent: Er nimmt zwischen Heiligabend und den heiligen drei Königen (6. Januar) keine Termine an, weil er in seiner Wohnung sitzen und allein sein will. Okay, es gibt sicherlich auch Tage im Jahr, in denen Alleinsein nicht unbedingt Melancholie heißen muss, sondern positive Kräfte wecken kann.

Eine Freundin von mir hat eine andere Theorie angestoßen. Die meisten Menschen reden doch über den Geist der Weihnacht, ohne über ihn nachzudenken. Sie gab von sich, dass doch eigentlich Weihnachten der langweilige Termin für die christliche Mythologie ist. Geboren werden schließlich alle Kinder, inklusive dem Messias. Ich möchte mich jetzt nicht über die strittige Frage seiner Zeugung auslassen, aber die wird Weihnachten auch nicht gefeiert. Schön wäre natürlich ein Feiertag namens „Marias Befruchtung“, aber da müssen wir wohl noch eine Weile drauf warten – wäre natürlich schön, die damit verbundenen Riten in Augenschein nehmen zu dürfen ...

Aber Weihnachten ist für die christliche Mythologie eigentlich der unwichtige Termin. Interessant ist Ostern, das Mysterium aus Tod und Überwindung des Todes. Denn nur Götter, Halbgötter oder Heroen sterben nicht, sie überwinden den Tod und kommen wieder.

Wie viele antike Mysterien beschäftigen sich mit dem Sterben und der Wiederkehr des Helden bzw. der Heldin? Wer muss nicht in die Schattenwelt steigen, in die Anderswelt eindringen und wiederkehren, um seinen Status zu bezeugen bzw. zu erhalten? Der Tod ist doch das Mysterium, von dem wir alle keine Kunde erhalten. „Wie wir vor dem Tod nie sicher sind, wird die Angst nicht enden.“[10]

Weihnachten ist ein Fest, an dem ein Mysterium gefeiert wird, das Geburt heißt. Ein Mysterium, sicherlich. Doch dieses Mysterium ist nur der Beginn eines Weges, der für uns Menschen mit dem Tod endet. Zwischen beiden Mysterien bewegt sich unser Leben – außer für jene, die Lernen, den Tod anzunehmen. In welcher Form auch immer das geschehen mag – die christliche Weihnachtsfeier ist die falsche Vorbereitung.

Naja, die Raunächte werden auch Dich beschäftigen. So wie mich. Die Winde wehen, die Geister heulen, die Reiter ziehen durch die Nacht. Eine schöne Zeit, um Nachzudenken. Warum nicht über die Geburt, warum nicht über den Tod?

Alles Liebe,

Dein Homo Magi

 

Wasser

Lieber Salamander,

mit Temperaturen wird man nicht nur im Winter konfrontiert, doch im Gegensatz zu „ziemlich warm hier“ ist „ziemlich kalt hier“ eine unangenehme Mitteilung.

Wir Menschen definieren unsere Temperaturen über Grad Celsius. Nun gut, dabei müssen wir von den USA absehen. Aber wie es bei einer Weltmacht üblich ist, beschränkt sich ihre Holzköpfigkeit nicht nur auf die Entfernungsangaben, sondern auch auf eine eigene Temperaturmessung (in Fahrenheit), die man als Europäer nicht unbedingt verstehen muss. Schön sind die Umrechnungstabellen in Kochbüchern, wenn Angaben in Fahrenheit drin stehen.

Also, ich muss mich wohl korrigieren: Wir Europäer definieren unsere Temperaturen über Grad Celsius. 0° Celsius ist dabei der Wert, bei dem Wasser friert, 100° Celsius ist der Punkt, an dem Wasser verdampft. Zwischen diesen beiden Werten bleibt Wasser dankenswerterweise im flüssigen Aggregatszustand. Bei mehr als 100° Celsius erfahren wir den aus dem Wasserkocher bekannten Effekts des Dampfes, bei unter 0° Celsius wechselt Wasser schlagartig in den festen Zustand über, vereist Straßen und Wege und fällt als Schnee vom Himmel.

Der Temperaturbereich, den wir Menschen überleben, umfasst etwa so viel Grad wie der flüssige Zustand des Wassers – wenn er auch ein wenig verschoben ist. Ich will nicht wirklich bei + 50° Celsius die Wohnung verlassen, und ich will auch bei – 50° Celsius nicht raus. Aber dazwischen bewegt sich doch ziemlich weitreichend der Temperaturbereich, den ich kenne.

Temperaturen von über 40° Celsius kennen wir auch im Sommer in Deutschland, bis zu 45° Celsius kenne ich nur, weil ich mal einen Sommer auf Sardinien verbracht habe (von Saunen und ähnlichen künstlichen Extremerfahrungen will ich hier einmal absehen). Auch Temperaturen von – 20° Celsius sind machbar, wie ich vor einigen Tagen in der Rhön erfahren durfte. Ich selbst kann mich an Temperaturen erinnern, die so um die –25° Celsius gelegen haben müssen. Dann ist es schon nicht mehr lustig, wenn man mal rausgehen möchte. Ganz im Gegenteil – jedes Körperteil, das mit der Kälte in Kontakt kommt, beginnt sofort zu schmerzen.

Also: 75° Celsius Temperaturunterschied kann ich schon beurteilen. Und was mache ich selbst dabei? Ich bleibe immer noch ich, bleibe immer noch Mensch mit einer dünnen Haut und zerbrechlichen Knochen. Und was macht das Wasser? Nicht nur, dass es der Hauptindikator für kalt oder warm ist – wenn es draußen schneit, wenn die Straßen vereist sind, dann wissen wir, dass es Winter ist etc. Und in diesen 75° Celsius Temperaturunterschied verändert das Wasser einmal seinen Aggregatzustand. Wenn ich einen einfachen Tee machen, dann zwinge ich das Wasser dazu, noch einmal einen anderen Zustand anzunehmen.

Wasser ist überall. Wasser macht einen großen Teil meines Körpers aus. Die Anwesenheit von Wasser oder die Abwesenheit von Wasser bestimmten weite Teile unseres Lebens. Ist noch was zu trinken da? Ist der Swimming Pool voll? Hat es geschneit? Kocht das Wasser schon? Alles Fragen rund um das Wasser.

Da denke ich Tage, nein Wochen über obskure magische Probleme nach. Und dann stelle ich fest, dass in jedem Schneemann mehr Mysterien zu stecken scheinen, als ich in einem Leben lösen kann. Wasser. Nur Wasser. 

Salamander, es tut mir leid, aber es geht Dinge, die muss ich nicht verstehen. So was überlasse ich weiseren Wesen als mir.

 Dein Homo Magi

 

Obdachlose

Lieber Salamander,

in den letzten Tagen war es bei uns schweinekalt. Vielleicht ist es so, dass einem Menschen, die bettelnd am Straßenrand sitzen, mehr auffallen, wenn diese Menschen auch noch frieren und wohnungslos sind. So bösartig das klingen mag: Aber im Sommer scheinen wir Obdachlosen einen gewissen Charme zuzugestehen, der irgendwo zwischen Zigeuner- und Räubermentalität liegt, doch im Winter ist es uns schon klar, dass wieder einmal Obdachlose erfrieren werden.

Wir als deutsche Gesellschaft lösen die alternativen Lebensformen auf. Wir vernichten die wilden Zeltplätze, reglementieren das Herumziehen und kontrollieren von der Meldepflicht bis zum Aufenthaltsbestimmungsrecht die Wanderwege der Menschen in unserem Land. Wenn jemand als Arbeiter gebraucht wird, dann ist sein Umzug auf einmal legitim. Wenn jemand einfach zu einem Menschen zieht, den er liebt, oder gar nur aus dem Fenster einmal eine andere Landschaft sehen will – schon schlagen die Restriktionsmechanismen zu, und wir erfahren, wo der Staat die Grenze für die Unterstützung solcher Vorhaben zieht.

Jeder weiß, dass es Obdachlose gibt. Wer kennt sie nicht, die Männer, die in den Großstädten am Rande der Straße sitzen, einen Hut oder eine Mütze zwischen den Füßen, auf einer Decke sitzend, ein Pappschild umklammernd, auf dem dann Sätze stehen wie „Unschuldig in Not geraten“ oder „Ohne Unterkunft und ohne Einkommen“. Die meisten dieser Menschen verdienen mehr als mein Mitleid. Ich gebe immer mal wieder Geld, und ich habe es mir angewöhnt, die Selbsthilfeorganisationen der Obdachlosen zu unterstützen. Und sei es nur, in dem ich ihre selbstproduzierten Zeitungen kaufen, von deren Verdienst immer ein paar Teile auch an den Verkäufer selbst gehen.

Menschen geraten immer wieder in Situationen, in denen sie ihr Leben nicht meistern können. Tod der Partnerin, Verlust der Wohnung, Verlust der Arbeitsstelle. Das Wegbrechen eines ganzen Wertesystems hat in der ehemaligen DDR viele Menschen auf die Straße oder gar in die psychiatrischen Anstalten getrieben.

Ärgerlich ist es immer wieder, wenn man in Filmen erblicken darf, wie das „Ideal“ des Bettlers überhöht wird. Ein ärgerliches Beispiel der letzten Wochen war der Film „Kismet“ mit Marlene Dietrich. Hier gibt es doch ernsthaft einen Bettlerkönig, der dann am Ende auch noch seine Tochter mit dem Herrn der Stadt verheiraten durfte.

Ich glaube nicht daran, dass am Betteln etwas romantisches ist. Wer bettelt, der lebt in Not und braucht Hilfe. Wir als Staat haben große Schwierigkeiten damit, dieses Angebot organisiert zu bekommen. Ich erinnere mich an Kommunen, die ihre Obdachlosen mit Bussen über die Gemeindegrenze gefahren haben, damit sie woanders Geld beantragen müssen.

Kann ich selbst denn ausschließen, dass es Ereignisse geben würde, die mich so aus der Bahn werfen, dass ich auf der Straße landen würde? Im Moment ist es in meiner Lebenssituation unvorstellbar, aber ich kann mir ausmalen, dass es Gründe geben könnte, die mich über eine Kette von einzelnen Ereignissen auf der Straße enden lassen.

Ich traue mir heute zu, dass ich wenigstens versuchen würde, dann eine Art „Viking Funeral“ für mich zu organisieren – „going down in flames“. Für mich wäre dann ein Berserker-Ansatz das Richtige, an dessen Ende ich von zehn Polizisten einer Spezialeinheit erschossen werde. „Was Flaches mit Action“ zum Ende. Aber ich kann Dich beruhigen – im Moment scheine ich von so Dingen eher nicht bedroht zu sein.

Warum erzähle ich dir das? Wenn du dich wirklich für das Heidentum und die Magie interessierst, dann muss dir klar sein, dass ein solcher Ansatz nur dann Sinn macht, wenn er auf alle Menschen ausgeweitet werden kann. Auf alle! Eine Gesellschaftsveränderung, die zwar einigen auserwählten Naturnähe, Heidentum und Magie bringt, aber eben nicht allen Menschen, ist für mich nicht interessant. Alle Menschen sollen die Möglichkeit haben, nach ihren Bedürfnissen zu leben und nach der Erfüllung zu suchen. Alle Menschen, nicht nur eine ausgewählte Gruppe.

Deswegen gebe ich den Obdachlosen ab und an mal Geld. Wer weiß – vielleicht fängt sich mein Gegenüber und wird der spirituelle Lehrer des 21. Jahrhunderts? Da ich es nicht ausschließen kann, bleibt es für mich weiter Möglichkeit. Und Geld, das kann man doch sowieso nicht auf die andere Seite mitnehmen. Aber vielleicht bin ich später mal ganz froh, wenn ich am Tor von Walhalla oder wo auch immer ein paar Obdachlose habe, die für meinen guten Leumund Eide abzulegen bereit sind.

Verzeih, dass ich ein wenig depressiv bin. Aber Kälte und Dunkelheit drücken auf die Stimmung.

Dein Homo Magi

 

Heidentum und Traditionen

Lieber Salamander,

in den letzten Tagen und Wochen beschäftige ich mich mal wieder – wenn auch etwas von außen gezwungen – mit der Frage der Traditionen in der deutschen Heidenszene. Du wirst dich sicherlich noch erinnern, dass meine Kommentare in diesem Bereich die weiten Möglichkeiten der Satire schon lange hinter sich gelassen haben. Normale Menschen kann man mit Satire treffen, Heiden offensichtlich nicht. Alles, was man hier satirisch überhöhen könnte, ist nämlich wahr.

Aber ich drücke mich eigentlich mit meiner Einleitung nur um ein paar erläuternde Worte zu den Traditionen. Das Thema ist mir wichtig, es brennt mir auf der Seele. Die richtigen Worte fallen mir trotzdem schwer. Ich will versuchen, meine Überlegungen in verständliche Sätze zu fassen.

Ich glaube, dass die Entwicklung, welche die heidnischen Traditionen in Deutschland in den letzten 50 Jahren genommen haben, ein Fehler ist. Anstatt das Gemeinsame im Heidentum zu betonen, lenken die Traditionen den Blick nur auf das Trennende. Anstatt das europäische Heidentum als polytheistischen Gegenentwurf den monotheistischen Offenbarungsreligionen gegenüberzustellen, beweisen die heidnischen Traditionen nur, dass heidnische Religionen am liebsten mit heidnischen Religionen konkurrieren.

Der Begriff „Tradition“ weckt Assoziationen zu einer geschichtlichen Verwurzelung, die nicht bewiesen werden kann. Der immer wieder als Grund herangezogene Mangel an historischen Belegen, hervorgerufen durch eine über tausendjährige Vorherrschaft des Christentums in weiten Teilen Europas, führt dazu, dass die Abwesenheit von Beweisen zum Regelfall einer Erklärung wird, während vorhandene historische Belege aus verschiedenen Gründen ignoriert werden.

Ich kann ohne die organisierten Traditionen leben, aber ich weiß, dass sie für viele Heiden eine prägende Rolle gespielt haben. In meinem Leben gab es eine Zeit, in der ich ohne meinen Kreis und einen gemeinsamen religiösen Hintergrund auf heidnischer Basis sicherlich einen anderen Lebensweg genommen hätte. Ob der genauso erfüllend gewesen wäre wie mein jetziges Leben darf bezweifelt werden. Für meine Person bleibt ein Interesse an heidnischen Glaubensgemeinschaften. Doch dieses Interesse ist für mich an vier Bedingungen geknüpft, deren Realisierbarkeit es am Einzelfall der Tradition zu überprüfen gilt.

1. Eine heidnische Tradition darf nicht versuchen, nur vor-christliches Heidentum wiederzubeleben, sondern sie muss versuchen, heidnischen Glaubens- und Lebensformen für das 21. Jahrhundert zu formulieren.

2. Heiden sind in Deutschland eine Minderheit, sie werden es zu meinen Lebzeiten weiterhin bleiben. Verteilungskämpfe der Heiden untereinander machen in dieser Position keinen Sinn, sie Schwächen nur die heidnische Position. Ich sehe eine Zukunft nur im gemeinsamen Heidnischen, nicht im trennenden.

3. Zum gemeinsamen Erbe des europäischen Heidentums gehören nicht nur die immer wieder beschworene nordische, germanische oder keltische Mythologie, sondern zum Beispiel auch der Glauben der historischen Slawen, Griechen, Römer.

4. Europa und seine Geschichte sind für mich nicht ohne Humanismus und Aufklärung denkbar. Wer glaubt, in Menschenbild oder Ideologie hinter die Errungenschaften an Freiheit und Mitbestimmung der letzten vierhundert Jahre zurückfallen zu können, der hat meiner Ansicht nach durch die Versteifung auf die Vergangenheit das Recht verloren, an der Gestaltung der Zukunft mitzuwirken.

„Hugh, ich habe gesprochen!“

Dein Homo Magi

 

Tägliche Arbeit

Lieber Salamander,

ich bin wieder einmal dabei darüber nachzudenken, welcher Arbeit ich eigentlich nachgehe. Nicht, dass mir meine tägliche Arbeit keinen Spaß macht. Ich mache meine Arbeit gerne und ich habe eine Stelle, die sogar für jemanden ausgeschrieben ist, der meine Ausbildung gemacht hat. Also werde ich in einem Bereich eingesetzt, für den ich qualifiziert bin. Mein Gehalt erscheint regelmäßig auf meinem Konto, und auch die Arbeitsstätte ist von meiner Wohnung aus einfach zu erreichen. Morgens und abends bin ich weniger als zehn Minuten unterwegs, um zur Arbeit zu kommen.

Nein, das ist es nicht, worüber ich mir Gedanken mache. Es sind zwei ganz andere Themen, über die ich nachdenke. Das eine ist religiöser Natur, das andere hat etwas mit meiner Lebensplanung zu tun.

Wie kann ich mir eine heidnische Arbeitswelt vorstellen? Überhaupt nicht. Unsere Kultur ist in ihren Arbeitsbedingungen von einer heidnischen Kultur so weit wie nur irgend möglich entfernt. Wir haben keine heiligen Orte oder Kultstätten in unseren Fabriken und Firmen. Unsere heidnischen Feiertage werden von keiner Firma dieses Landes unterstützt. Ich habe einen Bekannten, der in einer Autowerkstatt arbeitet und dort zum Vollmond jeweils einen Urlaubstag bekommt, damit er seinen Riten nachgehen kann. Er hat es geschafft, die Regeln des Systems (die Urlaubstage) mit seinen religiösen Vorstellungen (den Vollmondfeiern) in Einklang zu bringen. Nicht alle Arbeitgeber weisen soviel Flexibilität und guten Willen auf. Aber scheinbar ist es möglich, diese Klippe in der modernen Gesellschaft zu umschiffen.

Die Teilung zwischen Lehrstand – Nährstand – Wehrstand (ich weiß, dass diese Begriffe ideologisch belastet sind – folge einfach noch ein paar Schritte meiner Argumentation und fasse etwas Vertrauen zu meinen Denkstrukturen) ist auch ein Problem. Die heidnischen Kulturen (überhaupt alle Kulturen vor der Industrialisierung) werden in Film und Literatur so beschrieben, als hätte es nur drei Stände gegeben. Einen Lehrstand, bestehend aus Priestern und Gelehrten, einen Wehrstand, bestehend aus Kriegern, und einen Nährstand, der aus Bauern bestand. Wenn man etwas differenzierter mit dem Thema umgeht, dann ist man vielleicht bereit darüber nachzudenken, dass es auch noch Handwerker gegeben haben muss, welche die notwendigen Geräte für den täglichen Bedarf, die Schreibutensilien und die Waffen hergestellt haben. Die Verteilung dieser Stände scheint sich in unserer Einschätzung ganz realistisch darzustellen – der größte Teil waren Bauern, der kleinste Teil Priester und Gelehrte. Sicherlich wären die meisten Heiden meiner Meinung, was diese Einschätzung betrifft.

Wenn man jetzt die deutschen Heiden mit einer großen Maschine in eine Parallelwelt versetzen würde, in der es eine große, menschenleere mittelalterliche Stadt samt Umland (auch menschenleer) gibt – wie würden sich die Heiden auf die Berufe verteilen? Unsere kleine, heidnische Welt ist doch durchsetzt von selbsterklärten Priestern und Gelehrten sowie einer Handvoll Barden und Heilern. Wo sind sie hin, die Kesselflicker und Löffelschnitzer, die Grobschmiede und Metzger, die Bäcker und Küfer? Jämmerlich verhungern würden wir alle; diese heidnische Parallelwelt hätte größte Schwierigkeiten, den ersten Winter zu überleben.

Ich bin nun ein Mensch, der eine Geisteswissenschaft studiert hat. Auch meine religiösen Interessen beschäftigen sich mit Gedanken – dem Nachdenken über den Glauben, dem Erklären von Dingen, wie ich sie sehe, dem Diskutieren über Gott und die Welt. Ich bin auch einer von jenen, die in dieser Parallelwelt hungern müssten, wenn sie niemanden finden, der für ihre Gaben mit Kartoffeln zahlt. Aber vielleicht mache ich den Fehler, dass ich in Hobby und Freizeit ähnliche Bereiche belege – den Bereich des Geistes.

Ab und an versuche ich, diese Bewegung zu konterkarieren. Ich lerne seit nunmehr zwei Jahren ein Instrument, ich versuche, mich durch Bewegung fit zu halten, ich bin dabei, mal wieder mit dem Rauchen aufzuhören. Das sind alles Versuche, mit dem „Körper-Teil“ meines Lebens besser zu Rande zu kommen. Aber das macht mich zu keinem Handwerker und schon gar nicht zu einem Krieger.

Lehrstand – mehr scheint mir nicht übrig zu bleiben hüben wie drüben. Aber damit kann ich leben, weil ich mir denke, dass es wirklich so zu sein scheint, dass meine Talente eben in diesem Bereich liegen. Aber ich habe im Laufe der Jahre auch gelernt, meinen Dünkel gegenüber Handwerkern und Bauern abzulegen. Eine Kultur – und schon gar eine heidnische Kultur! – kann nicht ohne diese Berufe überleben. Und eine elitäre Priesterschaft, die sich in der Gegenwart nicht mit Klempnern, Müllmännern, Verkäuferinnen oder Lagerarbeitern abgeben will, hat für mich ihre Berechtigung verwirkt.

Nun, das ist aber nur ein Teil meines Problems. Der andere Teil ist, dass ich mehr und mehr mit meiner Arbeitsstelle unzufrieden bin. Nicht mit meiner von mir betreuten Gruppe oder meinen Kollegen. Aber die Strukturen der Arbeit sind im sozialen Bereich bei vielen Stellen so angelegt, dass Innovation nicht wirklich erwünscht wird. Die Kombination von betriebswirtschaftlichen Grundsätzen und einem pädagogischen Ansatz ist immer schwierig. Ich bin manchmal bereit, für einen Teilnehmer Schritte zu unternehmen, die finanziell in keinem Verhältnis zu seinem Anteil an dem Verdienst aus der ganzen Maßnahme stehen. Aber nicht jeder Teilnehmer braucht die selbe intensive Betreuung, und manchmal ist es einfach wichtiger, einen Menschen zu retten als das Konto meines Arbeitgebers zu füllen.

Aber mit dieser Ansicht stehe ich scheinbar immer mal wieder alleine, wenn ich in Strukturen nach oben schaue. Auf der selben Ebene erhält man noch Zustimmung für solche Ansichten. Doch schon auf der nächsten „Führungsebene“ werden solche Argumente abgelehnt, hinweg diskutiert oder im Papierkram erstickt. Und wenn man merkt, dass die inhaltliche Arbeit an den Strukturen zu scheitern droht, sollte man versuchen, die Strukturen zu verändern. Das habe ich jetzt drei Jahre lang – mit einigem Erfolg – versucht. Aber jetzt ist wieder einmal der Punkt, innezuhalten und mir anzuschauen, wie meine Situation ist. Und da komme ich zu einem einfachen Denkergebnis: Entweder ändere ich weiter die Strukturen oder ich verlasse diese Strukturen und suche mir einen neuen Arbeitgeber.

Es wird Frühling, werter Salamander. Also habe ich wieder Energie, um mich neuen Projekten zuzuwenden. Wir werden sehen, was daraus wird. Ich werde Dich weiterhin informieren, mein kleiner Lurch.

Dein Homo Magi

 

Fragen über Fragen

Lieber Salamander,

Du fragst mich immer wieder, warum ich gegenüber dem wunderbaren technischen Geschenk des 20. Jahrhunderts, dem Computer so skeptisch eingestellt bin. Nicht ganz liebevoll nenne ich meinen eigenen PC gerne „meine Schreibmaschine mit Extras“, und so gehe ich auch damit um.

Aber ist es nicht auch so? Bedenke doch immer, woher ich komme und wer ich bin. Angefangen habe ich in einem Schreibmaschinenkurs (mit 13 Jahren), in dem die Tasten der mechanischen Schreibmaschine noch mit bunten Kappen bedeckt waren, damit man wirklich blind schreiben musste und nicht die Tasten nach der Beschriftung unterscheiden konnte. Danach kamen dann die ersten elektrischen Schreibmaschinen, Korrekturflüssigkeit und Korrekturband. Wahre Monstren waren das. Aber ich habe immer gerne den Kugelkopf gereinigt, weil dafür gab es einen Knetball, der innerhalb nur einer Benutzung zu einem schmuddeligen schwarzen Ding wurde, wenn man die ganze Sache richtig angefasst hat.

Die weitere Entwicklung führte dann über den Schneider PC meines Bruders und diverse C64er und C128er hin zum PC. Eine Entwicklung, bei der die Schreibmaschinenfunktion des Rechners nur im Bereich der Formatierung besser geworden ist. Um es etwas böse zu formulieren: Früher habe ich meine Beiträge getippt und an ein Magazin geschickt. Das Layout wurde dort professionell erstellt. Heute denkt jeder, er wäre der König der Formatierungen, erstellt sein eigenes Layout und muss dann damit leben, dass sein Werk dilettantisch aussieht.

Nebenbei eine nette Analogie zur praktischen Magie, oder? Ich übergehe mehr und mehr Grundlagen bei der Ausbildung und versuche am Ende, mit einem möglichst raffinierten Gerät die Effekte zu erzielen, die ich früher nicht selbst erzielen wollte oder musste oder mit anderen (einfacheren) Mitteln erzielt habe. Um wieder zur Technik zurückzukehren: Eine Schreibmaschine hat keinen Systemabsturz, sie geht eigentlich nur mechanisch kaputt, muss nicht gekühlt werden und frisst im besten Falle keinen Strom.

Nun, die Probleme, die ich mit der Technik habe, gehen aber noch weiter. Daten, die man einfach erhebt, sind Quatsch, wenn man sie in keinen Kontext stellt. Das Internet ist ein riesiger Basar voll mit Angeboten. Sicherlich ist es so, dass das Wissen der Menschheit im Internet zugänglicher wird. Aber das Internet stellt keine Fragen, es gibt von sich aus keine Hinführung zu den wesentlichen Dingen.

Die Fragen, die muss man vorher kennen. Das Internet ist eine Art riesiger Bibliothek ohne Register. Ich kann zwar einen Begriff als Frage eingeben, aber ich erhalte Antworten über Antworten über Antworten. Doch ist auch die richtige Antwort dabei? Im Internet stehen doch Esoterikseiten neben Technikseiten neben Literaturseiten. Und mein Suchbegriff fräst sich durch alle diese Werke durch und entdeckt Lyrik, Sachbuch, technische Anleitung und Pornoseite – solange sie meinen Suchbegriff enthalten. Ob dies das Ziel der ganzen Angelegenheit war, wage ich zu bezweifeln.

Das Internet macht es wichtiger als jemals zuvor, dass man sich darüber klar ist, was man eigentlich fragen will. Und die Frage sollte man erst stellen, wenn man sie präzise formulieren kann. Und dann – so behaupte ich einfach einmal – können ein Magier, ein Konversationslexikon oder das Internet die selbe Frage beantworten. Aber die Antwort des Magiers wird den magischen Kontext einer auf Magie gezielten Frage besser beantworten, das Konversationslexikon wird den kulturellen Kontext der Frage klarer herausarbeiten und das Internet wird einem Antworten geben, die man nicht gesucht hat – auch wenn vielleicht die richtige Antwort dabei ist.

Die Frage zu meiner Schreibmaschine ist doch eindeutig: Was will ich produzieren? Ich schreibe Texte, kümmere mich aber nicht darum, wie sie im Layout oder im Druck aussehen sollen. Weder das Erstellen einer Druckvorlage noch das Erstellen einer Internetseite gehören zu meinen Fähigkeiten. Der rohe Text wird von mir geliefert, ob jetzt als Ausdruck, als Datei auf einer Diskette oder als Dateianhang an einer Mail. Den Rest übernehmen andere, die dafür besser geeignet sind. Vielleicht reduziert dieser Ansatz die Zahl der optisch schlechten Seiten im Internet ein wenig ...

Bei der Schreibmaschine ist es einfach so, dass ich weiterhin gerne mit der Schreibmaschine arbeiten würde. Was ich am Computer genieße, das sind die Korrekturmöglichkeit (früher war es ein echtes Problem, wenn ich einen Artikel um 20 % kürzen sollte – heute kann ich das in aller Ruhe am Rechner machen und brauche den Text nicht noch einmal abtippen) und die Möglichkeit, Daten schnell per Mail oder per Post durch Disketten zu verschicken. Diese beiden Möglichkeiten sind eine klare Verbesserung hin zu meiner Schreibmaschine. Der Rest ist oft nur Beiwerk, Tand, den ich überhaupt nicht benutze.

Definiere ich mich über die Fragen, die ich stelle, oder über die Antworten, die ich geben kann? Sind nicht die Antworten von den Fragen abhängig? Wer nie die richtigen Fragen stellt, der wird nie Weisheit erlangen. Ich halte das Fragen für wichtiger als das Antworten – schon gar, da es wahrscheinlich mehr Fragen als Antworten gibt. Und das Internet ist ein Medium für Antworten, kein Medium für Fragen. Von daher ist es meine Aufgabe, dir beim Fragen zu helfen. Was ich hiermit tue.

Alles Gute,

Dein Homo Magi

P.S.: Wenn du wirklich Fragen stellen willst und meiner Theorie über das Internet noch skeptisch gegenüberstehst – hier drei Fragen aus dem Bereich der Magie, die du gerne mal durch Suchmaschinen schleusen kannst. Erstens: Wie belege ich den Logennamen „Aharis“ für Goethe? Zweitens: Was wurde aus der Loge „Stella Matutina“? Drittens: Was ist das Voynich-Manuskript und wer verfasste es?

 

Mein anderes Ich

Lieber Salamander,

ich weiß nicht, was mich bewogen hat, damit anzufangen, Dir Dinge zu erklären. Klar, ich habe Gründe genannt. Eine Menge Gründe. Aber ich bin dem tatsächlichen Grund nicht sehr nahe gekommen.

Es ging auch darum, dass ich nicht länger schweigen konnte. Das Reden, das Erklären, das Lehren, das aus mir mehr oder weniger „hervorbrach“, wurde aus einer Quelle gespeist, die ich Dir bis heute nicht zeigen konnte. Oder ehrlicher: nicht zeigen wollte.

Seitdem ich ein kleines Kind bin, habe ich das Gefühl, dass um mich herum Wesen sind, die keiner außer mir sehen kann. Zumindest hat es lange Jahre gebraucht, bis ich begriffen habe, dass es Menschen gibt, die diese Wesen sehen können. Der Begriff „Schutzengel“ ist mir zu oft missbraucht worden. Ich halte es da eher mit Meyrink, dessen Bote oder Lotse meiner Idee oder Vorstellung deutlich näher kommt. Ein Wesen, das mit mir verwoben ist, in vielen Zügen Teil von mir ist und eher in der unsichtbaren als in der sichtbaren Welt existiert.

Diese Idee wird Dir nicht neu sein. Ich habe sie schon einige Male geäußert; Du weißt sicherlich auch, dass ich der okkulten Ideenwelt von Meyrink sehr nahe stehe. Daher sollte Dir die Begrifflichkeit nicht ganz neu sein. Doch zurück zum eigentlichen Thema meines Briefes. Dieses Wesen, bleiben wir ruhig weiterhin beim Begriff des Lotsen, begleitet mich, seitdem ich ein kleines Kind bin. Anfangs war es immer nur das Gefühl, dass ich im Dunkeln nicht alleine war. Ich brauchte nur meine Hand ausstrecken, und schon war da jemand, der sie ergriff und festhielt. In schwierigen Situationen fühlte ich manchmal eine Hand, die sich von hinten auf meine Schulter legte. Oder es war nur das Gefühl der Wärme einer anderen Haut auf der Wärme meiner Haut, das mich in Momenten der Angst oder Unsicherheit unvorbereitet traf.

So, als würde man im Bett neben einer schönen Frau aufwachen, weil man sie gespürt hat. Man weiß nicht mehr, wie sie aussieht, und der Raum ist dunkel. Man weiß nicht mehr, wie man hierher gekommen ist. Aber man riecht ihren Duft, die ganze Luft im Raum atmet ihr Aroma aus, und ihre Wärme stempelt einem die Erkenntnis auf, dass man nicht alleine ist. Ein eigenartiges Gefühl, das trotzdem sehr vertraut ist.

Ich bin ein Dickkopf. Zwar bin ich bereit, die Existenz dieses Begleiters zu akzeptieren, aber ich höre ganz selten auf das, was er mir sagt. Oh, lieber Salamander, ich bin mir nicht wirklich sicher, dass es ein Mann ist. Aus den Jahren meiner christlichen Erziehung schien es mir einfach am glaubhaftesten, dass es sich um einen Engel oder Jesus selbst handelt. Jahre an Kindergottesdienst haben doch mein Vorstellungsbild geprägt. Als ich dann den Punkt erreicht hatte, zu erkennen, dass das Geschlecht meines Begleiters völlig egal ist, hatte ich auch keinen Grund mehr, mein Bild von ihm zu verändern. Für mich ist er Mann, weil es unwichtig ist, welches Geschlecht er hat, ich ihn aber zuerst in dieser Form erkannt habe.

Mein Begleiter ist sehr ruhig, sehr langsam und noch viel dickköpfiger als ich. Er hat all die Dinge gefördert, die ich gerne mache und die mir trotzdem schwer fallen. Das Schreiben, das Reden vor Gruppen, das Erklären meiner Ansichten zu Religion, Magie, Phantastik und anderen (verwandten) Themen. Ich bin nicht wirklich schüchtern, aber von meiner Wirkung auf Gruppen nicht immer überzeugt. Eigentlich ist es eine Art „Lampenfieber“, das mich jedes Mal packt, bevor ich etwas erkläre oder erläutere. Und eine panische Angst davor, verlacht zu werden ...

Aber er hat mich immer bestätigt. Und wenn ich jetzt zurückblicke auf die Jahre und Jahrzehnte, die wir gemeinsam verbracht haben, dann drängt sich mir die Erkenntnis auf, dass er mich nie mit Gewalt geführt hat. Aber er hat meine Hand gehalten und mich da unterstützt, wo er meinen Einsatz für sinnvoll hielt. Und er hat mir nicht geholfen, wenn er nicht der Ansicht war, dass ich das richtige tue.

Er ist ein Teil von mir, ich bin ein Teil von ihm. Wenn wir zwei eins werden, dann bin ich hüben und drüben ein lebendiger Mensch. Bis dahin muss ich also lernen, das zu akzeptieren, was er mir sagt und zeigen will. Er ist schweigsam, weil ich rede. Er ist langsam, weil ich schnell bin. Er erfühlt Dinge, die ich mir mit meinem Verstand erschließe. Er ist nicht von mir separiert, sondern Teil von mir. Fleisch von meinem Fleisch, Geist von meinem Geist, Seele von meiner Seele.

Dass ich hier sitze und darüber schreibe, wie ich glaube und Magie verstehe – das habe ich ihm zu verdanken. Wir sind getrennt, doch nicht geschieden.

Und ich nehme mir im Moment vor, mehr auf ihn zu hören. Weil er mich bis jetzt gut geleitet hat. Und weil ich keine Angst vor ihm habe.

Salamander, mein kleiner, goldiger Lurch – wie geht es Dir damit? Hast Du auch einen „Schatten“, ein zweites Wesen, ein „anderes Ich“, ein Krafttier, einen Schutzengel, der zu Dir spricht? Dann überlege mal in Ruhe, ob diese Empfehlungen nicht gut für Dich sind und Du mehr auf sie hören solltest. Aus ihnen spricht wahrscheinlich ein Geist, den wir in unserer technischen Welt viel zu selten hören. Oder dem wir viel zu selten erlauben, zu unseren Ohren vorzudringen ...

Ich denke sehr an Dich.

Dein Homo Magi

 

Gebote und Verbote

Lieber Salamander,

am Rosenmontag saß ich auf meinem reservierten Platz 666 (Wagen 6, Platz 66) im Zug und las „Die Gnosis des Bösen“ von Stanislaw Przbyszewski. Während ich aus dem Fenster auf die Landschaft Nordhessens schaute erkannte ich, wie eigenartig meine momentane Situation war.

Ein heidnisches Fest: Fasching (mag man davon halten, was man will), die Vorteile der Gesellschaft des 21. Jahrhunderts (ein moderner Zug), ein paar satanische Symbole (666, das Buch) – ein Mix, der nur in einer freien Gesellschaft ohne Repressionen möglich ist. Mir fallen eine Menge Kritikpunkte an „meinem Staat“ ein – das wäre mal ein Thema für einen eigenen Brief. Aber mir fielen auch Freiheiten ein, die ich genieße. Es gibt kaum verbotene Bücher. Ich kann frei reisen und frei meinen Wohnort wählen. Ich werde wegen meiner Weltanschauung oder meines religiösen Bekenntnisses nicht verfolgt und die Teilnahme an heidnischen Veranstaltungen – hier: Fasching bzw. Karneval – wird nicht reglementiert, in diesem einen Fall sogar gesellschaftlich akzeptiert und regional gefördert.

Und doch: Eine satte Zufriedenheit mit den Zuständen meiner Heimat konnte dieser nachdenkliche Moment nicht erzeugen. Beim süßen Kuchen der politischen Realität bleibt für mich als Magier ein säuerlicher Nachgeschmack. Und dieser Nachgeschmack geht nur weg, wenn ich mir überlege, was ich wirklich ändern würde, wenn ich die Macht hätte, die entsprechenden Änderungen durchzusetzen. Meine Vorschlagsliste ist sicherlich nicht vollständig, aber ich äußere mich, um mit Dir in eine Diskussion zu kommen.

Und meine Liste ist hoffentlich frei von jenem „Feuer-Flamme-Schwert“-Enthusiasmus, der einen zu überkommen droht, wenn man gegen gesellschaftliche Windmühlen anstürmt. Nicht zu vergessen ist, dass die Formulierung von Geboten immer eine Regulierungswut nach sich zieht, während die Aufhebung von Verboten meist auf der bürokratischen Ebene unproblematisch ist.

Man denke nur an das einfache christliche Gebot des „Du sollst nicht töten“, das von einem Wust an Ausführungsbestimmungen überwuchert ist. Ich erinnere nur an Stichworte wie Sterbehilfe/Euthanasie, Mord/Totschlag und die Diskussionen um die Todesstrafe.

Umso länger ich über meine zu formulierenden Machtworte nachdenke, desto klarer wird mir, dass ich Bewusstseinsveränderungen nicht erzwingen kann. Niemand wird durch Zwang pazifistischer, ökologischer, sozialistischer oder heidnischer. Ich muss den Verstand schulen, eigene Entscheidungen zu treffen; ihn ermutigen, sich Wissen selbständig anzueignen und zu verarbeiten.

Am Ende meines Nachdenkens standen zwei Anweisungen, die ich in Besitz der Macht erlassen und durchsetzen würde, um danach die Macht niederzulegen.

1.  Strikte Trennung von Staat und Kirche.

2. Aufhebung aller Verbote von Medien für Volljährige.

Ein paar Worte der Erläuterung seien Dir vergönnt.

Zu 1.: Die Trennung von Staat und Kirche, die Säkularisierung, soll verhindern, dass eine Religion bzw. Weltanschauung – sei sie Christentum, Islam, Kommunismus oder Judentum – auf einen Staat durch seine Strukturen automatisch Einfluss ausübt. Kein Religionsunterricht in der Schule und keine Kirchensteuer wären zwei Stichworte hierzu. Der Staat ist für mich ein etwas ausgebauter „Nachtwächterstaat“, der sich mit Kernaufgaben beschäftigt, ohne eine religiöse Stellung einzunehmen. Davon unberührt bleibt das einzelne religiöse Bekenntnis eines Mandatsträgers, welches durch diese Regelung nicht tangiert wird.

Zu 2.: Wer volljährig ist, soll sehen, hören und lesen können, was er möchte. Davon ausgenommen sind Verstöße gegen bestimmte Gesetze, besonders beim Schutz von Schutzbefohlenen und im Bereich des Urheberrechts. Also bin ich weder für die Freigabe von Kinderpornographie noch für Samisdad-Raubdrucke von urheberrechtlich geschützten Werken. Alles andere wäre frei zugänglich. Zensur fördert nur die Neugier am verbotenen Zensierten. Vielleicht dient sie noch dazu, in der Abgrenzung zum Zensierten die Position des Staates festzulegen – wenn ein Staat keine Position haben muss oder gar soll, dann ist diese Festlegung unnötig.

Nur der freie Zugang zu allen Informationen erlaubt freie Entscheidungen. Der freie Wille kann nur in einem Gefüge freier Entscheidungen existieren.

Jetzt bin ich mit dir vom Zug am Rosenmontag bis zur Zensur gehechelt. Es gibt einen roten Faden, sicherlich. Ich hoffe, der rote Faden ist nicht nur eine karnevalistische Luftschlange. Und dieses Bild – vom roten Faden zur Luftschlange – sollte bis zum nächsten Brief reichen.

Gruss, Dein Homo Magi

 

Rufen und befehlen

Lieber Salamander,

es war wieder einmal Zeit, um mich den Mächten zu stellen, die ich als meine „Auftraggeber“ oder „Vorgesetzten“ begreife. Obwohl ich nicht an eine Hierarchie glaube, die vom „unbewegten Beweger“ als Chef bis zu mir hinunter reicht (und von mir aus weiter nach unten in kleinere, noch unbedeutendere Sphären ...), so benutze ich doch entsprechende Bilder.

Kräfte, die ich beschwöre, sind oft größer als ich. „Die Mächte, die ich rief“ sind gerufen, nicht befohlen. Wer gerufen ist, der kommt freiwillig – und nicht, weil ich ihn zwingen könnte. Daher mein Bild der „Vorgesetzten“. Nur: Bei den Winden, mit denen ich gerne rede, handelt es sich nicht klassisch um meine Vorgesetzten, sondern um Mächte „aus einer anderen Abteilung“. Vielleicht darf man sich das analog zu einer Dämonenbeschwörung des späten Mittelalters vorstellen. Der Dämon ist in bestimmten Bereichen mächtiger als der Magier, aber wenn ein Preis ausgehandelt und bezahlt sowie bestimmte Regeln eingehalten werden, dann erfüllt der Dämon brav seinen Arbeitsauftrag.

Ich stand auf einer Kuppe. Es war Nacht, Wolkenfetzen zogen über den Himmel, ein sachter Wind ging. Ein paar Sätze in Gedichtform hatte ich mir überlegt, um die Winde zu rufen. Die Winde kamen, um wie ein nebliger Wirbel um mich herum zu stehen, pro Himmelsrichtung einer. Ich sandte sie hinaus, das zu tun, was ich ihnen als Auftrag mitgegeben hatte. Sie gingen, doch dieses Mal zogen sie einen Schweif aus Luftwirbeln hinter sich her, der sich drehend und windend in alle Richtungen ausbreitete. Ein wie von Sternen durchzogener Nebel legte sich über das Land. Um mich herum sah ich ein großes, weites Land, das sich bis an die Enden der Welt vor mir streckte.

Und die Winde flüsterten in jedem Winkel der Welt, und Sturm und Brise hörten meine Worte. Die Luft war erfüllt vom Murmeln tausender und abertausender Winde, die untereinander und mit mir sprachen.

Das Gemurmel brach nicht ab, der Nebel riss nicht auf. Ich blieb stehen, drehte mich nur langsam im Kreis und schaute die Wunder der Welt.

Ich schaute eine Ewigkeit und doch nur einen Wimpernschlag.

Ich sah die Enden der Welt und doch nur den Rand des Hügels.

Ich schaute Winde ungezählt und doch nur die Nacht und den Himmel voller Wolken.

Die Welt sprach zu mir und lag doch still wie unter frischem Schnee.

Das Murmeln erlosch nicht, der Nebel hob sich nicht. Ich ging in einem Zustand verfeinerter Wahrnehmung, der sich jetzt – Tage später – noch nicht gelegt hat.

Salamander, ich wette, Du bist nicht überrascht, wenn ich Dir sage, dass ich verwirrt bin. Ich vermisse Deine Kommentare zu meinen Schilderungen. Denk an mich!

Dein Homo Magi

 

Kometenversicherung

Lieber Salamander,

ich habe manchmal den Eindruck, dass ich das falsche Feld gewählt habe, um reich und berühmt zu werden. Kürzlich kam mir aber eine brillante Idee, wie ich dieses Ziel doch noch erreichen kann: die Kometenversicherung! Das mag jetzt etwas irre klingen, aber ich behaupte einfach mal, dass ich mit dieser Versicherung bei Firmen Millionen verdienen kann.

Ich biete einer Firma an, dass ich sie für ein Jahr gegen den Einschlag von Kometen versichere. Und zwar versichere ich nur (!) Personenschäden, also ich zahle Unsummen, wenn einem Mitarbeiter oder mehreren Mitarbeitern Kometen auf den Kopf, Fuß etc. fallen. Natürlich ist – um ein Katastrophenszenario aufzubauen, das mir großen Zulauf von Kunden bringt – die Todesfolge bei Kometeneinschlag die größte Drohung, um reich zu werden.

Damit klar ist, von welchen Summen wir sprechen: Ich würde für eine Kometenversicherung pro 20 Mitarbeiter pro Jahr 5.000 Euro verlangen.

Du glaubst mir nicht, das ich dafür Kunden finden würde?

Nun gut. Unfallkosten sind für Firmen ein riesiger Kostenfaktor. „Sicherheit am Arbeitsplatz ist ein untrennbarer Bestandteil des Arbeits- und Produktionsprozesses.“[11] „Unter betrieblichen Unfallkosten sind diejenigen Kosten zu verstehen, die als Folge eines Arbeitsunfalles im Betrieb entstehen. Dazu zählen insbesondere die Kosten

  • für den zeitlichen Ausfall und die Lohnfortzahlung des Verletzten

  • für eine Ersatzkraft

  • für Produktionsausfall und Lieferverzögerung

  • für Erste Hilfe, medizinische Versorgung, Verletztentransport

  • für Unfallsachbearbeitung

  • für die Beseitigung von Sachschäden

  • für Prämienverluste oder Nachzahlungen an die Berufsgenossenschaft beziehungsweise Haftpflicht- oder Sachversicherer;

Untersuchungen haben gezeigt, dass je nach Art und Typ des Arbeitsunfalls pro Ausfalltag 1.000,00 bis 1.500,00 DM an Kosten für das Unternehmen entstehen.“[12]

Gehen wir jetzt davon aus, dass mein potentieller Versicherungsnehmer eine Firma mit 20 Mitarbeitern hat. Wenn jetzt ein Komet das Unternehmen auslöscht, dann braucht es – grob geschätzt – drei Monate, um das Personal zu ergänzen. Vom Wiederaufbau der Räumlichkeiten möchte ich nicht reden. Drei Monate sind – bei ungefähr 20 Arbeitstagen pro Monat – 60 Arbeitstage, die ausfallen. 60 Arbeitstage x 20 Mitarbeiter x 1.250 DM (der Mittelwert aus den beiden obigen Angaben) gibt einen Ausfall von 1,5 Millionen DM bzw. knapp 770.000 Euro. Und meine Versicherung wäre deutlich billiger als dieser Schaden – 5.000 Euro sind nicht einmal 0,65 % der Kosten bei einem Kometenschaden!

Diese Argumentation erscheint dir als etwas zu weit hergeholt? Es erscheint dir als nicht ganz legitim, eine solchen Gegenrechnung vorzunehmen? Nun, die Literatur zu diesem Thema ist da anderer Meinung:

„Weil nachgewiesen werden kann, daß eine Kostensenkung durch zusätzliche Arbeitssicherheitsaktivitäten im allgemeinen nicht zu erwarten ist, konzentriert sich das betriebswirtschaftliche Interesse auf die Kostenwirksamkeit solcher Aktivitäten. Es wird ein Meßinstrument gesucht, das ein ‚Controlling‘ des Arbeitsschutzes ermöglicht. Dazu wird die Frage nach dem betriebswirtschaftlichen Ziel des Arbeitsschutzes gestellt: dies besteht in erster Linie darin, Störungen im Arbeitsablauf zu vermeiden. Wir schlagen deshalb vor, die ‚durch Arbeitsunfälle ungestörte Arbeitsstunde‘ zur Effizienzmessung des Arbeitsschutzes heranzuziehen und die Kostenwirksamkeit der Arbeitsschutzaktivitäten anhand der Kennzahl ‚Arbeitsschutzkosten je ungestörte Arbeitsstunde‘ zu beurteilen.“[13]

Natürlich ist es nicht nett, wenn man – um eine genaue Messzahl für den Sinn von Arbeitsschutzmaßnahmen zu erhalten – parallel zwei identische Firmen aufbaut. In der einen gibt es Arbeitsschutz, in der anderen nicht. Man könnte jetzt in beiden Firmen z.B. Hämmer und Sägen herstellen, um dann nach einem überschaubaren Zeitrahmen von vielleicht zwei Jahren zu kontrollieren, in welchem Betrieb mehr Finger und Zehen den Weg alles Irdischen gegangen sind. Aber dies würde vielleicht als nicht so freundlich gelten ...

Aber auch die Effizienzmessung gibt mir und der Kometenversicherung recht. Die „Kosten je ungestörter Arbeitsstunde“ werden mit 0,383 DM für Arbeitsschutzkosten einer Musterfirma angegeben.[14] Meine Firma von oben hat bei 20 Mitarbeitern und 200 Arbeitstagen pro Person à 7,9 Stunden 31.600 Arbeitsstunden im Jahr. Bei 5.000 Euro Kosten für meine Kometenversicherung sind die Kosten pro Arbeitsstunde ca. 0,16 Euro oder 0,309 DM. Damit bin ich billiger als der klassische Arbeitsschutz. Und die paar Euro sollte einer Firma der Schutz ihrer Mitarbeiter gegen Kometen wert sein!

Sollte ein Komet auf eine Firma fallen, müsste ich natürlich zahlen. Aber dafür sollte ich mich selbst gegen den Schadensfall versichern – und wenn das billiger ist als 5.000 Euro im Jahr, dann ist die Differenz mein Gewinn. Und natürlich kann ich meine Kosten von der Steuer absetzen ...

Ich bin so stolz auf mich.

Dein Homo Magi

 

Fleisch der Erinnerung

Lieber Salamander,

mein Körper erinnert sich an alles, was in meinem Leben passiert ist. In meinem Gesicht sieht man die Linien, welche die Jahre gegraben haben. Meine Nase ist gebrochen, weil ich samt Großmutter und Kinderwagen umgekippt bin. Meine Haaren werden grau so wie die Haare meiner Mutter und meines Vaters grau geworden sind.

In meinem Ohr steckt ein Ring in einem Loch, das ich mir haben stechen lassen, um durch den Schmerz und die Erinnerung daran eine Frau zu vergessen, die ich geliebt habe. Sie war die erste Frau meines Lebens, die ich wirklich geliebt habe. Und ein Stift im Ohr ist eine gute Erinnerung an dieses Gefühl.

Meine Finger sind lang und schmal wie die Hände eines Mannes, der seit seinem 10. Lebensjahr Schreibmaschine schreibt und schreibt und schreibt. Wenige Narben sind auf meinen Händen, weil ich mich handwerklich noch nie gerne betätigt habe. Nur ein Schnitt ist in meiner linken Hand; ein Schnitt, der immer noch aussieht wie eine verblassende Mondsichel. Das ist die Stelle, an der Blut floss, als ich mit jemand anderem zusammen einen Eid schwor, der uns mit Blut aneinander band. Manchmal denke ich voller Freude daran, dass ein Tropfen meines Blutes noch in ihren Adern kreist und sie immer wieder an mich erinnert. Mein Leben lang bindet mich der Strich an sie. Wir haben eine gemeinsame Narbe – sie auf meinem Körper und ich auf ihrem Körper.

Auf meinem Bauch ist die Narbe, die ich vom einzigen Bruch meines Lebens behalten habe. Mein Bein ziert ein roter Fleck. Dort hat meine Mutter während meiner Pubertät Gewebe entnehmen lassen, weil sie glaubte, meine braunen Hautflecken wären bösartige Verwachsungen. Sie waren es nicht. Dafür habe ich statt dem braunen Fleck einen roten Kreis. Auch ein Tausch ...

Auf dem Oberschenkel habe ich eine kleine Narbe die mich daran erinnert, dass ich vor vielen Jahren Beifahrer bei dem Versuch war, mit einem Auto Pizza abzuholen. Wir sind – wie einige andere Fahrzeuge – von einem Auto gerammt worden, das von einem Betrunkenen gelenkt worden ist. Nachdem ich sicher war, dass meine Fahrerin und ich am Leben geblieben sind, habe ich das Chaos an der Unfallstelle verlassen und bin zur Telefonzelle gegangen um zu Hause mitzuteilen, dass die anderen die Pizza selbst holen müssen, weil sie sonst kalt wird. Mein Körper und mein Geist waren im Schock.

Meine Nägel speichern lange die Erinnerung. Es dauert Wochen oder Monate, bis ein weißer Fleck herausgewachsen ist. Einer meiner Zehennägel bleibt wohl für den Rest meines Lebens mit einem weißen Strich behaftet, weil jemand, der glaubte mein Freund zu sein, mir eine Lektion in Sachen Selbstverteidigung geben wollte. Mein Körper trägt für immer sein Mal.

Manchmal, wenn mich jemand berührt, dann erinnert sich mein Körper an Berührungen und Verführungen aus der Vergangenheit. Es gibt Lippen, die erinnern mich an Küsse, die ich vor vielen Jahren erhalten habe. Kleine Kinder, die ich im Arm halte, erinnern mich immer daran, wie sich meine kleine Schwester angefühlt hat, als ich sie das erste Mal im Arm halten durfte.

Nicht nur mein Gehirn erinnert sich, auch mein Körper speichert jede Erinnerung. Jahre habe ich gebraucht, um zu begreifen, dass es okay ist, wenn man Menschen berührt. Wenn ich Kratzer im Gesicht oder blaue Flecken auf dem Arm habe, dann heißt das doch nur, dass ich nicht weichgespült durch die Welt gehe. Ich berühre Wände, rempele gegen Geländer, trage Kisten, die mich kratzen, stoppe mal Schlägereien, in dem ich mich dazwischenwerfe oder quetsche mir die Hand beim Versuch, einen Schrank herumzuheben. Ich lebe, daher verändert sich mein Körper genauso, wie ich mich verändere.

Verstehe mich nicht falsch. Ich empfinde Schmerzen keinesfalls als angenehm oder erstrebenswert. Ich würde mir nie Schmerzen selbst beifügen oder beifügen lassen, um mich zu erregen. Und freiwillig lasse ich mir von niemandem weh tun. Jemand, der mich beißen oder kratzen darf, jemand der sich mit mir herumbalgt oder mit mir rangelt, der darf sicher sein, dass ich ihn sehr, sehr, sehr gern habe.

Genauso, wie niemand in die Tiefen meines Geistes eindringen darf, um dort seine Spuren zu hinterlassen, wenn ich ihn nicht zumindest sehr gerne habe, so lasse ich auch niemanden an meinen Körper heran. Aber die Spuren, die mein Körper trägt, die trägt er zumeist, weil ich es wollte oder zugelassen habe. Und bei meinem Geist ist das genauso.

Geist und Körper sind nicht getrennt, sondern eines.

Dein Homo Magi

 

Dämme brechen

Lieber Salamander,

wir gehen davon aus, dass die Erde ein bestimmtes magisches Energiepotential hat. Was würde nun passieren, wenn dieses Potential – durch welchen Einfluss auch immer – gehoben würde? Mir sind ein paar Denkansätze bekannt, in denen so etwas diskutiert wird. Im Fantasy-Rollenspiel-Bereich gibt es mit „Shadowrun“ (bzw. „Earthdawn“) ein Beispiel, in dem ein Ansteigen der magischen Konstante samt der damit verbundenen Veränderungen (Stichwort „Goblinisierung“ – die Umwandlung von Teilen der Menschheit in Goblins, Elfen, Drachen etc.) zum völligen Zusammenbruch der bekannten Zivilisation führt. Die Strukturen ordnen sich wieder neu, aber sie ordnen sich eben erst nach einer Phase des Chaos.

Für den Bereich der Science Fiction fällt mir mit Poul Andersons „Der Nebel weicht“ ein Beispiel ein, in dem der Austritt des Sonnensystems aus einem nicht näher definierten Energiefeld dazu führt, dass die menschliche Intelligenz ansteigt („IQ 500“). Menschen werden zu Übermenschen, Schwachsinnige werden zu normal begabten Menschen und Schimpansen und Gorillas fangen an, Sprachen zu entwickeln.

Was würde passieren, wenn die „magische Hintergrundstrahlung“ steigt? Steigt sie zu schnell, dann käme es zu dem, was Meyrink so gerne „kosmische Walpurgisnacht“ nennt. Wir wären alle begabt, aber niemand hätte gelernt, mit seinen Gaben umzugehen. Es gäbe überall funktionierende Magie, und alle niederen Gelüste und Gedanken würden ausgelebt. Die meisten Menschen sind in ihren Bedürfnissen eher einfach strukturiert – und das gehäufte Auftreten von Liebes- und Geldzaubern würde sicherlich zu einem Zusammenbruch der bestehenden Ordnung führen. Steigt diese Strahlung hingegen langsam, und können wir uns diesem Anstieg als Zivilisation anpassen, dann hätten wir eine Chance damit umzugehen.

Leider glaube ich nicht, dass wir uns zu einem „strahlenden Reich“ a la Atlantis entwickeln würden. Keine fliegenden Schiffe, die durch Gedankenkraft angetrieben werden, keine leuchtenden Städte, die von großen, hellen Sternen beleuchtet werden, keine großen, schönen Menschen, die frei von niederen Regungen ihr Leben leben und sich Kunst und Sport widmen.

Die meisten Menschen haben in ihren Köpfen und in ihren Bäuchen Dämme aufgebaut, die genauso hoch sind, dass die in ihnen inhärenten magischen Energien gerade eben in Zaum gehalten werden. Die wenigsten Menschen bauen Dämme viel höher, als sie benötigt werden. Die Krone der Wogen muss immer eine Handbreit unter dem Rand des Dammes liegen. Und hinter diesem Damm verstecken die Menschen alle jene Energien, die man eigentlich leben müsste, um frei und selbstbestimmt mit seinem Leben umzugehen. Bei manchen sind es ihre dunklen Wünsche und Ideen, bei anderen ist es die sexuelle Energie, die Gefühle oder einfach nur Erinnerungen, mit denen sie nicht konfrontiert werden wollen. Der Damm sorgt dafür, dass diese Energien in Zaum gehalten werden.

Ein dunkles Wasser ist es oft, das hinter dem Damm steht, und der Mond spiegelt sich nur selten in seiner Oberfläche.

Wenn jetzt die magische Hintergrundenergie ansteigen würde, dann würde auch in diesem Stauseen der Pegel steigen. Und oft, viel zu oft würde das Wasser über den Scheitel des Dammes laufen und mit seiner geballten Macht den Damm zerbrechen. Und das Wasser ergießt sich und schwemmt all das weg, was man in seinem Leben – im Glauben, vor dem Damm in Sicherheit zu leben – aufgebaut hat. Wenn dies passiert, dann kann sich ein nach außen hin erfolgreiches Leben in wenigen Augenblicken in eine Ruine verwandeln.

Würden wir selbsterklärten Magier, Hexen und Zauberer damit besser umgehen können? Ich weiß es nicht wirklich. Aber ich habe einen Verdacht. Wenn ich mir meinen Bekanntenkreis anschaue, dann wage ich zu behaupten, dass sich in meiner Umgebung eine Menge Leute befinden, die ihre eigenen Dämonen angeschaut und besiegt haben – doch diese Tat war unabhängig von der Feststellung, dass man Heide, Magier etc. ist. Wenn man seine Angst überwindet und konfrontiert, dann tut man das oft aus einem Gefühl der aktuellen Bedrohung heraus. Ein Unfall, eine Krankheit oder ein Todesfall reißen einem aus dem normalen Gefüge des Lebens und zwingen einen dazu, sich die eigenen Ängste vorzunehmen. Oder man stellt fest, dass das Leben auch hätte gerade vorbei sein können und man überlegt sich, was man in seinem eigenen Leben schon immer ändern wollte, ohne die Kraft dafür zu finden. Dies sind die Momente, aus denen heraus Leute ihr Leben umstellen und Veränderungen vornehmen. Und diese Momente zwingen Menschen, ihre Ängste zu konfrontieren und zu besiegen.

Ich will nicht leugnen, dass es Menschen gibt, die an dem Kampf gegen ihre Ängste zerbrechen. Doch würde ich weiterhin empfehlen, die eigenen Ängste anzugehen, auch wenn damit ein Risiko verbunden ist. Ich bin nicht wirklich leichtfertig, ich denke nur, dass der Gewinn größer ist als das Risiko des Verlierens.

Und Menschen, die sich mit Magie beschäftigen, haben eigentlich eine größere Verantwortung gegenüber ihrer Umwelt als „normale Menschen“. Homo Magi (wenn ich dieses Wort mal als Gattungsbegriff missbrauchen darf) haben Gaben, die sie zum Wohle der Menschen einsetzen sollten. Und bei ihnen ist es unter diesem Aspekt gesehen wichtiger als bei normalen Menschen, dass sie ihre eigenen Fähigkeiten einsetzen, ihre eigenen Ängste zügeln, ihre eigenen Fehler erkennen lernen. Wer Verantwortung für andere Menschen übernimmt bzw. ihnen helfen will, der muss wissen, wo die blinden Stellen auf dem eigenen Spiegel sind.

Noch einmal: Ein dunkles Wasser ist es oft, das hinter dem Damm steht, und der Mond spiegelt sich nur selten in seiner Oberfläche.

Noch einmal zurück zu meiner etwas eigenartigen Anfangsfrage nach der möglichen Steigerung des magischen Hintergrundpotentials. Ich habe keinerlei Hinweise darauf, dass dies in den nächsten Tagen und Wochen passieren wird. Weder sehe ich strahlende Kometen auf uns zukommen, die unser Leben verändern, noch glaube ich daran, dass die Erde in ein neues Haus, ein neues Zeitalter oder einen neuen Zustand eintritt. Aber ich halte es für möglich, dass so etwas passieren könnte. Und Möglichkeiten sind doch das Salz in der Suppe der Wirklichkeit. Ohne Möglichkeiten zu bedenken lohnt es sich nicht, Alternativen durchzuspielen, werter Salamander. Und Alternativen sind es doch, die wir den Menschen bieten wollen, oder?

Alles Gute,

Dein Homo Magi

P.S.: Ein wenig habe ich dich „der Argumentation halber“ betrogen. Natürlich habe auch ich einen Damm. Und auch ich habe einen dunklen See, in dem sich der Mond selten spiegelt. Aber es ist – das verspreche ich Dir – ein kleiner See, und er wird langsam kleiner und kleiner. Den Boden kann ich manchmal sehen, wenn die Sterne sich im Wasser spiegeln.

Aber dieses Wasser ist brackig, gallig fast, und es ist der Rest eines großen Stausees. Wie Gift ist dieses Wasser, und ich pumpe es so schnell ab, wie ich kann. Aber ich bin nur ein Mensch mit den Grenzen, die Menschen haben.

 

Dämme brechen II

Hallo Salamander,

letzte Woche habe ich mir darüber Gedanken gemacht, was passieren würde, wenn auf einen Schlag das magische Energiepotential der Erde steigen würde. Meine Überlegungen scheinen dir nicht alle eingegangen zu sein – oder du hast einfach nicht verstanden, was ich sagen wollte. Also habe ich dieses Mal eine andere Form gewählt, die einer „Geschichte aus der Zukunft“.

Fünfzig Jahre nach dem Tag, an dem das magische Energiepotential der Erde anstieg, begann der Tag für mich genauso wie die letzten Jahre. Meine Knochen machten nicht mehr so mit, wie ich mir das wünschte. Für einen Mann von über 90 war ich immer noch gut beieinander. Das Tanzen wurde zwar langsam beschwerlich, und wenn ich längere Strecken zu gehen hatte, verließ ich mich doch gerne auf meinen treuen Stock. Aber Magie und Heilkunst hatten dafür gesorgt, dass ich meinen Lebensabend bei guter Gesundheit und geistiger Klarheit begehen konnte.

Die Feierlichkeiten zum Jahrestag des „magischen Dammbruchs“, wie der Tag gerne in den Zeitungen genannt wurde, würden sich in diesem Jubeljahr sicherlich ein wenig von den üblichen Feiern unterscheiden. Ein Feuerwerk gab es jedes Jahr, genauso die üblichen langen Reden. Aber die Zahl der Überlebenden wurde von Tag zu Tag kleiner, und es war abzusehen, dass in spätestens 20 Jahren niemand von der „ersten Generation“ würde erzählen können – die Drachen einmal ausgenommen.

Es war über Nacht passiert. Auf einmal war die Magie überall. Einige Menschen konnten zaubern – nicht alle, weil bei vielen die Gaben verschüttet waren. Heute hatten wir in den Kindergärten einen Magieranteil von fast sieben Prozent, damals lag der Anteil der Bevölkerung, der mit Magie umgehen konnte, weit unter einem Prozent. Aber dieses eine Prozent hatte ausgereicht, um die Erde über Nacht ins Chaos zu stürzen.

Die Menschen konnte mit der Magie nicht immer etwas anfangen. Vom Machtrausch beseelt töteten sie die, die sie schon immer hatten töten wollen. Magier – nicht nur Männer, sondern auch Hexen, Zauberinnen, Feen und wie sie sich alle nannten – töteten, verwüsteten, missbrauchten, knechteten, zerstörten. Die dunkelsten Emotionen traten an die Oberfläche der Seele und übernahmen die Kontrolle über den Körper, von den dunklen Wassern in der Seele mit dem Willen zur Vernichtung gespeist.

Die ersten Wochen waren grässlich. Im Nachhinein habe ich den Eindruck, dass ich nur damit beschäftigt war, Leute vom Umkippen durch Schlafmangel abzuhalten, Selbstmörder von ihrer Tat abzuhalten (oder es zu lassen – nicht immer muss man Menschen zwingen, am Leben zu bleiben), Feuerwehren zu helfen, Drachenodem zu löschen und Menschen zu sagen, dass sie keine Monster sind, nur weil sie Magie anwenden können.

Aber wie sagt man das einer jungen Frau, die dummerweise ihre Magie entdeckte, als ihr Freund das erste Mal mit ihr schlafen wollte. Von ihm war nicht viel übrig geblieben, als sie mit ihm fertig war. Ihre – äh – sexuellen Vorlieben sind zwar eigenartig, aber sie lebt immer noch. Einmal im Jahr treffen wir uns bei diesen Jahrestagen. Sie lebt in einem der heidnischen Klöster, die überall im Land entstanden sind, und trägt das ab, was sie für ihre Schuld hält. Aber sie hat es geschafft, ein glückliches Leben zu führen. Das ist mehr, als man über manche andere sagen konnte.

Freunde habe ich verloren und Freunde dazu gewonnen. Aber wichtig war am Ende nicht der einzelne Mensch, sondern das Überleben der Gesellschaft. Andere Länder hatten andere Schwierigkeiten mit dem Erstarken der Magie. Bei uns dauerte es eine Weile, bis wir die magischen Traditionen anwenden konnten, die aus unserer eigenen Geschichte eigentlich bekannt waren. Für mich ist es überhaupt nicht überraschend, dass die heutigen Zauberer wieder die Gebrüder Grimm und Hauff lesen. Diese Entwicklung hat sich doch abgezeichnet, oder? Auch viele esoterische Literatur des 20. Jahrhunderts steht auf den Leselisten der Schulen. Ich selbst war es, der eine Kampagne dafür angeführt hat, Chesterton im Unterricht zu lesen. Mein Gott, was für ein Spaß!

Die ersten Jahre waren schlimm. Aber sie gingen vorbei. Andere Magiebegabte haben versucht, der ganzen Welt zu helfen. „Eine Magie für eine Welt!“ Ich hielt das für den falschen Weg und halte es auch noch heute für den falschen Weg. Dies hier war immer meine Stadt, und ihr galt meine ganze Liebe. Sie und der umgebende Wald – voll von Andachtsstätten und verwunschenen Lichtungen, deren Zauber durch den „magischen Dammbruch“ nur größer geworden war. Als ich jünger war habe ich manche Nacht unter dem Sternenhimmel auf magischen Lichtungen mit schönen Frauen verbracht.

Doch jetzt bin ich alt. Eigene Kinder habe ich keine. Die Gelegenheit dafür ist an mir vorübergezogen, als ich damit beschäftigt war, jahrelang nach meiner Stadt zu schauen. Aber viele Kinder wurden in meiner Umgebung groß, und sie nennen mich Onkel oder – manchmal – Vater. Und meine Schülerinnen und Schüler haben sich des magischen Erbes, das auf sie viel stärker übergegangen ist als damals auf mich, als würdig erwiesen. Ich bin für diese Geschenke sehr dankbar.

Und ich bin dieser Stadt sehr dankbar. In der Nacht, als alles verloren schien und der schwarze Kreis versuchte, diese Stadt zu zerstören, weil sie ihren Plänen zur Übernahme unserer Heimat entgegenstand – da haben alle Bürger der Stadt geholfen, die Stadt zu verteidigen. Jeder Magiebegabte – und ich meine wirklich jeder – hat geholfen, den Schirm zu stärken, den wir zwölf um die Stadt woben. Danach habe ich drei volle Tage lang geschlafen, aber meine Stadt war gerettet.

Später bin ich dann in das Herz der Stadt gezogen, an den Marktplatz vor der Stadt. Die Häuser sollen wohl aussehen, als wären sie aus dem Mittelalter, aber mich erinnern sie immer an den Biedermeier. Schön sind sie trotzdem. Die Stadtmauer ist nur einige hundert Schritt entfernt, und der Blick von ihren Türmen hinaus in das weite Land ist fantastisch.

Wir brauchen die Mauer eigentlich nicht. Aber die Bürger hatten Spaß daran, die Mauer und das Schloss auszubauen. Und ich gebe zu: Es hat dem Aussehen der Stadt sehr gut getan. Auch haben wir Straßen zerstört und viele versiegelten Flächen wieder an die Natur zurückgegeben. Die höchste Reisegeschwindigkeit nützt uns nichts, wenn wir dabei Mutter Erde zerstören. Heute ist man langsamer unterwegs, aber es gibt auch mehr Dinge unterwegs, die man sich anschauen kann – und endlich ist auch die Muße dafür da.

Der Weg zum Schloss fällt mir nicht schwer. Es sind nur wenige Schritte über den Marktplatz. Die bunten Buden des Wochenmarktes sehen schön aus, wenn sich das Licht der Frühlingssonne in ihnen spiegelt. „Blutiger Mai“ nannte man den Ausbruch der Magie anfangs. Inzwischen ist dieser Begriff verschwunden – wofür ich dankbar bin. Er ist genauso verschwunden wie mit Benzin betriebene Autos und das staatliche Fernsehen. Verluste, die mich nicht schwer treffen.

Als ich gerade den Platz überquerte, fiel auf einmal ein Schatten auf uns. Ich legte den Kopf in den Nacken – ein goldener Drache flog über uns hinweg. Sein Körper verdunkelte kurz die Sonne, dann war er auch schon verschwunden. Wir hatten Glück: Es würde ein gutes Jahr werden!

Lieber kleiner Lurch, vielleicht ist das ein Bild, mit dem du einfach umgehen kannst als mit meinen theoretischen Äußerungen über brechende Dämme. Mir hat es auf jeden Fall Spaß gemacht, darüber nachzudenken. Und ich fand es schön, dir zu schreiben. Wie (fast) immer.

Segen sei!

Dein Homo Magi

 

Sprachen

Lieber Salamander,

was uns Heiden immer wieder fehlt, ist eine gemeinsame Sprache. Leider findet dieses Problem nicht nur auf der offensichtlichen Ebene statt, sondern es gibt eine zweite, etwas kompliziertere Ebene des Problems.

Lass mich ein wenig ausholen. Ich vermute, du hast – wie immer – genügend Zeit mitgebracht, um meinen manchmal etwas verworrenen Gedanken zu folgen. Ebene Nummer Eins meines Problems verbleibt auf der einfachen Ebene. Wir Heiden sprechen alle unsere Muttersprachen. Heiden aus Großbritannien sprechen Englisch, Deutsche Heiden sprechen Deutsch, Heiden aus den USA Englisch, französische Heiden Französisch und so weiter. Durch die Schule und unsere ethnischen Hintergründe geprägt kann es sein, dass der britische Heide noch Walisisch spricht, der deutsche Heide noch Englisch (das ist abhängig von der Besatzungszone, aus der er kommt), der amerikanische Heide spricht vielleicht noch Spanisch bzw. Mexikanisch (um einem weitverbreiteten Klischee zu genügen, das hier für diesen Text ausreichen muss) und der französische Heide kann wahrscheinlich auch noch Englisch.

Gerade in Deutschland ist unsere Kultur sehr durch die USA geprägt – unsere Musik, unsere Esskultur, unsere Literatur etc. pp. Es gibt eine Dominanz des Englischen, die manchmal schon unangenehm ist, und daraus resultierend eine Blindheit für andere Sprachen. Wer lernt schon Chinesisch oder Japanisch? Wer kann eine Sprache Afrikas, und sei es „nur“ Arabisch? Wer spricht Spanisch? Wenn jemand in der Idee verhaftet ist, dass es für eine Menschheit eine gemeinsame Sprache geben müsste, der wendet sich vielleicht einer Kunstsprache wie Volapük oder Esperanto zu. Man darf sich darüber streiten, ob das Aufkommen von Kunstsprachen wie Klingonisch nicht auch ein ähnliches Bedürfnis erfüllt wie Esperanto – eine Weltsprache, die von allen verstanden wird. Das Klingonisch ist dafür natürlich gänzlich ungeeignet, weil es durch seinen von „Star Trek“ geprägten Hintergrund und sein Verhaftetsein in der Kultur der USA wiederum eine begrenzte Sprache (und sei es auch Englisch) mit einer neuen Sprache verknüpft. Ideologisch war mir da der Ansatz bei z.B. Esperanto lieber.

Wir Heiden lernen zuwenig Sprachen. Das Neo-Heidentum ist eine Bewegung, die unseren westeuropäischen Kulturkreis längst überschritten hat. Wir beschäftigen uns mit indianischen Mythen, sibirischen Schamanen, afrikanischen Masken, der Heilkraft der Zigeuner und den Mythen der Waliser. Aber können wir mit diesen Menschen auch sprechen? In den seltensten Fällen. Wir sind angewiesen auf Übersetzungen und Berichte. Wir können nicht direkt Erfahrungen machen, sondern wir müssen immer einen „Informationen-Zwischenhändler“ einsetzen, der sich zwischen die ursächliche Erfahrung und uns schaltet.

Ich bin sowieso kein Freund vom Leben nach Fremderfahrungen. Wenn Gott sich jedem Menschen offenbaren kann, dann offenbart er sich auch jedem Menschen direkt und ohne Umwege. Wenn ich Gott (oder: Gottheit) erfahren will, dann brauche ich keine Anleitung. Ich finde alle Teile, die ich brauche, in und an mir.

Wir Menschen machen uns immer tolle Bilder von der perfekten Kommunikation. Unser Traum von der Telepathie, der gedanklichen Verständigung zwischen Menschen, ist unerfüllt. Auch die Idee von Babelfisch oder Translator – man spricht in seiner Sprache und wird in einer anderen Sprache verstanden – ist in der Literatur schön, doch in der Realität unrealisiert. Die letzte Möglichkeit, welche die Religion für dieses Problem zu bieten hat, wäre dann das Reden in Zungen. Ich kann zwar dann nur in einer fremden Sprache sprechen und verstehe die Antwort nicht, aber das ist immerhin ein Anfang – und ich darf immer darauf hoffen, dass das gleiche Phänomen bei meinem Gesprächspartner auch auftritt, damit ich verstehe, was sie oder er zu sagen hat. Lustig ist in diesem Zusammenhang, dass in vielen Sprachen die Worte „Zunge“ und „Sprache“ mit dem gleichen Wort gemeint werden – ich denken an das lateinische „Lingua“ und das englische „Tongue“. Nur das Deutsche hat damit seine großen Schwierigkeiten.

Wenn ich ein zweites Leben hätte, ich würde früh damit anfangen, eine weitere lebende (!) Sprache zu lernen. Ich habe in der Schule Englisch gelernt. Als es dann um die Entscheidung zwischen Französisch und Latein ging, wurde mir dringend vorgeschlagen, Latein zu lernen. In diesem Fall wäre die Aussprache nämlich viel einfacher. Durch einen Kieferengstand (zu viele Zähne auf zu wenig Platz) hatte ich große Schwierigkeiten, die siebenundzwanzig französischen Nasallaute a la àehn, aèhn, áehn und aéhn richtig auszusprechen. Nun bin ich mit Latein geschlagen, was mich zwar durch ein Studium als „lebende Fremdsprache“ begleitet hat, im tatsächlichen Einsatz aber so hilfreich ist wie die Kenntnis des Westgotischen. Obwohl – seitdem ich einmal erleben durfte, wie sich zwei Heiden auf einem Heidentreffen auf Lakota unterhalten haben, glaube ich ja alles. Natürlich kann das auch keine Sau überprüfen. Wäre doch mal eine nette Übung für ein Treffen. Man verabredet sich mit jemanden vorher, und dann tut man lautstark so, als würde man erst vor Ort die gemeinsame Liebe zum Westgotischen und seiner Sprachkraft entdecken. Und dann vertieft man sich in eine Unterhaltung auf westgotisch, die sich offensichtlich um wichtige Themen dreht.

Bitte, stelle dir folgende Szene vor: Zwei Männer unterhalten sich.

„Tsu tenederel dek Verhütungsmittel tak?“

„Opt emgemzem wapp Orgasmus plorr Orgasmus emerk Orgasmus tekje.“

„Eppe nam uppenzap Ex-Freundin?“

„Gap. Telle pungun, telle pongon.“

Beide Lachen laut und glücklich.

Die Gesichter der umstehenden Heiden wären sicherlich unterhaltsam.

Die Moral von der Geschichte, mein lieber Lurch: Lerne eine Sprache, wenn du es noch kannst. Pflege die Sprachen, die du erlernt hast. Verbessere deine Muttersprache, so dass sie in Wort und Schrift schön ist. Lerne Vokabeln, um dein Wortgedächtnis zu vergrößern. Lerne Fachwörter, z.B. aus für Heiden interessanten Bereichen wie Schifffahrt und Reiterei. Lies Gedichte und lies sie anderen vor. Rezitiere Märchen und lerne singen, um deine Stimme zu trainieren. Sei nicht damit zufrieden, in einer anderen Sprache in einem Restaurant bestellen zu können. Lerne Vokabeln, lies Literatur, höre Musik.

Die zweite Ebene ist die kompliziertere. Deswegen ist sie auch einfach zu erklären. Selbst wenn Heiden aus dem selben Land kommen und die selbe Sprache sprechen – meinen sie auch dasselbe?

Wir haben keine gemeinsame Kultur in den letzten hundert Jahren, die uns Heiden verbinden könnte. Wir vermeiden gewisse Wörter wie Landminen (wer mir nicht glaubt, kann in seine Unterhaltungen mit Arbeitskollegen ja mal einen kurzen Exkurs über das „Heil“ bei den Germanen einbauen) und ziehen Teile unserer Begriffe aus Übersetzungen (meist aus dem Englischen). Wir singen nicht, wir „chanten“. „Wir ziehen einen Kreis“ als Übersetzung der entsprechenden Anweisung aus der Originalsprache. Mal ehrlich: Wer benutzt im normalen Leben solche Formulierungen? Wir „channeln“ Energie. Man trifft sich gerne zu „Events“ an tollen „Locations“. Wir sprechen nicht einmal dieselbe Sprache, wenn wir in dem Land sprechen, aus dem wir kommen und dessen Landessprache wir beherrschen. Und ich möchte mir nicht vorwerfen lassen, deutschtümelnd zu sein!

Aber wenn wir als Veranstalter zu einem Gast sagen „Bitte bezieh dein Bett, die Jugendherberge schreibt uns das so vor.“, dann versteht der immer wieder „Mein Luftkissenboot ist voller Aale!“. Mir ist das völlig unerklärlich ...

In diesem Sinne

Oder

Plopperatz! Uffenglom! Heppe! Heppe! Heppe!

 

Dein

Homo Magi

 

Loslassen

Lieber Salamander,

unsere Gesellschaft ist viel zu sehr damit beschäftigt, Dinge zu sammeln. Wir werden zum Konsum angehalten – durch das Fernsehen, durch das Radio, durch die Werbung auf Plakatwänden und Litfasssäulen. Wir sollen essen, trinken und rauchen, um unsere oralen Bedürfnisse zu befriedigen. Unsere Wohnungen müssen immer größer und teurer eingerichtet sein, unsere Autos immer schneller und größer. Wenn wir Freizeit haben, dann sollen wir in dieser Freizeit möglichst weit und teuer verreisen oder Tätigkeiten nachgehen, die teuer sind und Konsum verlangen.

Unser Lebensstandard ist deutlich höher als der vor 10, 20 oder gar 50 Jahren. Fernsehen lässt sich aus den meisten Wohnungen überhaupt nicht mehr wegdenken.

Wir sammeln alles Mögliche. Nicht nur Nahrungsmittel oder Kleidungsstücke, sondern alle möglichen Dinge des täglichen Lebens. Der „Messie“ ist der Endpunkt einer Entwicklung, in der nichts mehr weggeworfen wird und alles in der eigenen Wohnung gesammelt wird – bis die Wohnung zum Slum wird.

Und wie viele andere Dinge horten wir. Bierdeckel, Coladosen, Puppen, Figuren aus Überraschungseiern, alte Knöpfe, CDs, alte Computer, Videos und DVDs und so weiter und so fort. Der Berg unserer Besitztümer wird immer höher, bis er umzukippen und uns zu erschlagen droht.

Und an unseren Körpern merken wir, wie schwer es auf einmal wird, loszulassen. Entweder nehmen wir zu und schaffen uns so einen Ring aus Fett und Fleisch um unsere Seele. Oder wir umbinden die Seele mit eisernen Bändern, die verhindern sollen, dass wir uns von Dingen trennen.

Wenn jemand stirbt, dann fällt es uns schwer, ihn loszulassen. Niemand verlangt, dass wir Dinge, die wir lieben, mit ins Grab werfen. Aber wir sollten in der Lage sein, uns zu trennen, etwas gehen zu lassen, was gestorben ist. Dinge, deren Zeit gekommen ist, verlassen unsere Welt. Das ist auch gut so. Doch in unseren Krankenhäusern hängen Menschen an Maschinen, weil wir es nicht schaffen, sie in Würde in die andere Welt gehen zu lassen. Ist das wirklich die Art von Leben, die wir uns wünschen, wenn wir alt oder siech geworden sind?

Ist es die Lebensweise, die wir uns eigentlich für uns selbst wünschen? Ist es das, was wir tief in unserem Herzen möchten? Ich glaube nicht.

Doch wenn wir etwas ändern wollen, dann müssen wir lernen, Dinge loszulassen. Und erst wenn wir das können, dann können wir auch lernen, etwas loszulassen. Loslassen, das sollte die erste Lektion auf dem Weg zum selbstbestimmten Leben sein. Kann ich Schokolade oder den Fernseher oder Tabak oder Kaffee oder meine Bierdeckel-Sammlung loslassen? Oder hänge ich schon so sehr an ihnen, dass ich mich nicht mehr von ihnen trennen kann?

Erst, wenn ich loslassen kann, dann kann ich von meinem Los zu lassen. Vorher nicht.

Dein Homo Magi

 

Kraftorte

Lieber Salamander,

ich kann mich oft nicht entscheiden, in welcher Form dieser Briefwechsel stattfinden soll. Ist es eine Unterweisung in einer langen Kette von persönlichen Briefen? Eher nicht. Immerhin fehlt diesen Briefen die „Lehrbriefen“ innewohnende Systematik und außerdem scheine ich – wenn ich das mit anderen angeblichen Zauberern um mich herum vergleiche – sowieso viel zu billig zu sein. Was man mit magischen Lehrbriefen alles verdienen kann ... Und du erhältst diese Briefe wöchentlich, einfach nur so, weil du Fragen hast und ich dein Freund bin.

Ab und an folge ich über ein paar Wochen einem kleinen System. Wenn ich zu faul bin, um in einem Brief alle Aspekte eines Themas abzuarbeiten, dann verschiebe ich die fehlenden Antworten gerne noch eine Woche oder zwei. Du läufst mir nicht weg, ich laufe dir nicht weg, und Briefe sollten eine Länge nicht erreichen, die sie in die Nähe von Novellen bringen würden.

Manchmal fallen mir grundsätzliche Themen ein, manchmal Gefasel. Heute ist es etwas, was ich als grundsätzliches Thema bezeichnen möchte. Heute möchte ich etwas über Kraftorte erzählen.

Angeregt dazu hat mich Luisa Francia mit ihrem „Zaubergarn“[15]. Sie geht mit Kraftorten so erfrischend unkompliziert um. Hier geht es nicht um riesige Felsmassive, die aus dem Boden hervorzubrechen scheinen, oder um mythische Inseln im nebelverhangenen Meer. Ihre Kraftorte sind bodenständig, wenn man das mal so schön sagen darf, ruhig und trotzdem kraftvoll.

Ich würde den gleichen ersten Schritt wie sie tun, wenn ich nach einem Kraftort suche. „Warum in die Ferne schweifen, wenn das Gute liegt so nah!“ oder – um mit Francia zu sprechen: „Wo gibt es Ameisen? Wo sitzt die Katze? Wo der Hund? Wo wirst du leicht ungeduldig? Ich bestehe darauf, daß du in deinen eigenen vier Wänden anfängst, die verschiedenen Energien zu entdecken, denn wenn du sie zu Hause nicht findest, wie willst du sie an einem dir fremden Ort finden können? Wenn riesige Steine herumstehen, ist es nicht gerade schwierig zu sagen, daß an diesem Ort vermutlich eine besondere Kraft wirkt. Vielleicht stimmt es aber auch gar nicht. Vielleicht ist die Kraft hinter dem Stein. Vielleicht ist der Stein auch nur dort aufgestellt worden, um die Aufmerksamkeit von einem anderen Ort abzulenken.“[16]

Besonders gut finde ich, dass sie auch auf die Idee gekommen ist, dass große Anlagen von kleinen Dingen ablenken. Wenn ich ein toller Magier wäre, der sich immer wieder daran erinnern will, wo es das beste Kotelett mit Erbsen und Möhren und ein gut gezapftes Pils gibt, ich würde sicherlich auch einige hundert Schritte hinter der Kneipe riesige Felsen in den Himmel ragen lassen. Der Wirt hätte dann eine stetige Einnahmequelle durch die Touristen, die auf dem Weg zu „den Steinen“ bei ihm hängenbleiben, und ich könnte mir sicher sein, dass der Schuppen nie pleite macht. Außerdem würde ich ihn immer wieder finden, weil die Steine als Wegzeichen hervorragend geeignet sind.

Die eigene Wohnung ist wirklich ein guter Ort, um mit der Suche nach Kraft anzufangen. Welche Zimmer sind stärker als andere? In welchen bewegt sich Energie, in welchen steht sie? Wie gerne höre ich mir von meiner Leib- und Magen-Sterndeuterin Vorträge über die Energie in Wohnungen an. Ich bin kein Experte auf diesem Gebiet, aber ich verstehe genug davon, um hinter Begriffen wie Geomantik oder Feng-Shui ein gemeinsames, verbindendes Element zu sehen. Energie bewegt sich überall, nicht nur an sogenannten „heiligen Stellen“. Energie ist auch in unserer Wohnung, am Arbeitsplatz, sogar am Bahnhof und in der Pizzeria um die Ecke. Wir müssen nur lernen, sie zu „erfühlen“ und dann zu verändern.

Was kann ich tun, um die Energie in meiner Wohnung wieder zum Laufen zu bringen? Ich kann Möbel verstellen oder einen kleinen Brunnen installieren. Ich kann ein Windspiel aufhängen oder Spiegel befestigen. Ich kann mir einen neuen Teppich kaufen oder mit einem Raumteiler die Energie „umverteilen“. Ich kann den Wind einlassen und mit dem Sonnenlicht spielen. Aber ich kann auch Schatten werfen und Stille schaffen – wie es mir beliebt. Und wie das Wasser um einen Felsen herum so wird auch die Energie diesen Wegmarken folgen. Vertrau mir.

Erst wenn du lernst, Energien in deinem nächsten Umfeld zu beeinflussen, kannst du daran gehen, größere Energieströme beeinflussen zu wollen. Mache es nicht wie die Narren, die sich gleich nach dem Himmel strecken, um dann enttäuscht zu sein, dass der Rhein nicht wegen ihnen sein Bett verlässt oder dass die Berge nicht für sie steigen und sich von Wanderwegen und Autobahnen freischütteln. Berge tun das nur, wenn sie es wirklich wollen. Und unsere Anregungen und Wünsche sind ihnen herzlich egal.

Aber sei vorsichtig. Nicht immer ist das Scheitern die schlimmste Gefahr, wenn man Dinge versucht, die man eigentlich nicht erreichen kann. Francia schreibt sehr schön: „Denn Kraftorte nehmen keine Rücksicht darauf, daß du ihnen nicht gewachsen bist.“[17] Das ist richtig. Wenn man sich überhebt, dann hat man Rückenschmerzen. Wenn man sich magisch überdehnt, dann tut einem auch der Bereich weh, aus dem man seine magische Energie zieht – und wenn man magische Energie aus dem ganzen Körper zieht und sie im ganzen Körper herum bewegt, dann tut einem der ganze Körper weh, wenn man sich übernommen hat.

Mein lieber Salamander, du darfst gerne neugierig sein – aber vergiss nicht, dass ein kleines wenig Vorsicht oftmals angebracht ist!

Alles Liebe,

Dein Homo Magi

 

Hinab zur sonnenlosen See

Lieber Salamander,

umso höher wir hinauf steigen, umso tiefer können wir fallen. Diese an sich so banale Vorstellung beschäftigt mich in den letzten Tagen immer und immer wieder.

Ich habe mir ein Bild überlegt, um dir mein Gefühl zu beschreiben. Ich weiß, dass es architektonisch nicht stimmig ist. Aber versuche, den Sinn hinter der Beschreibung zu sehen!

Wir Magier sind damit beschäftigt, uns Türme zu bauen, deren Spitzen in den Himmel zeigen sollen. Immer wieder bauen und bauen wir Stockwerk auf Stockwerk, erklimmen die Stufen bis hinauf zur Spitze und erkennen, dass wir noch näher an den Himmel wollen. Unser Turm muss höher sein als die Türme der anderen, unser Blick muss weiter über das Land schweifen als der Blick der anderen. Und wir erhoffen uns natürlich auch, dass wir von dem erhöhten Blickpunkt aus mehr von der Welt zu sehen bekommen als die anderen Menschen.

Auch die Zahl der Dinge, die wir unterbringen müssen, steigt von Jahr zu Jahr; Bibliothek türmen wir auf Bibliothek, Werk auf Werk und Titel auf Titel. Dem Himmel immer näher wird unser Turm. Doch wir vergessen oftmals, dass ein Turm ohne Fundament nicht stehen kann.

Immer wieder erlebe ich, wie die Wolkenkuckucksheime von Kollegen einstürzen. Riesige Pfeiler, die zerbrochen auf dem Boden liegen, Obelisken, die in Trümmern auf der Ebene liegen und von vergangener Größe zeugen.

Wenn wir schon Türme bauen, dann dürfen wir nicht vergessen, dass ein großes Gebäude auch ein großes Fundament braucht. Wie auch so oft bei anderen Dingen in der Magie hält sich auch hier das Oben mit dem Unten, das Innen mit dem Außen die Balance. Die daraus folgernde Logik ist einfach: Umso mehr Treppen wir nach oben mauern, umso mehr Treppen müssen wir nach unten ausschachten. Wenn wir das nicht tun, dann stürzt uns der ganze Turm um, unsere Träume liegen dann zerbrochen.

In den letzten Wochen wurde ich an diesem Umstand wieder einmal voller Gewalt erinnert. Fröhlich vor mich hinmauernd baute ich auf den Turm meiner magischen Erkenntnis ein weiteres Stockwerk. Stolz war ich, dass ich erreicht hatte, was ich erreicht habe. Mein Blick fiel über das Land. Und wenn ich eine Pause machte, dann legte ich mich auf den Rücken, schaute den Wolken nach und wähnte mich ihnen näher als die meisten anderen Menschen. Doch das Erwachen war schmerzhaft.

Mein Turm hat nicht gewackelt, die Mauern haben nicht gezittert. Doch ich erkannte auf einmal voller Schrecken, dass ich erst den Keller ausheben muss, wenn ich weiter nach oben bauen will. Meine eigenen Erinnerungen holten mich ein, mein Unterbewusstsein trug grausige Bildtafeln vor meinem inneren Auge vorbei – mich daran erinnernd, dass ich mich gerade fahrlässig in Gefahr begab. Bilder tauchten auf; Bilder aus Orten, die ich längst gesäubert glaubte. Visionen überfuhren mich wie ein Trecker einen Acker überfährt. Wie das Gras konnte ich mich nur unter ihnen biegen ohne zu brechen und versuchen, mich nachher wieder der Sonne entgegen aufzurichten.

Die meisten dieser Bilder waren nicht allzu erschreckend. Immer wieder habe ich sie mir in den letzten Jahren angeschaut, damit ich lerne, mit dem Schrecken umzugehen, den sie in mir auslösen. Bei jeder Betrachtung wurde der Schrecken kleiner, wurden meine Ängste handhabbarer. Aber einige Bilder sind dabei, die mich bei dieser erneuten Betrachtung sehr mitnahmen. Und auch mein Körper zeigte mir, dass er nicht damit einverstanden war, dass ich ihn vernachlässigte. Sogar in meiner Umwelt brachen Einflüsse durch, die ich sonst – zumindest für mich und meine Wahrnehmung – unter Kontrolle halten kann. In kurzen Worten: Es waren dunkle, düstere Tage.

Die Konsequenz wurde mir klar. Ich konnte und wollte nicht darauf warten, dass es vorbei ging und ich konnte und wollte nicht darauf hoffen, dass ich weiterbauen kann, ohne auf die Warnungen zu achten. Und so stieg ich hinab zur sonnenlosen See, hinab in den untersten meiner Keller, an jenen Ort, der mir Angst macht und Schrecken; in die Höhlen stieg ich, die sich riesigen unterirdischen Kathedralen gleich unter meinem Turm ausbreiten. Und mit einer Lampe in der rechten und einer Schaufel in der linken Hand machte ich mich daran, die Passagen zu reinigen, die der Staub der Zeit zu blockieren drohte. Herum ging ich in meinen Kavernen und räumte auf.

Leider war dieses Aufräumen nicht nur in meinem Geist zu tun. Längst hatten die Bilder in mir Spiegelungen in den Bildern um mich erzeugt – oder die Bilder um mich hatten Spiegelungen in meiner Seele erzeugt; Schatten hatten sie geworfen auf mein inneres Licht.

Was ich sah, das hat mich nicht erfreut. Tod, Verfall, Fäulnis – das sind die Dinge, die ich dort unten vorgefunden habe. Innen und Außen fand ich sie, und dort musste ich auch anfangen, sie zu konfrontieren. Manches Mal kann man nichts tun, so sehr man sich auch anstrengt. Man pumpt sich leer, verschwendet seine Energie, weil man Menschen helfen will, die einem nahe stehen. Und nach Atem hechelnd und am ganzen Körper schmerzend muss man dann erkennen, dass man nicht helfen kann. Dann kommt der schwierigste Teil: das Loslassen. Und manches Mal kann man etwas tun. Die wenigsten Menschen, die sich magisch betätigen, können alles in diesem innerem Augiasstall reinigen. Aber Schritt für Schritt, Fuhre für Fuhre, Schaufel für Schaufel reinigen sie ihre innere Verwesung. Und wenn ihre Arbeit getan ist, eilen sie wieder an das Licht, um Kraft zu schöpfen. Wenn sie genug gereinigt haben, dann finden sie auch die Motivation und die Kraft, ein weiteres Stockwerk auf ihren Turm zu setzen.

Manche finden Gefallen an der Verwesung und kehren nie wieder zurück ans Licht. Sie graben und wühlen in Dingen herum, die danach schreien, dass man sich immer wieder phasenweise von ihnen erholt. Doch sie wollen keine Erholung, sie wollen Reinigung um jeden Preis – und zerbrechen daran, sich zu überfordern. Andere fliehen diesen Ort, rennen zurück an das Licht und bauen ihren Turm, bis dieser zerbricht oder kollabiert. Ich gehe hinunter, arbeite, bis ich nicht mehr arbeiten kann und kehre zurück an das Licht. Wenn meine Kraft es wieder zulässt ist, dann kehre ich in den Keller zurück. Ich halte das für die weisere Methode.

Nur leider führt sie dazu, dass man manchmal seine Kräfte realistisch einschätzend erkennt, dass es Dinge gibt, die man (noch nicht oder nicht in diesem Leben?) heilen oder reinigen kann. Dann muss man ertragen, leiden und loslassen. Keine Lektion, die ich liebe, werter Salamander, aber eine Lektion, die wohl anstand.

In so Momenten bin ich froh, dass ich nicht alleine bin. Niemand sollte dabei alleine sein; auch wenn es Magiern schwer fällt, Hilfe zu erbitten und anzunehmen – ich habe mich über Hilfe in den letzten Tagen sehr gefreut.

Kleiner Lurch, ich bin für dich da, wenn du mich brauchst, so wie du für mich da bist.

Danke,

Dein Homo Magi

 

Der Maulwurf

Lieber Salamander,

Beltaine oder Beltane ist das Fest der Liebe. Mir fällt es schwer, etwas „sinnvolles“ über das Gefühl der Liebe oder das dazugehörige Fest zu schreiben. Daher habe ich mich diese Woche für eine andere Lösung entschieden als für das Schreiben einer „echten Kolumne“.

 

Der Maulwurf[18]

 

Verliebt bin ich ein absoluter Tölpel. Ehrlich. Zu nichts zu gebrauchen. Nur meine Phantasie funktioniert noch – und zwar auf Hochtouren. Und so ist auch die folgende Geschichte zu erklären. Wer sie nicht glauben will – bitte. Die dazugehörigen Gegenstände sind bei mir zu besichtigen und auch sie kann es bestätigen. Fragt sie doch einfach mal.

 

Ich war schon seit Wochen in sie verliebt. Unsterblich in sie verliebt. Ihr Lächeln erhellte meinen Morgen und das Blitzen ihrer Augen vertrieb die Nacht. Sie hatte einen süßen Mund – einen Mund, der einem auch die bittersten Worte freundlich schmackhaft darbrachte. Und sie hatte lange, wallende dunkle Haare. Und zwei wunderschöne Augen. Wenn es das Wort noch nicht gegeben hätte, ich hätte es geprägt: Augen sind die Fenster zur Seele.

Ihr seht, eine wunderbare Frau. Und ich war in sie verliebt. Unsterblich verliebt. Ich tat alles, um mich ihn ihrer Gegenwart möglichst unmöglich zu machen. Ich schickte ihr Karten mit Blumenmotiven – einige Hundert. Ich nahm ihr Kassetten auf, deren Inhalt aus einem Potpourri der beliebtesten Liebeslieder der letzten 300 Jahre bestand. Ich trug ihre Tücher um den Hals und ihr Bild in meiner Seele. Doch sie verstand nicht, oder wollte vielleicht auch nicht verstehen. Eher letzteres, wie ich zu befürchten begann.

Und wie wir uns auch immer trafen – es war nie bei mir zuhause. Sicher, an Gelegenheit fehlt es nicht, aber sie fand immer eine Ausrede, um sich um meine Wohnung herumzudrücken. Einmal war es die kranke Großmutter, dann war sie selbst krank, dann war es der Regen (denn ich hatte ja ein Auto) oder ein Meteoritenschwarm über Mitteleuropa. Ich hatte nie Glück.

Bis ich eines Tages die rettende Idee mit dem Maulwurf hatte.

Sie – nein, ihren Namen verrate ich nicht, steht er doch für zu viele süße Anspielungen in meinem Bekanntenkreis; also: sie liebte Tiere. Über alles. Sie war nicht nur die einzige, die sich meine „Walgesänge“ bis zum Ende angehört hatte, nein, sie war tierlieb über alle Maßen (nur ihre Liebe zu mir war nicht so, wich ich das gerne gehabt hätte, aber auch dieses Problem erschien mir lösbar).

Eines Tages erzählte ich ihr, in unserer Stadt gäbe es Riesenmaulwürfe; bis zu zwei Meter lange Exemplare mit fast handgroßen Schaufeln, die in der lichtlosen Unterwelt der Stadt ihr Dasein fristeten.

Sie glaubte mir nicht. Doch ich hatte vorgesorgt. Mit Hilfe von hochkopierten und gefälschten Artikeln aus „Geo“, „Stern“ und „Natur“ überzeugte ich sie von der Existenz dieser äußerst seltenen Gattung.

Ich ging vorsichtig vor, um in ihr keinen wider mich gerichteten Verdacht zu erwecken, der mir und meinen Intentionen nur geschadet hätte. In kleinen Brocken servierte ich ihr meine Informationen und meine Freunde taten ihr übriges mit kleinen Andeutungen und Zwischenbemerkungen, um ihr Interesse an dieser seltenen Maulwurfsart zu schüren.

Dann holte ich zum zweiten Schlag aus.

Sie wusste, dass ich in meiner Altbauwohnung eine Art Hausmeisterfunktion wahrnahm. Und so erzählte ich ihr eines Tages, dass ich in unserem Keller (gut und gern 150 Jahre alt und vollkommen verwahrlost) einen Gang entdeckt hätte. Sie wurde – wie geplant – neugierig.

Eine Woche später folgte der nächste Hammer. Ich erzählte davon, dass ich ein Knurren und deutlich hörbare Grabgeräusche aus dem Gang vernommen hätte. Sie wurde interessiert.

Ich erzählte ihr von ausgelegten Brotkrumen und Schokoladentafeln, bevor ich zum endgültigen Schlag ausholen konnte. Mit Hilfe verschiedener Freunde, 15 Meter Basteldraht, 8 Kilo Pappmache und zwei Monaten „Frankfurter Rundschau“ hatte ich in meinem Zimmer eine Art Hügel gebastelt (130 cm lang, 50 cm hoch, 35 cm breit) – eine Mischung aus oben genannten Materialien und fünf Dosen Acryllack (grau).

Mit diesem Hintergrund erzählte ich ihr, ich hätte einen der Maulwürfe eingefangen – bei Nacht, im dunklen Keller. Sie war Auge und Ohr.

Ich erzählte ihr auch, dass ich mit der Benachrichtigung des Vivariums noch gewartet hätte, damit sie – sie alleine! – Gelegenheit haben würde, das scheue und seltene Tier zu besichtigen. Und wie erwartet siegte ihre Neugier über ihre Angst vor meiner Wohnung und wir verabredeten ein Treffen für den selbigen Abend.

Den Nachmittag verbrachte ich in freudiger Erwartung mit dem Abhören meiner Schnuckenack Reinhard Platten und dem Kaltstellen eines lieblichen Rotweins. Gegen Abend kam sie. Ich hatte die Wohnung total verdunkelt („Die Augen des armen Wurfels ...“) und alle Geräusche auf das Mindestmaß reduziert – sogar dem Kühlschrank hatte ich durch gutes Zureden sein stetiges Brummen abgewöhnt.

Dann lotste ich sie in meine Zimmer und erklärte ihr, dass der arme Maulwurf unter meiner Decke liege. Mißtrauisch beäugte sie mein Bett, aber da zeichnete sich unter der Bettdecke deutlich mein Pappmache-Hügel ab. Und unter einer Ecke schimmerte der graue Lack auch im silbrigen Licht des Mondes, das durch die Spalten des Rollladens ins Zimmer drang. Sie gab sich einen Ruck und trat einen Schritt näher an das Bett.

Ich flüsterte leise „Psst!“ und legte verschwörerisch eine Hand auf ihre Schulter. Sie schreckte vor der Berührung nicht zurück, nein, sie schien sich sogar ein klein wenig an mich schmiegen zu wollen. Erfreut ließ ich die Hand liegen und erzählte ihr, dass der arme Maulwurf total verängstigt sei und dass ich ihm erst einmal gut zureden wolle, bevor sie sich ihm nähern könne. Sie nickte verständnisvoll und widerwillig hob ich meine Hand von ihrer Schulter.

Ich schlich auf Zehenspitzen zum Bett und kroch – neben meinem Hügel – unter die Bettdecke. Nach ein, zwei Minuten leisen Zuredens („Liebe Göttin, sei gnädig, dass sie mich nicht verprügelt!“) winkte ich sie zu mir und gebot ihr, neben mir unter der „verdunkelnden Bettdecke“ Platz zu nehmen.

Ich hatte mich unter meinen Hügel geschoben und meine Pelzhandschuhe angezogen und in ihre Hand gleiten lassen. Für einen Moment schien sie meinen Betrug nicht zu bemerken – mein leises Atmen konnte wohl das eines Maulwurfs sein, meine großen behandschuhten Hände seine Schaufeln und der große, graue Hügel mein Bauch. So blieben wir eine Weile lang liegen – ihre Hand kraulte meinen Handschuh, während ich maulwurfartige Geräusche von mir gab.

Das ging zwei oder drei Minuten lang gut. Dann fragte sie mich mit einem glockenhellen Lachen in der Stimme „War das wirklich nötig?“. Dann warf sie sich inbrünstig lachend auf meinen Pappmachebauch. Dieser brach unter dem Ansturm zusammen und eingekeilt von Drahtresten und Pappmacheklumpen spürte ich zum ersten Mal ihre Lippen auf den meinen. Ich weiß nicht, wie lange wir so gelegen haben. Die Platte war längst zuende und das Pappmache hatte sich schon in mein Bettlaken eingedrückt, als wir zum erstenmal kurz voneinander ließen. Ihr Atem strich sanft über mein Ohr. Meine behandschuhte Hand umfing ihren Oberkörper. Ich war endlos glücklich.

Leise lächelnd flüsterte sie mir ins Ohr „Das nächste Mal brauchst du aber keinen Maulwurf, um mich anzugraben oder?“

Ich lachte und küsste sie. Stundenlang.

Ich wünsche dir ein schönes Beltaine!

Alles Liebe,

Dein Homo Magi

 

Schattenarbeit – Das Tor zur Hölle

Lieber Salamander,

es gibt Tage im Leben, da habe ich ein Thema, über das ich dir gerne ein paar Sätze schreiben würde. Und während ich schreibe und schreibe stelle ich fest, dass sich in meinem Hirn eigentlich ganz andere Themen ausbreiten, die mit dem, was ich dir vordergründig in die Maschine hacke, wenig zu tun haben. Diese Woche hättest Du von mir eigentlich einen wunderschönen Text über Volkslieder erhalten sollen. Keine Angst, ich habe ihn nicht weggeworfen – er ist irgendwann in den nächsten Wochen dran. Manchmal bin ich ganz dankbar, wenn ich ein paar Texte „auf Halde“ habe, weil es doch schwierig ist, einen Turnus von einmal pro Woche durchzuhalten und immer neue Ideen zu präsentieren.

Aber diese Tage waren es andere Dinge, die mich mehr beschäftigt haben, über die ich aber anfangs nicht schreiben wollte. Immer wieder winken sie in meinem Hinterkopf und erklären mir, dass sie eigentlich „dran“ sind. Nun gut, es ist wirklich so, dass ich mich in den letzten Wochen intensiv mit dem Thema „Schatten“ beschäftigt habe. Sicherlich ist es so, dass vor einer intellektuellen Beschäftigung mit diesem Thema erst einmal meine eigenen Schatten mein Thema sein müssen. Bevor ich über fremde Hirne und Seelen rede, muss ich mir klar sein, welche Gefahren, Fallgruben und Höhlen noch in meinen Schatten lagern. Jeder Mensch hat Schatten; wir sind alle keine perfekten Wesen, die ihre Existenz ruhig und friedlich gestalten können. Wir werden von Atavismen eingeholt, die in unseren hinteren Hirnregionen lauern; dunkle Bilder aus unserer Seele schwappen hoch und stürzen uns ins Chaos.

Es gibt wenig Dinge, vor denen ich wirklich Angst habe. Mit Lawrence von Arabien halte ich es damit, dass es zwei Arten von Mut gibt. Der eine Mut hat etwas mit unserer körperlichen Widerstandskraft zu tun. An diesem Mut können wir wenig tun; wir können unseren Körper zwar trainieren, aber seine Widerstandskraft gegen Krankheit, Schmerz etc. ist uns in bestimmten Rahmenbedingungen vorgegeben. Anders ist es mit dem, was unser Geist zu leisten vermag. Einige meiner größten Ängste sind eigentlich banal. Ich habe Angst vor Krankenhäusern und Spritzen sowie den meisten Dingen, die damit verbunden sind. Sicherlich bin ich der Typ Mann, der mit Krankenschwester-Spielchen beim Sex wenig anfangen kann ...

Mir machen Spritzen Angst. Ich werde nervös, wenn man sich mir mit einer spitzen Nadel nähert. Ich kann nur unter Mühe mit Nadel und Faden umgehen und bin kaum in der Lage, mir selbst einen Knopf an Hemd oder Jacke zu nähen. Wenn man mir Blut abnehmen will, sollte man dafür sorgen dass ich ruhig und brav sitze. In den letzten Jahren bin ich zwar nicht mehr ohnmächtig geworden, aber das mag auch ein gewisser Grad von Gewöhnung sein. Ich habe in meinem Leben einige Male (und deutlich einige Male zuviel) in Krankenhäusern gelegen, so dass wenigstens eine gewisse Gewöhnung an Thrombose-Spritzen und das Abnehmen von Blut eingetreten ist. Aber ich mag auch den Geruch von Krankenhäusern nicht, diesen antiseptischen Geruch, unter dem man Blut und Verwesung vermutet. Ich kann mit Leiden und Schmerzen im Krankenhaus schlecht umgehen, weil ich große Schwierigkeiten habe, mich abzuschirmen. Ein „Mitleiden“ zeichnet mich hier aus, welches mit „Mitleid“ erst einmal nichts zu tun hat.

Seit einigen Wochen liegt mein Vater im Krankenhaus. Ich möchte auf die Diagnose nicht näher eingehen, weil ich denke, dass sie für das, was ich erlebe, uninteressant ist. Auch zur Rolle meines Vaters in meinem Leben, zu meiner Bindung an ihn und zu ähnlichen Dingen möchte ich wenig sagen, lieber Salamander. Er ist mein Vater und er ist mit mir verbunden. Bei Freunden fällt es mir leichter, Dinge zu übersehen, die sich bei ihnen im Krankenhaus abspielen. Beim eigenen Vater sind die Dämme, die ich aufrichten kann, nicht sehr dick und hoch. Er ist mir nahe.

Mein Vater liegt im Krankenhaus. Er verwest, er ist krank, fast blind und leidend. Es sieht so aus, als würde er die ganze Sache noch einmal glimpflich überleben und nach Wochen wenn nicht gar Monaten des Leidens das Krankenhaus in einem Zustand verlassen, der es ihm erlaubt, noch einige Jahre glücklich und zufrieden zu leben. Sicherlich nicht gesund, vielleicht wenigstens schmerzfrei. Aber unter andauernder ärztlicher Kontrolle.

Für mich ist jeder Gang ins Krankenhaus – und ich versuche, ihn regelmäßig, gar täglich zu besuchen – ein Sprung über den eigenen Schatten. Natürlich ist er im letzten Gebäude auf dem Krankenhausgelände. Natürlich ist er im letzten Zimmer des Flurs. Und ich betrete das Krankenhaus und laufe quer über das Gelände und betrete den Fahrstuhl, der mich hoch zu der Station bringt, in der er liegt. Vom Fahrstuhl aus gehe ich den ganzen Flur entlang. Vorbei am Tisch der Schwestern, vorbei an Türen, die zum Teil aufstehen oder zum Teil auch geschlossen einen Blick oder Hinweis auf das erlauben, was hinter ihnen liegt. An einigen hängen Schilder, dass man weiße Kittel anziehen muss, bevor man sie durchschreitet. Man wird dazu aufgefordert, sich nachher die Hände zu desinfizieren. Das Mitbringen von Nahrungsmitteln etc. ist verboten. Im Flur stehen Rollstühle und leere Betten, an denen noch Kabel und Knopfleisten hängen, mit deren Hilfe man Geräte anschließen kann, deren genaue Bedeutung sich mir glücklicherweise verschließt.

Vor seinem Zimmer – er liegt in einem Einzelzimmer – atme ich tief durch, bevor ich klopfe. Ich höre seine Stimme, merke schon, bevor ich die Tür geöffnet habe, dass er schwach und müde ist. Vor einigen Tagen meinte er zu mir: „Wenn ich einen Knopf hätte, von dem ich wüsste, dass ich, wenn ich ihn drücke, schmerzfrei sogleich sterbe und mich bei meinen Vorvätern versammle, ich hätte ihn in den letzten Tagen schon mehrmals gedrückt.“ Ich versuche, ihm zu sagen, was ich für ihn empfinde ohne ihn zu drängeln, in dieser Welt zu bleiben. Wenn ich Menschen das Recht einräume, über ihr Leben und ihren Tod selbst zu bestimmen, dann müssen diese Regeln auch für meinen Umgang mit meinem Vater gelten. Aber es fällt mir schwer.

Er ist geistig klar, wenn auch müde. Und er denkt viel. Für diese Stunden bin ich dankbar, weil es viele Dinge gibt, die ich ihm noch sagen konnte. Egal, auch wenn er noch viele Jahre am Leben bleibt – mir geht es besser, weil ich bei ihm war und meine Schatten konfrontiert habe. Die Angst, dass er stirbt ist ein Schatten. Die Angst, den Rest meines Lebens ohne Vater leben zu müssen. Die Angst vor Schmerzen und die Angst vor dem Sterben spielen auch bei mir eine Rolle, und natürlich beschäftigt man sich damit, wenn jemand, der einem nahe steht, krank ist und zu sterben droht.

Mir wäre es lieber gewesen, wenn ich nie hätte in diesen Schatten schauen oder gar in ihn hineingehen müssen. Jetzt bin ich gezwungen worden, in ihn hineinzugehen. Meine Art, mein Charakter verbietet es mir, mich darum zu drücken. Und im Schatten, weit weg von der Sonne meines Lebens, merke ich, dass ich stark bin.

Lieber Salamander, ich hoffe, dass niemand persönlich an dem schuld ist, was ich gerade erlebe. Gnade ihm Gott, wenn ich ihn erwische.

Ich bin stärker, als ich vermutet hätte. Und ich schöpfe keine Kraft aus der Dunkelheit; diese Befürchtung hat sich glücklicherweise zerschlagen. Ich schöpfe Kraft aus der Konfrontation mit der Dunkelheit, aus dem Sieg des Lichts. Sol Invictus.

Mit diesen Worten möchte ich dich für heute alleine lassen. Ich habe keinen Schlüssel für dieses Problem, noch nicht. Aber ich denke. Und ich rede. Was kann man mehr verlangen?

Bleib mir gewogen.

Dein Homo Magi

 

Volkslieder-Reclaiming

Lieber Salamander,

vorletztes Wochenende habe ich eine lustige Veranstaltung gemacht, von der ich dir berichten will. Für mich ist Magie etwas, das nicht nur mein Leben auf heidnischen Treffen oder bei Ritualen bestimmt. Magie ist eine Art zu Denken, die mein ganzes Leben durchdringt.

Und Magie ist auch ein Gefühl, das man das ganze Leben durchtränken lassen muss. Immer wieder sollte man andere Lebensbereiche suchen und in ihnen etwas von der Magie ausschütten, die man in sich hat. Kleine Sternschnuppen sollte man setzen auf alltägliche Themen und Elmsfeuer schlagen lassen aus weltlichen Fragen. Bitte lies die folgenden Abschnitte unter jenem Gesichtspunkt: Magie kann und soll in allen Lebensbereichen wirken, so Magie-entfernt sie auch auf den ersten Blick wirken mögen.

Also, zu meinem Beispiel. Eine solche kleine Sternschnuppe wollte ich mit etwas setzen, das ich im Nachhinein sehr ironisch „Volkslieder-Reclaiming“ genannt habe – es war der Versuch, mit Heiden im Rahmen einer Veranstaltung täglich eine Gesangsstunde durchzuführen. Ich schicke das Fazit gleich vorweg: Es ist sehr gut gelaufen und ich war von den Ergebnissen positiv überrascht.

Zuerst ging es darum, die Verantwortlichen für dieses Treffen davon zu überzeugen, dass dies sinnvoll sei und sie mir für mein Programm Raum und Zeit stellen müssten. Dies ging erstaunlich leicht. Dann kam die Entscheidung, soweit möglich auf Instrumentenbegleitung zu verzichten. Lieder erschließen sich einfacher, wenn man sie gemeinsam singt. Und dann fällt es einem auch wesentlich leichter, die Melodie in andere Tonlagen zu transponieren – zumindest dann, wenn man so schlecht Klavier spielt wie ich.

Die Auswahl des Liedguts fiel mir dann schon schwieriger. Das III. Reich und die konservative Lesart des Wortes „Volksmusik“ – heute im Fernsehen ein reiner Mutantenstadel der Trachten-Trottel – haben viele Titel „beschmutzt“ (über den Widerspruch „Volkslied“-„Volksmusik“ lasse ich mich hier erst gar nicht aus!). Doch dann fiel mir ein, mit welchem Bild ich mich daran machen könnte, mir genehme Lieder nationalistischen oder gar rechtsextremen Gruppen zu entreißen: Schokoladenpudding. Nur weil im III. Reich Nazis auch Volkslieder gesungen haben, brauchen wir die Volkslieder nicht bannen, so wie wir auch Schokoladenpudding nicht bannen, obwohl auch Nazis im III. Reich Schokoladenpudding gegessen haben.

Dieses Bild krankt an allen Ecken und es ist sicherlich nicht wirklich zutreffend. Aber es trifft doch im Kern das, was ich ausdrücken will.

Endlich waren es dann vier Singeinheiten, die ich nach verschiedenen Gesichtspunkten zusammengestellt habe; für jeden Tag eine. In der ersten Einheit sollte es um ein „Warmsingen“ gehen, bei dem ich versucht habe, allgemein bekannte Lieder herauszusuchen. Das Ergebnis ging dann von „Der Mond ist aufgegangen“ über „Zogen einst fünf wilde Schwäne“ und „Auf einem Baum ein Kuckuck“ bis „Komm lieber Mai“ (ein schönes Lied vor Beltaine!). Dann gelangte ich endlich zum Höhepunkt der ersten Einheit: „Der Bi-Ba-Butzemann“. In meinem Volksliederbuch stand unter dem Lied nämlich folgender Hinweis, den ich natürlich gleich allen zusammen mit den Noten kopiert habe: „Der Butzemann gilt als Hausgeist.“ Damit war dieses Kinderlied zutiefst heidnisch und jedweder Protest aus den Reihen der Sängerinnen und Sänger wurde im Keim erstickt.

Mir ist bis heute nicht ganz klar, warum es jedes Mal zu regnen anfing, wenn wir dieses Lied gesungen haben. Die historisch-kritische Analyse der AG Butzemann wird sicherlich in den nächsten Jahren eine Antwort zu dieser Problemstellung vorlegen können.

Am zweiten Tag wollte ich mich damit beschäftigen, Teile des deutschen Volkslieds zu „reclaimen“ (ich finde das Wort supercool, auch wenn es eigentlich sinnentleert ist). Unter anderem geschah dies an diesem Tag durch „Wenn die bunten Fahnen wehen“, „Hoch auf dem gelben Wagen“ und – etwas vom Volkslied entfernt – “Freude, schöner Götterfunken“ von Beethoven & Schiller. Wir haben dieses Lied dann auch in das Beltaine-Ritual eingebaut. Mit diesem Erfolg hatte ich nicht gerechnet, werter Salamander, und ich gebe ganz ehrlich zu, dass es mich ziemlich stolz gemacht hat!

Für mich stehen wir Heiden heute auch in der Tradition der deutschen Revolution von 1848. Deswegen stand meine dritte Einheit unter dem Oberthema, Lieder aus dieser Ära zu proben. „Trotz alledem“ (1848), „Die freie Republik“ (nach 1837) und das „Bürgerlied“ bzw. „Ob wir rote, gelbe Kragen“ (1845) waren hierfür gute Beispiele, die auch erstaunlich viele Leute mitsingen konnten.

In der letzten Einheit versuchte ich dann zu beweisen, dass Arbeiterlieder nicht nur zum 1. Mai passen, sondern auch von Heiden gesungen werden können, ohne dass diesen wegen Verrat an Religion und Glauben zwei Zehen und die Nasenspitze abfrieren. Dem war auch so. Ich habe natürlich nicht alle Zehen in den nächsten Tagen kontrolliert, aber aus keinem Schuh lief Blut ...

„Die Internationale“, „Sacco und Vanzetti“ und „Brüder zur Sonne, zur Freiheit“ waren die Lieder, die an diesem Tag herhalten mussten. Und auch hier war ich überrascht, wie viele zumindest einmal (Wader sei Dank!) diese Lieder gehört hatten. Ist eine Melodie erst einmal „im Ohr“, dann fällt es viel leichter, sie erneut zu singen.

Was kann ich als Ergebnis dieser Arbeitseinheit festhalten? Erstens ist es so, dass das gemeinsame Singen eine gute Vorbereitung auf ein gemeinsames Ritual ist. Zweitens verändert sich durch Gesang der Zugang, den wir zur eigenen Atmung und zur eigenen Stimme haben. Wer sich traut, laut zu singen, der wird nachher auch weniger Schwierigkeiten haben, zum Beispiel während des Rituals laut zu sprechen. Und drittens gibt es viele Lebensbereiche, die wir uns als Heiden gemeinsam durch Handlungen und Worte erobern oder wiedererobern sollten – Ernährung, Jahreslauf, Literatur sind drei Stichworte, die ganz unterschiedliche Bereiche anreißen. Und ein Bereich ist eben auch der Gesang. Vielleicht nicht der wichtigste Bereich, aber einer der mir am Herzen liegt.

„Wo man singt, da lass‘ dich nieder,

böse Menschen kennen keine Lieder!“

Alles Liebe,

Dein Homo Magi

 

Besessenheit

Lieber Salamander,

ich kann nur hoffen, dass du dich nie mit einem so geschmacklosen Thema wie „Besessenheit“ als Betroffene auseinandersetzen musst. Besessen, das hat etwas damit zu tun, dass jemand anderes von einem Besitz ergreift. Und wir Magier sind Menschen, die großen Wert auf die Freiheit des eigenen Geistes legen. Und wenn wir diese Freiheit dadurch verlieren, dass jemand oder etwas von uns Besitz ergreift, dann ist die mindeste Regung das Gefühl der Beschmutzung, die extremste Regung dürfte die aus Erschrecken oder Abwehr resultierende Abwendung von magischen Fragestellungen und Praktiken sein.

Dies gilt natürlich nur für Fälle, in denen die Besessenheit nach relativ kurzer Zeit endet. Längere Fälle von Besessenheit führen durch den Verlust der eigenen Wahrnehmung bei der Befreiung aus der Besessenheit oder bei deren „natürlichem“ Ende zu Phänomenen, die einem Erwachen aus dem Koma gleichkommen – mit resultierenden Effekten wie dem Verlust der Zeitwahrnehmung und dem „Ausklinken“ aus dem natürlichen Jahresrhythmus. Diese Probleme sind zuerst im Bereich der natürlichen medizinischen und psychologischen Versorgung zu sehen, magisches Eingreifen darf erst erfolgen, wenn „der Patient“ stabil ist.

Die „klassischen Fälle“ sind das magische Eingreifen in einen Übernahmeversuch mit dem Ziel des Besitzen eines Menschen, die Verteidigung des eigenen Selbst gegen eine solche Attacke oder die Befreiung eines Menschen von einer (möglichst erst kurzzeitig wirkenden) Besessenheit.

Wie erkenne ich Besessenheit? Ehrlich gesagt: Ich habe hier leider keine „Handbuchlösung“ anzubieten. Menschen, die Dinge tun, die sie normalerweise nicht tun, sind vielleicht krank, verliebt oder unter extremer Anspannung. Und ich sollte mir auch in solchen Momenten ruhig (!) überlegen, ob die Besessenheit nicht vielleicht nur in meiner Wahrnehmung vorliegt. Bevor ich von „dämonischer Besessenheit“ etc. salbadere sollte ich sicher sein, dass ich sehe und nicht halluziniere. Jemand der Besessenheit zu beschuldigen, der nicht besessen ist, oder gar jemand von Besessenheit zu heilen, der nicht besessen ist – das ist so ziemlich das Dümmste, was man tun kann. Und es birgt Gefahren in sich – für beide Seiten. Und damit meine ich nicht nur die Gefahr, sich schrecklich lächerlich zu machen.

Noch einmal: Wie erkenne ich Besessenheit? Ich könnte jetzt den Rest des Briefes darauf verwenden, dir Einschränkungen und Warnungen zu beschreiben, die in diesem Zusammenhang greifen. Aber dann würdest du nie mehr handeln, sondern nur noch überlegen und abwägen. Das ist auch nicht Sinn der Sache. Nur Denken ist falsch, auch Handeln ist wichtig. Mit diesen geschilderten Einschränkungen ein paar Handlungsanweisungen.

Besessenheit ist – ganz grob – das Eindringen eines fremden Willens in jemand anderes mit dem Ziel, diesem den fremden Willen aufzudrücken. Besessenheit äußert sich also durch Verlust des eigenen Willens. Der Widerstand (wirklich: widerstehen) muss auf drei Ebenen stattfinden. Vorsicht: Meine Punkte sind Hinweise, keine Anweisungen!

1. Physisch. Öffne das Fenster und lass Luft rein oder entzünde angenehmes Räucherwerk. Mache angenehmes Licht, das nicht schläfrig macht. Singe oder lege Musik auf, die belebt. Beiss in eine Zitrone oder trinke einen Schnaps oder lutsche ein Stück Ingwer. Bewege dich, stampfe mit den Füssen, roll mit den Schultern, strecke die Finger.

2. Geistig. Mache dir klar, dass du nicht übernommen werden willst. Denke an Dinge, die nur dich etwas angehen und schöpfe Kraft und Wut daraus, dass diese Erinnerungen nur dir sind und nur du entscheidest, ob und wann du sie von dir gibst. Denke daran, dass deine Seele göttlich und unzerstörbar ist. Erinnere dich an Momente, die dich stark gemacht haben. Konzentriere dich auf etwas Schönes, das du tun willst, wenn der „Übernahmeversuch“ gescheitert ist.

Tu es aber auch, wenn es soweit ist.

3. Magisch. Zieh einen Kreis um dich. Verneige dich kurz in die vier Himmelsrichtungen und bitte die Mächte (oder wen auch immer) um Hilfe. Stelle dir vor, dass dein Geist durch farbige Bänder mit anderen Menschen verbunden ist. Fühle (ja, fühle – mehr Tipps kann ich hierzu nicht geben), welches Band dich mit dem verbindet, der dich beeinflussen will. Stelle dir eine flammende Klinge und vor und durchschneide mit einem Schlag dieses Band.

Bete und bitte Gottheit, Engel, Dämonen oder wen du auch immer für dich als zuständig betrachtest, um Hilfe.

Und: Halte durch. Besessenheit ist eines von den Dingen, die „das Universum“ (nenne es wie du willst, aber lass mir meinen Glauben) nicht gutheißt. Hilfe wird kommen, wenn du daran glaubst, nur kommt sie vielleicht unerwartet aus eigenartigen Ecken.

Gibt nicht auf, über Schatten und so weiter nachzudenken. Frag mich Salamander, frag mich, und ich werde versuchen, dir zu antworten.

Alles Liebe,

Dein Homo Magi

 

Sprache und die Ungerechtigkeit bei Olivenöl

Lieber Salamander,

Sprache ist die Grundlage der Zaubersprüche. Von daher ist es notwendig, sich ab und an mit Sprache zu beschäftigen.

Ich bin weder Germanist noch Sprachwissenschaftler. Mein Interesse an Sprache entspricht meinem Interesse an Computern – ich will sie benutzen, aber das verlangt nicht, dass ich sie bis in alle Ebenen hinein selbst verstehe (oder gar erzeugen/bauen kann).

Was mir in den letzten Wochen auffällt, wenn ich über Sprache nachdenke, ist immer wieder das Auftauchen von obskuren Anglizismen in unserer Sprache. Ich brauche nur ein paar Ecken zu laufen und schon treibt mir „Susann’s Kiosk“ Schauer über den Rücken. Nun gut, vielleicht heißt es ja eigentlich „Susannes Kiosk“ und der Apostroph ist nur ein Auslassungszeichen. Unwahrscheinlich, aber immerhin möglich. „Fritz’s Getränkekeller“ oder „Trucker’s Treffpunkt“ sprechen da schon eine beredtere Sprache.

Und wie sieht es mit Sprichwörtern aus, die in den letzten Jahren durch amerikanische Fernsehserien ihren Weg in unsere Sprache gefunden haben? Weder „Der frühe Vogel fängt den Wurm“ noch „etwas in einer Nussschale erklären“ sind deutsche Sprichwörter. In beiden Fällen waren die Übersetzer nur zu faul (oder zu dämlich), um die entsprechenden deutschen Bezeichnungen hervorzusuchen. Was spricht gegen „Morgenstund hat Gold im Mund“, außer, dass es nicht zu den hipsten (tolles Wort!) Trendwörtern (sic!) der letzten Jahre gehört? Die Nussschale bleibt mein übersetzerisches Geheimnis, aber warum kommt man „von der Bratpfanne in das Feuer“, wenn man doch „vom Regen in die Traufe“ kommen kann?

Ich weiß es nicht.

Auch im Heidentum hat sich die Anglizierung scheinbar durchgesetzt. Verständlich ist, dass keine Hexe zugibt, Sternenfalken-Fan zu sein. Auch eine Rückführung der Wicca-Bewegung auf Herrn Gärtner erscheint mir eher lächerlich. Das war aber sicherlich nicht gemeint. Wörter wie „Event“ und „Location“ habe ich schon in früheren Schreiben lächerlich gemacht. Warum jeder „Trainer“ oder „Initiate“ sein muss, ist mir auch unklar. Ob wir den Indianern einen Gefallen tun, wenn wir alle Begriffe, die ihre Kultur betreffen, sklavisch auf Englisch wiedergeben, wage ich zu bezweifeln.

Das ein „Copy Shop“ und ein „Coffee Shop“ in der Innenstadt einer deutschen Großstadt liegen, ist mir schon klar. Das „Handy“ ist eine deutsche Erfindung und auf englisch völlig unverständlich. Und in den Stellenanzeigen ist es offenbar verpönt, die deutsche Berufsbezeichnung aufzulisten – zumindest, wenn man ein gewisses Lohnniveau erreicht hat. Ein „Key Account Manager“ ist aber leider nicht der Hausmeister, welcher den Schlüssel für den Fahrradkeller verwaltet.

Darüber kann man sich, wenn es unbedingt sein muss, hinwegsetzen. Was ich nicht verstehe, ist die Blauäugigkeit, mit der wir Dinge auf englisch akzeptieren, die wir auf deutsch nicht ertragen würden. Berufe erhalten eine Statuserhöhung, wenn sie auf englisch bezeichnet sind. Musikstile etc. sind – da aus USA importiert – sowieso auf englisch. Auch damit bin ich einverstanden. „Megaseller“ sind sprachlich eine Katastrophe, für den Einzelhandel jedoch notwendig. Und das die Sprache vieler Heiden mit englischen Wörtern durchsetzt ist, das mag daran liegen, dass die Wicca-Bewegung stark von USAlern durchsetzt ist.

Was ich nicht verstehen kann, ist dass Heiden weiterhin Olivenöl benutzen. Ich meine, es muss doch irgendwo eine Grenze geben. Wir regen uns darüber auf, wenn in der 3. Welt Eingeborene ausgenutzt werden. Wir trinken Krombacher, weil mit jedem Kasten 1 m² Regenwald gerettet wird. Bei 24 Flaschen sind das 416,67 cm² pro Bier. Das entspricht einem Quadrat von etwa 20 x 20 cm. Wenn ich mein Bier in zwanzig Schlücken trinke, dann rettet jeder Schluck Bier ein etwa 4,5 x 4,5 cm großes Stück Regenwald. Ex oder Umweltsau!

Nein, das mit dem Olivenöl macht mich betroffen. Da kaufen wir Transfair-Kaffee (auch ein Anglizismus, seufz), sammeln Geld für die 3. Welt, unterstützen Arbeitsprojekte vor Ort und dann benutzen wir weiterhin Olivenöl. „Extra Natives Olivenöl“ – „Olivenöl mit zusätzlichen Eingeborenen“. Sind denn in jedem Öl Eingeborene und nur in diesem Öl sind zusätzliche Eingeborene? Werden die gemahlen oder (was wegen der Symbolik viel wahrscheinlicher ist) ausgepresst? Wissen die Familien der Opfer, was mit den Eingeborenen passiert?

Sind da auch „Native Americans“ (die englische Sprache kennt die Unterscheidung Indianer und Inder nicht, daher dieser Kunstgriff, um zwischen „Indians“ [Indien] und „Indians“ [Nordamerika] zu unterscheiden) drin? Ich weiß es nicht. Aber ich lasse die Finger von dem Zeug, bis die Frage eindeutig geklärt ist. Und selbiges kann ich dir auch nur empfehlen.

Ich mach Schluss für heute, ich will noch ein wenig Regenwald retten. Prost.

Dein Homo Magi

 

Von Sinn und Unsinn eines heidnischen Dachverbandes

Hallo Salamander,

immer wieder gibt es Überlegungen aus den unterschiedlichsten Richtungen, für die verschiedenen Strömungen innerhalb des deutschsprachigen Heidentums einen gemeinsamen Dachverband zu schaffen.

Prinzipiell erscheint mit die Idee eigentlich gut. Wenn sich schon Autofahrer, Kaninchenzüchter und Kleinkaliberwaffenfreunde in solchen Dachverbänden sammeln, warum nicht auch wir Heiden? Das faszinierende ist jedoch, dass wir Heiden – im strengen Gegensatz zu den eben genannten Gruppierungen und wahrscheinlich auch im strengen Gegensatz zum größten Teil der Bevölkerung – nicht in der Lage zu sein scheinen, einen solchen Dachverband zu gründen und mit Leben zu füllen.

Ich bin nicht in der Lage, letztendliche Aussagen über diese Frage und mögliche Antworten zu machen, aber ich kann einige Deutungsversuche anbieten, die ich dir nicht vorenthalten will.

Meiner Ansicht nach ist das Problem durch die Grundstruktur des Vereins angelegt. Was ist ein Verein? Ein Verein ist in erster Linie eine Rechtsform, die seinen Mitgliedern das Schließen von Verträgen ermöglicht – so z.B. die Anmietung von Gebäuden, die Abrechnung ihrer Beiträge und das Abschließen von Versicherungen. In dem Rahmen, den die Regeln des Vereins (die schriftlich festgehalten sein müssen) vorgeben, kann man dann schalten und walten wie man will. Der gemeinsame Name bringt ein Wir-Gefühl und der Verein wird mehr und mehr zu einem Ort, an dem man Gleichgesinnte kennen lernen und sich über Probleme austauschen kann. So sprechen Dackelzüchter wahrscheinlich erst einmal über Dackel und ihre Aufzucht und Hege, Ikebana-Sammler hingegen über Ikebana. Ähnlich ist es bei den Heiden, die sich zuerst über das Heidentum an sich unterhalten werden. Und im Laufe der Zeit werden aus Fremden Bekannte und aus Bekannten Freunde. Man sollte die soziale Bedeutung der Vereinsstruktur nicht unterschätzen! In meinem Bekanntenkreis gibt es schon Beziehungen und Kinder, die aus Treffen im sozialen Rahmen eines Vereins entstanden sind. Ob die Kinder gewollt oder ungewollt sind, lasse ich jetzt erst einmal ungeklärt im Raum stehen.

Das Problem ist meiner Ansicht nach die grundsätzliche Unvereinbarkeit dieser Struktur mit der Struktur der meisten heidnischen Gruppierungen. Heiden sind hierarchisch organisiert, Vereine demokratisch; bei Vereinen ist der Zugang frei bzw. eindeutig geregelt, bei heidnischen Gruppierungen ist der Zugang eingeschränkt, reguliert und reglementiert.

Die heidnischen Gruppierungen in Europa lassen sich fast alle drei unterschiedlichen Organisationsmustern zuordnen. Die erste Gruppe ist Führer-orientiert und ersetzt messianische Strukturen durch die Hinwendung auf einen Heilsbringer. Die zweite Gruppe ist hierarchisch organisiert, wobei hier verschiedene Hierarchien nebeneinander existieren können (ein Beispiel wäre eine Teilung in eine kriegerische, eine religiöse und eine heilerische Hierarchie). Die dritte Gruppe schafft durch gemeinsame religiöse Grundlagen Paradigmen und reagiert auf Reize von außen mit spontaner Ablehnung, wenn diese Reize nicht den Regeln und Regelungen innerhalb der Gruppe entsprechen (was selten der Fall ist). Alle drei Gruppierungen sind aus unterschiedlichen Gründen schon nicht in einem Verein zu fassen, der nur sie umfassen soll. Die erste Gruppe kann nicht damit leben, wenn ihr Anführer nicht auch gleichzeitig 1. Vorsitzender und Kassenwart ist – und diese Funktionen natürlich perfekt ausfüllt. Die zweite Gruppe widerspricht durch ihren hierarchischen Aufbau der Grundstruktur von Vereinen und hat größte Schwierigkeiten, sich in das formal demokratische Gerüst des Vereins einzufügen (ich war einmal in einem Verein, dessen 1. Vorsitzender auf Lebenszeit gewählt wird – aber das sind wohl Ausnahmen, sozusagen vereinsrechtliche Hechte im Karpfenteich). Die dritte Gruppe wird Probleme kriegen, ihre Paradigmen mit den Spielregeln des Vereinsrechts in Übereinstimmung zu bringen – eine Übereinstimmung, die in Deutschland eigenartigerweise immer wieder von Vereinen erzeugt wird, in denen ansonsten normale Menschen durch geheimnisvolle Ausdünstungen auf Jahreshauptversammlungen zu Geschäftsordnungs-Metzlern und Satzungs-Mördern werden.

Man stelle sich jetzt diese Situation genüsslich einen Moment lang vor. Und jetzt darf man die Überlegung nicht aus den Augen verlieren, dass es ja hier um eine Arbeitsgemeinschaft geht – ein Konglomerat verschiedener Gruppierungen unterschiedlicher Facon und Religionsausübung. Wenn schon eine heidnische Gruppe alleine nicht in das Gerüst eines Vereines zu zwängen ist – wie soll es dann erst verschiedenen Gruppen gehen, die versuchen, sich allen das gleiche Korsett überzustülpen?

Das kann nicht funktionieren und in der Realität funktioniert es auch nicht. Heidnische Arbeitsgemeinschaften scheinen nur machbar zu sein, wenn die Großkopferten der beteiligten Organisationen ihr Ego opfern – und dazu sind sie aus verständlichen Gründen fast nie bereit. Totgeborene Kinder sind sie, diese Arbeitsgemeinschaften, wasserköpfige Monstren aus den finsteren Versuchslaboren des Vereinsrechts. Schimären, die Heiden mehr Einfluss in der Gesellschaft bringen sollen, die jedoch nicht mehr sind als Maschinen zur Erzeugung von Ruhm und Ehre für die Großkopferten. Sonst nix.

Schade eigentlich, aber für viele ist der Verlust eines Teils des Egos den Sieg der Sache (nämlich: Erzeugung einer funktionierenden heidnischen Arbeitsgemeinschaft) nicht wert. Pech gehabt.

Alles Liebe,

dein ein wenig verwirrter Homo Magi

 

Giebel

Lieber Salamander,

wenn man so einfach die Straße entlangschlendert, sich nicht viele Gedanken macht, wo man hingeht und so Schritt nach Schritt macht – dann entwickelt man ein ganz anderes Gefühl für die Stadt und ihre Häuser.

Beim Gehen fallen einem Dinge auf, die einem nicht auffallen, wenn man mit dem Auto vorbeifährt. An einem stählernen Zaun zu einem fast völlig verlotterten Vorgarten fehlen die Spitzen, die immer ein wenig aussehen wie die Spitzen von Speeren. Wer stiehlt so etwas? Das alte Haus aus den Anfangsjahren des 20. Jahrhunderts, es ist unter den Balkonen mit stilisierten Zunftzeichen geschmückt. Wer mag hier früher gewohnt haben? Ein Steinmetz oder ein Zimmermann?

Oft sind es Buchstaben am Giebel, die einem Hinweise auf den Namen des Erbauers oder des Auftraggebers geben können. Manchmal kann man auch – wenn man sich die Zeit nimmt – erkennen, dass die Buchstaben nicht etwa in das Blattwerk übergehen, sondern dass sich die Schrift durch die Blätter hindurch zieht und sehr wohl einen ganzen Satz bildet, den man nur erkennen kann, wenn man sich die Zeit nimmt, die Buchstaben einzeln aus dem Dickicht herauzusuchen.

Die Häuser sehen einfach anders aus, wenn man sie aus der Perspektive des Fußgängers betrachtet. Aber das macht auch Sinn. Die Erbauer dieser Häuser wussten nichts vom Kommen des Automobils, wussten nichts von Menschen, die an Häusern nur noch vorbeifahren und ihnen hastige Blicke zuwerfen. Wir fahren mit den unterschiedlichsten Verkehrsmitteln durch Straßen, deren Häuser für die Blicke von Passanten gemacht worden sind, die Schritt für Schritt gemächlich an ihnen vorbeigehen.

Wenn man sich Häuser anschaut, die in den letzten 20 Jahren gebaut worden sind, dann wird man relativ schnell merken, dass ihre Fassaden viel langweiliger sind als die Fassaden der älteren Häuser. Sie haben sich dem Stil angepasst, bieten keine Haken mehr für das Auge und sind ideal dafür, dass man sie mit einem schnellen Fahrzeug passieren kann. Ich glaube zwar, dass wir durch diese Selbstbeschneidung etwas verlieren – aber scheinbar tauschen wir Mobilität und Geschwindigkeit gegen einen Reichtum an Sinneseindrücken ein.

Manche Tauschs, die wir machen, um in einer „modernen Gesellschaft“ leben zu können, sind eigentlich Selbstbetrug. Wer zum Beispiel die Bilder und Formen, die uns die Häuser einer Stadt bieten, nicht lesen kann, wer nicht erkennen kann, was die Umwelt, in der er lebt, ihm zu sagen hat, der ist blind für eine Vielzahl von Informationen, die unser Bild der Welt abrunden sollten. Was habe ich davon, dass ich schnell von einem Ort zu einem anderen Ort komme, wenn ich nie in einem der Orte richtig bin, sondern immer nur zwischen beiden?

Egal welche Welten wir erkunden, wenn wir uns mit der Magie beschäftigen, egal, was wir sehen und erleben – wir müssen es mit all unseren Sinnen und in Ruhe erfassen, sonst sind die Bilder, die wir empfangen, verschenkt.

Dein Homo Magi

 

Schlüssel

Hallo Salamander,

ich habe in meinem Leben schon lange keinen Schlüssel mehr verloren. Andere Menschen scheinen da mehr Schwierigkeiten mit zu haben. Schon vor einigen Jahren habe ich es mir zur Angewohnheit gemacht, große Gegenstände als Schlüsselanhänger zu verwenden. Mein Bruder nimmt meist riesige Schrauben, ich bin mehr für grässliche Plastikanhänger. In den Monaten, in denen die Kuh- oder Fischfiguren in waren, denen beim Drücken die Augen hervorquollen, musste ich mich sehr zurückhalten. Ich hätte am liebsten alle meine Schlüsselanhänger auf dieses „Design“ umgeändert. Eine Stimme in meinem Kopf hielt mich davon ab – und sei es nur, weil ich mir überlegt habe, dass sich der Witz mit den Fischaugen nach dem achttausendsten Mal ein wenig überholt hat.

Bevor ich ein Auto verschließe, überprüfe ich noch einmal in Ruhe alle meinen Hosentaschen, ob ich den Schlüssel auch wirklich eingesteckt habe. Bei meinem momentanen Auto ist das zum Glück nicht nötig, weil sich die Fahrertür von außen nur verschließen, nicht jedoch schließen lässt. Ab und an überprüfe ich trotzdem vor dem Verschließen meine Taschen – aber da geht es eher um die Frage, ob ich nicht Dinge einstecken habe, die ich ruhig im Auto lassen kann (oder ob ich etwas im Auto vergessen habe, was ich jetzt gleich dringend brauche ...).

Bei Haustüren ist es ärgerlich, wenn man keinen Schlüssel mit hat. Wie oft steht man dann vor der eigenen Haustür und kommt nicht rein? Ist mir noch nie passiert. Einmal hatte ich Kontakt mit einem Schlüsseldienst, weil nachts um 1.30 Uhr der Zylinder sein Leben aushauchte. Zum Glück war ich in der Not nicht alleine (ein weiterer Nachbar trudelte auch ein, der ebenso ausgesperrt war), weil der Schließdienst gerne bar und sofort bezahlt wird – und da ist es angenehmer, wenn man auf zwei Geldbeutel denn auf einen zurückgreifen kann. Mein damaliger Vermieter hat sich erst nach der Bedrohung durch eine Rechtsanwältin „breitschlagen“ lassen, die Rechnung des Schlüsseldienstes zu bezahlen. In seinem ablehnenden Brief beschimpfte er mich erst wegen nächtlicher „Diskobesuche“ und ich hätte doch klingeln können, bis mich einer rein lässt. Meine wertvollen Argumente, dass niemand nachts um 1.30 Uhr gerne geweckt wird und dass ein defekter Schlosszylinder defekt ist, selbst wenn ich ihn durch Wecken der Nachbarn einmal überwunden habe, zählten nicht. Wir hatten dann einen Termin mit der Rechtsanwältin – und er hat wirklich gezahlt.

In mir wohnt auch ein tiefes Misstrauen gegen Schließsysteme. Ein einziger Schlüssel passt zur Haustür, zur Wohnungstür, zur Garage, zum Nachttisch und zum Mofa. Gebe Gott, dass man diesen Schlüssel nie verliert oder beschädigt – im ersteren Fall sind Tor und Tür für jeden Einbrecher geöffnet, im anderen Fall ist man selbst von allem, was einen glücklich macht, getrennt. Als ich groß wurde, hatte mein weiser Vater – sein Name sei gepriesen! – eine Schließanlage in unserem Haus installiert. Der Schlüssel passte zu unserer Wohnung, zu unserer Garage, zu seinem ganzen Bürohaus und wahrscheinlich auch zum Kreml. Zumindest wurde soviel Getue um den Schlüssel gemacht – würde man ihn verlieren, wäre ein Austausch der sündhaft teuren Schließanlage die einzige Lösung gewesen. Ich habe meinen Schlüssel nicht verloren, überließ das lieber Mitarbeitern der Firma. Erschien mir irgendwie passender. Wir bekamen erst neue Schlüssel, als mein Vater das Bürohaus verkauft hatte. Wahrscheinlich war er nicht davon begeistert, dass jeder Mitarbeiter der neuen Firma in diesem Gebäude in unsere Privatwohnung eindringen konnte.

Aber vielleicht kommt daher meine Angst, einen Schlüssel zu verlieren. Ich bin daher ein guter Blumengießer und Briefkastenleerer, wenn ich als Urlaubsvertretung auf Wohnungen aufpassen soll. Ich kann auch versprechen, dass ich die entsprechenden fremden Schlüssel weder verliere noch verschlampe. Die eingehende Post wird von mir in schönen Stapel nach Größe der Umschläge auf beliebigen Tischen in der Wohnung verteilt. Vom Durchsuchen von Schränken und vom Stöbern in Unterlagen halte ich ebenso Abstand – man bekommt dann wahrscheinlich Wissen über Menschen, das man gar nicht haben will. Mein Leben ist mir und dein Leben ist dir.

So, lieber Salamander, spätestens jetzt wirst du dich fragen, was das alles mit Magie zu tun hat. Es gibt einen Zusammenhang, eine tragfähige Argumentationsbrücke, über die ich dich jetzt geleiten will.

Das Wort „Schlüsselereignis“ (auch das „Schlüsselerlebnis“) steht nicht nur zufällig sprachlich in der Nähe der „Schlüssel“. Bestimmte Momenten im Leben sind wichtiger als andere. Die erste Liebeserklärung und der erste Kuss. Die Geburt eines lieben Menschen, der Tod eines lieben Menschen. Die erste durchweinte Nacht, der erste Sonnenaufgang auf einer Wiese. Der Geruch von gemähtem Gras in der Nase, während man mit netten Freunden auf einer Holzbank im Freien sitzt und in Ruhe ein Bier trinkt.

Und auch für Menschen, die sich mit Magie beschäftigen, gibt es solche Augenblicke. Ist auch gut so, denn wenn alle Ereignisse von gleicher Gewichtung wären, dann wäre es ausgesprochen schwierig, im Rückblick Wendepunkte der eigenen Entwicklung markieren zu können.

Denke bei diesen Schlüsselerlebnissen doch einmal an die Geschichten über Schlüssel, die ich dir eben erzählt habe. Ist das Ereignis nur mit einem Teil deines Lebens verbunden oder besteht die Verbindung zu mehreren Teilen von dir? Hast du das Ereignis oder die darauf folgende Erkenntnis irgendwie notiert – bist du in der Lage, in späteren Jahren darauf zurückzugreifen und dich daran zu erinnern, was damals wirklich passiert ist? Passt das Bild in deinem Kopf noch in das Schloss aus der Erinnerung?

Und hüte diese Bilder, beschütze diese Erfahrungen. Sie sind dir, wichtige Teile deines Lebens. Sozusagen sind sie Teil der Schlüssel für deine seelische Schließanlage. Und du solltest dir überlegen, wem du Kopien deiner Schlüssel übergibst. Ich will dich jetzt nicht davon abbringen, dein kleines Herz immer wieder aufschließen zu lassen. Wir sterben langsam aus Einsamkeit, wenn niemand uns im Inneren berührt. Aber manchmal vergisst man jemanden, der noch einen Schlüssel hat – und auf einmal steht er im Flur. Leider bringen solche Menschen nicht immer Blumen mit ...

Salamander, ich hoffe, du wirst dir aus meinen Aussagen schlüssig. Guter Witz.

 

Dein Homo Magi

 

Krank und siech

Lieber Salamander,

verzeih, dass du im Moment wenig mit mir über Magie reden kannst. Es gibt einfach Zeiten im Leben, wo die Magie – erzwungenermaßen oder freiwillig – nur einen weniger attraktiven Platz in unserem Leben einnehmen kann, als Platz Nummer 1.

Du weißt, weil ich es dir erzählt habe, dass ich im Moment in meiner Familie damit beschäftigt bin, Krankenhausbesuche zu organisieren etc. Ich habe noch keinen Trick gefunden, der es mir möglich macht, mich durch Magie vor Krankenhausbesuchen zu drücken. Ich weiß auch nicht, ob das wirklich sinnvoll wäre. Denn es gibt Dinge, Dinge aus der echten Welt, die einfach gemacht werden müssen – von Magiern und Nicht-Magiern. Ich vermute einmal, dass auch Gandalf Toilettenpapier gekauft hat und Merlin in der Lage war, sich Nudeln mit Tomatensauce selbst zu machen. In diese Kategorie fällt auch für mich die Beschäftigung mit Krankheiten.

Meinem Vater geht es besser, danke. Was mich nur irritiert, ist die Menge an Grenzen, die ich das letzte Jahr überschreiten musste. Keine Bedrohungen von außen, keine magischen Attacken, keine magischen Herausforderungen, die mich zwangen, über das nachzudenken, was ich bin. Stattdessen kamen meine Probleme aus der echten Welt, hatten nur (!) etwas mit der echten Welt zu tun.

Auf einmal ist man für die Finanzen des Vaters mitverantwortlich, kümmert sich um die Korrespondenz mit der Krankenkasse, schiebt seinen eigenen Vater im Rollstuhl herum etc pp. Da werden Grenzen verletzt, Einflussgebiete verändert, die sich über 30 Jahre lang nicht geändert haben. In meinem Gehirn verändern sich im Moment mehr Dinge, als ich in so kurzer Zeit für möglich gehalten hätte.

Mir ist noch keine magische Umsetzung dafür eingefallen. „Blut ist dicker als Wasser“, das wäre noch der einzige Spruch, den ich bieten kann – und der ist nicht wirklich magisch. Ich denke noch. Und das ist wohl der Effekt, den das Schicksal damit erreichen wollte. Ich denke noch, bin nicht festgefahren. Und so lange ich denke, kann ich zaubern.

Dein Homo Magi

 

Chancen, Fähigkeiten und Karma-Gedudel

Lieber Salamander,

als junger Mann war ich immer der Ansicht, dass die Gaben zwischen den Menschen gleichmäßig verteilt sind. Nicht, dass jeder Mensch auf den ersten Blick die gleichen Vorraussetzungen hat. Aber eine Mischung aus sozialistischer Weltanschauung und esoterischer Ansicht führte dazu, dass ich davon ausging, dass jeder Mensch die selben Startchancen hat.

Natürlich war es so, dass nicht auf den ersten Blick klar war, wie das zu erklären ist. Manche Menschen haben bessere körperliche Vorraussetzungen, sind Sportler oder einfach nur sehr gutaussehend. Dahingegen werden Kinder geboren, die taubblind sind, keine Gliedmaßen haben oder über Hirndefekte verfügen. Manche Kinder haben ein Elternhaus, in dem Geld keine Rolle spielt, weil es in jeder nötigen Menge zur Verfügung steht. Andere Kinder wachsen in bitterer Armut auf. Eine Förderung ihrer Fähigkeiten findet hier nicht statt, weil das Elternhaus keine Möglichkeiten hat, irgendwelche Fähigkeiten zu fördern. Manche Kinder wachsen in einer Gesellschaft auf, die (relativ) repressionsfrei ist. Andere Kinder wachsen in totalitären Regimen auf oder sogar in Staaten, wo die tatsächliche Staatsordnung durch den Wegfall jeder Zentralverwaltung eine unangenehme Form der Anarchie ist. Manche Kinder bekommen es in die Wiege gelegt, vier Sprachen zu lernen, mit drei schon Lesen zu können und mit sechs Schachgroßmeister ihres Landes zu sein. Andere Kinder lernen nicht einmal das, was bei uns in der Volksschule gelehrt wird – in etwas knapperen Worten: kein Einmaleins und kein Alphabet. Alleine mit diesen vier Grundvoraussetzungen (Körper, Elternhaus, Gesellschaft, Intelligenz) könnte man schon beim ersten Blick feststellen, dass wir Menschen eben NICHT mit gleichen Voraussetzungen beginnen. Aber ich denke, dass der junge Mann in mir eine fünfte Qualifikation als Rechengröße eingeführt hat, die es ihm einfach machte, diese offensichtlichen Differenzen auszugleichen. Nennen wir sie einfach mal Nasebohren. Gott schaut nicht nur darauf, dass Kinder vergleichbare Voraussetzungen in einer Summe der vier Faktoren haben (in anderen Worten und etwas simpel formuliert: Wer hässlich ist, der ist vielleicht klug, wer in einem miesen Elternhaus aufwächst, der hat wenigstens sein Leben in einer freien Gesellschaft zu verbringen), sondern es gibt einen ausgleichenden fünften Faktor, der Nachteile ausgleicht. Nur ist es uns Menschen eben nicht gegeben, die Bedeutung dieses Faktors zu erkennen. Das behinderte, dumme Kind aus einem asozialen Elternhaus, welches in einem diktatorischen Staat geboren worden ist, darf wenigstens darauf hoffen, dass es mit der göttlichen Fähigkeit des Nasebohrens perfekt ausgestattet ist.

Ein wenig ist es sicherlich auch die Sicht des aktiven Rollenspielers. Man kann im Fantasy-Rollenspiel Fähigkeiten für einen Charakter „kaufen“ und sozusagen festlegen, was aus der Figur wird. Nicht umsonst ist die Charaktergeneration bei einer Figur immer mit der interessanteste Teil der ganzen Arbeit der Erstellung einer neuen Persönlichkeit.

Jahrelang habe ich daran geglaubt. Das eingeführte signifikante Merkmal des wichtigen göttlichen Nasebohrens ließ mich darüber hinwegsehen, dass die Menschen eben NICHT gleiche Chancen haben.

Seit einigen Jahren weiß ich aber, dass diese Sicht falsch ist.

Ich weiß nicht, wann ich meine Ansicht verändert habe. Wahrscheinlich geschah es in einem von meinen vielen Gedankenspielen über den Sozialismus oder meinetwegen auch über die Möglichkeit eines utopischen Sozialstaates – gleiche Startchancen für alle Kinder etc. pp. Natürlich ist das eine schöne Idee. Man vereinheitlicht die Kriterien für Kindergarten, Schule, finanzielle Unterstützung der Eltern etc. Und man kann sogar noch einen Schritt weiter gehen, in dem man das Privatvermögen so weit wie möglich ausschaltet und damit die Besserstellung der Kinder gutverdienender Eltern (mit allen daran hängenden Vorzeichen) beseitigt. Und schon beginnt das Problem: Wie verrechne ich die Faktoren? Selbst wenn alle Menschen gleich viel verdienen, gibt es Umgebungen, in denen Kinder besser heranwachsen als in anderen. Es gibt Orte, die für Kinder zuträglicher sind als andere. Und, sagen wir es ehrlich: Es gibt Eltern, die für Kinder deutlich abträglicher sind als andere.

Die Antwort kann nicht sein, an den Verhältnissen nichts zu ändern. In der deutschen Währungsreform erhielten alle Menschen die gleiche Bargeldsumme – aber Faktoren wie Grundbesitz etc. wurden nicht berücksichtigt. Ist das eine faire Startchance? Nein. Es erinnert mich ein wenig an den Cartoon, in dem ein Goldfisch im Glas, ein Affe und ein Rhinozeros vor einem Baum stehen. Ein Lehrer hält einen Zettel hoch und liest „Und hier ihre Abituraufgabe: Klettern Sie auf diesen Baum!“. Gleiche Aufgaben sind nicht gleiche Chancen.

Es ist bitter, aber wahr. Wir Menschen haben nicht gleiche Chancen. Es gibt Menschen, die haben von Geburt an keine Chance, sich zu verwirklichen. Sie haben nicht einmal eine Chance dazu, im Leben das Glück zu finden. Die Esoterik redet sich dann gerne mit dem Karma-Gedudel heraus. Wer in diesem Leben keine Chance hat, der wird sicherlich im letzten Leben Maharadscha oder Raumpilot (oder wird für etwas bestraft, das er im letzten Leben getan hat). Daran kann ich nicht ganz glauben, halte es weiterhin für eine neue (wenn auch geschicktere) Variante der Priester-Betrugstheorie. Halte in diesem Leben still, denn im Jenseits (oder im nächsten Leben) kommt die Belohnung. Daran habe ich meinen Glauben leider verloren. Es kommt keine Belohnung im Jenseits, welche die Ungleichheit im Diesseits ausgleicht. Wir müssen damit leben lernen, dass es Menschen gibt, die keine Chance haben. Punkt.

Aber darf dies dazu führen, dass wir „aus dem Bauch raus“ eine Aristokratie der gescheiten und schönen fordern? Müssen wir den Status Quo der Ungleichheit hinnehmen? Nein. Auf keinen Fall.

Nicht in der Gesellschaft, nicht in irgendeiner Gruppe, nicht im Glauben, nicht in der Magie. Niemals, nie nie nie.

Alles Liebe,

Dein Homo Magi

 

Sabbernde Idioten und dreckige Tänze

Lieber Salamander,

inzwischen ist die Geschichte, die ich dir jetzt erzählen will, verjährt. Und wenn man mich fragen würde, so würde ich sagen, dass ich natürlich keine Ahnung habe, wer die beiden jungen Männer sind, von denen ich dir gleich berichten will.

Eigentlich ist dieser Bericht kein wirklicher Aufhänger für einen Brief an dich. Trotzdem denke ich, dass man dieses Thema in Zusammenhang mit Magie & Heidentum ansprechen sollte. Ich kenne viele Heiden, die sich für schamanische Reisen oder andere Randerfahrungen bis unter das Dach mit künstlichen oder natürlichen Drogen vollpfeifen. In manchem Falle ist das gut gegangen, in einigen Fällen hat das sehr unangenehme Folgen gehabt – für Tester und Umwelt.

Das Drogenexperiment, von dem ich berichten will, hat etwas mit zwei jungen Männern zu tun. Die Geschichte läuft so, dass beide wenig Erfahrungen mit Drogen hatten. Alkohol, ja, und auch ein wenig kiffen. Mehr war aber nicht. Und da kam dann die Zeit, wo alle Leute total auf natürliche Drogen abfuhren. Ob das jetzt Pilze waren oder weiß Gott was. Unsere beiden jungen Männer wiederum kamen auf die tolle Idee, etwas auszuprobieren, was sonst noch keiner in ihrem Bekanntenkreis ausprobiert hatte: Muskatnüsse. Nun sollte man sich, bevor man eine solche Tat unternimmt, vorher ordentlich informieren. Dieser Schritt ist wohl vorher unterblieben, sonst hätten die beiden jungen Männer schnell den Unterschied zwischen Muskatnussöl und Muskatnuss erfahren. So war dem aber nicht, und man machte sich am Tag vor Weihnachten einen netten Abend vor dem Fernseher. Jeder hatte neben sich einen kleinen Stapel von Muskatnüssen – naja, fünf pro Person. Vor dem Fernseher lag ein Stapel mit ein paar Videokassetten, man wollte es sich so richtig gut ergehen lassen.

Als erstes warfen die beiden jungen Männer „Dirty Dancing“ in den Video. Dazu aßen sie jeder die ersten beiden Muskatnüsse. Nun kann eigentlich von „essen“ nicht die Rede sein. Eine Technik, welche die beiden entwickelten, bestand darin, die Nuss zwischen die Zähne zu klemmen und dann auf den Unterkiefer einzuschlagen, bis die Nuss kaputt war. Oder man wickelte sie in ein Handtuch, schlug mit dem Hammer drauf und kaute dann die Trümmer klein. Wie auch immer, die Dinger sind scheißhart.

Als der erste Video fertig war, holte man ihn brav aus dem Gerät, tat ihn auf den Stapel und legte dann den obersten Video vom Stapel ein – „Dirty Dancing“.

Während der Film lief, beschäftigte man sich damit, eine weitere Muskatnuss zu essen. Langsam aber sicher war der Mundinnenraum nicht nur manchmal trocken, sondern immer. Durch die Muskatnuss schlief aber der Mundinnenraum auch ein, die Lippen und die Wangen wurden taub. Man hatte schrecklichen Durst, aber wenn man etwas trank, dann lief der Saft aus dem Mundwinkel. Die beiden jungen Männer müssen ausgesehen haben wie zwei Patienten nach einer Multi-Wurzel-Behandlung beim Zahnarzt.

Irgendwann war der zweite Film zu Ende, man holte ihn raus, legte ihn auf den Stapel und dann nahm man den obersten Film vom Stapel und schob ihn in den Videorecorder – „Dirty Dancing“. Die beiden jungen Männer kauten weiter auf ihren Muskatnusssplittern herum, als irgendwann die Szene mit der Melone kam. „Was machst du da?“ „Ich trage die Melone.“

Die beiden jungen Männer schauten sich an und beiden wurde schlagartig klar, dass sie diese Szene heute schon ein paar Mal gesehen hatten. Eine kurze Inspektion des Video-Stapels ergab, dass man noch keinen von den anderen Filmen gesehen hatte, aber mehrere Male „Dirty Dancing“. Außerdem hatten beide bei näherer Inspektion deutliche Sabberflecken auf den Pullovern, ihre Mundwinkel und Wangen waren eingeschlafen, die Wangen nur noch unter Problemen zu bewegen. Von einer klaren Unterhaltung kann nicht die Rede gewesen sein.

Der Wortwechsel muss also sehr unterhaltsam gewesen sein. Was galt es nun zu tun? Anstatt alles wieder herauszukotzen (was sinnvoll gewesen wäre), entschloss man sich, das wertvolle und hochwissenschaftliche Experiment abzubrechen. Auch eine Lösung. Der eine junge Mann fiel gleich ins Bett (es war immerhin seine Wohnung), der andere fuhr noch mit seinem Auto heim. Aus seinen Aussagen kann man rekonstruieren, dass er nicht nur die dreifache Zeit für die Heimfahrt gebraucht hat, sondern noch nie in seinem Leben so voll mit dem Gefühl der nahenden Weihnacht war – überall Schnee, viele bunte Lichterketten und ein sehr träumerisches Gefühl im Kopf.

Der nächste Tag war Weihnachten. Der eine junge Mann (der, der gleich in seiner Wohnung kollabiert war) verbrachte den Tag im Bett, bis er abends zu seiner Familie musste, Weihnachtslieder singen. Der andere junge Mann hatte sich dummerweise bereiterklärt, bei einer Kinderbescherung den Weihnachtsmann zu mimen. Das war sicherlich der erste Weihnachtsmann, der immer wieder unauffällig in seinen Bart sabberte, weil er noch unter dem Spätschock von Muskatnüssen litt.

Irgendwann abends, vor der Verteilung von Geschenken, telefonierten die beiden jungen Männer noch miteinander und erklärten unabhängig voneinander, dass sie inzwischen herausbekommen hätten, dass Muskatnüsse giftig seien, während das Öl ganz tolle Effekte hervorrufen würde. Aber aus eigenartigen Gründen haben die beiden jungen Männer das Muskatöl nie ausprobiert. Ich weiß auch nicht, warum.

Und die Moral von der Geschichte? Manchmal sind die Erfahrungen, die man mit Drogen macht, sicherlich interessant und sie sorgen dafür, dass man Dinge wahrnimmt und erfährt, die man sonst nicht wahrgenommen oder erfahren hätte. Aber manchmal, ja manchmal, da wird man einfach zum sabbernden Idioten. Und wenn dann keiner da ist, der noch geistig klar ist, dann wird man vom Schicksal gezwungen, sich schrecklich zu blamieren. Die beiden jungen Männer hatten Glück – es war nur „Dirty Dancing“ & es gab keine Zeugen. Es hätte auch viel schlimmer kommen können ... „Musikantenstadel“ vor 20 guten Freunden.

Muss nicht sein.

Alles Gute,

Dein Homo Magi

 

Invasoren aus dem Weltraum

Lieber Salamander,

du weißt, dass ich kein ausgesprochen paranoider Mensch bin. Okay, ich leide wie die meisten Magier unter einer geringen Form der Paranoia – das bringt die Job-Beschreibung halt mich sich. In meinem erweiterten Bekanntenkreis hält sich jeder Magier immerhin mindestens eine Paranoia – und sei es nur, um seine eigene Bedeutung zu überhöhen. „Ich werde von atlantischen Magiern verfolgt“, „Der OTO ist hinter mir her!“ oder „Ich habe noch Getränkeschulden beim Grafen von St. Germain!“ sind natürlich Super-Aufhänger, um die eigene magische Bedeutung immens zu erheben.

Noch besser ist das leise Geflüster, das man in jedem Gespräch, das sich nur im weitesten Bereich um okkulte Themen dreht, unterbringen kann. „Psst, ich kann da jetzt nicht drüber sprechen“, „Ich möchte da erst drüber reden, wenn wir an einem sicheren Ort sind“ oder „Nenne keine Namen, deren Bedeutung du nicht erfasst!“ sind nicht nur irrsinnig gute Keulen, um jedes vernünftige Gespräch zu ersticken, sie sind auch schwer zu widerlegen. Denn wenn man nachfragt, verstößt man ja gegen die gesetzte Vorgabe, nicht mehr über das Thema zu reden. Logisch, oder?

Schön ist es auch, wenn man alle ärgerlichen Dinge im eigenen Leben auf jemanden oder eine Gruppe schieben kann, die hinter einem her ist. Jeder Grippe-Infekt, jeder platte Reifen und jeder nicht-funktionierende Drucker wird so schnell zu einem weiteren Trick der Illuminaten, der heiligen Moosraucher von Abtel-Karamanch oder der uralten Heptunk-Mönche aus Transjordanien. Ich frage mich zwar manchmal, warum die sich solche Mühe machen sollen, um dann dermaßen lächerliche Katastrophen aufzufahren – aber zum Glück bin ich nicht derjenige, der die magische Einsatzplanung der heiligen Moosraucher von Abtel-Karamanch koordinieren muss.

Aber Magier sind auch Menschen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, mit weit geöffneten Augen & Sinnen ihre Umwelt zu betrachten. Und natürlich fallen einem dann verständlicherweise Dinge auf, die einem normalerweise nicht auffallen. Ob die beobachteten Effekte daran liegen, dass sie schon immer da waren, man sie aber vorher nicht wahrgenommen hat oder ob das wirklich Dinge sind, die nur einem „magisch wachen“ Menschen auffallen, sei dahingestellt. Das umfassende Beobachtungsexperiment zu dieser Frage steht noch aus. Wenn ich 20 Leute finde, die jeder 200 Euro für ein Wochenende mit mir zahlen, dann werde ich mich dieser Frage noch einmal zuwenden.

Aber eine Bedrohung, die scheinbar noch keiner beobachtet hat, ist mir kürzlich aufgefallen. Es gibt auf der Erde eine Gruppe rein weiblicher Invasoren aus dem Weltraum, die sich – nur unzulänglich getarnt – daran machen, die Menschheit zu beobachten. Wie ich auf diese Idee komme? Ganz einfach: Eissalons.

Okay, ich gebe zu, dass es deutlich mystischere Orte gibt, um eine Invasion der Erde vorzubereiten. Aber es gibt auch wenig unscheinbarere Orte, um einen solchen Angriff zu planen. Setze dich doch einmal eine Weile in einen Eissalon und behaltet die Eistheke im Auge. Die Kunden werden der Reihe nach kommen und Eis im Becher oder Eis in der Waffel verlangen. Und irgendwann kommt „sie“ – „sie“ kauft Eis in der Waffel und bittet um einen Löffel (!). Wie auffällig. Wer einen Löffel möchte, um sein Eis zu essen – der nimmt doch einen Becher, oder? Wer Eis lecken will, der kauft es in der Waffel. Aber warum kaufe ich Eis in der Waffel samt einem Löffel? Doch nur, weil mir die Ernährungsgewohnheiten der Menschen unbekannt sind und ich auf unzureichende Beobachtungen angewiesen bin. Wahrscheinlich haben „sie“ anfangs – aus ihren Beobachtungen schließend – die Eisbecher immer mitgegessen. Das fiel dann doch irgendwie auf und sie sind dazu übergegangen, das nicht mehr zu machen. Aber die Löffel, die gefielen ihnen. Also benutzen sie diese dazu, um Eiswaffeln leerzulöffeln. Aber ich bin nicht auf den Kopf gefallen, ich merke mir ihre Gesichter. Und wenn sie in meiner Gegenwart ihre diabolischen Eis-Einkäufe machen, dann verfluche ich sie mit einer uralten, magischen Handbewegung ganz unauffällig. Als Agenten für eine Invasionsarmee werden sie dank meiner (!) magischen Beeinflussung unbrauchbar.

Und so schütze ich seit Jahren und Jahrzehnten die Erde – unseren Heimatplaneten! – vor einer Invasion von Außerirdischen.

Und niemand dankt es mir.

Leider muss ich diesen Brief jetzt beenden, weil ich auf einmal einen Heißhunger auf Speiseeis verspüre.

Alles Liebe,

Dein Homo Magi

 

Birnen mit Landebeinen

Lieber Salamander,

die Bücher, die man in seiner Jugend und Kindheit liest, prägen einen ein Leben lang. Früher bin ich in die Bibliothek geeilt und habe zum Teil mit drei Lesekarten gleichzeitig Bücher entliehen. Die wenigsten sind mir noch im Gedächtnis. Viel von Enid Blyton, viel Astrid Lindgren und so Sachen wie „Kai erobert Brixholm“ von Rolf Ulrici, „Graf Caprioli“ von Dieter Ott und die „Schreckenstein“-Bücher von Oliver Hassencamp.

Auch im Bereich der Science Fiction war mein Lesetrieb fast nicht zu stillen. Neben Ulricis „Monitor“- und „Giganto“-Bänden (ja, der selbe Ulrici, der „Kai erobert Brixholm“ geschrieben hat ...) waren das auch schnell die Bände von Mark Brandis und – wie sollte es anders sein – Heftromane.

Damals war es anders als heute. Die Science Fiction hatte den Buchmarkt noch nicht erobert (auch wenn im Moment mal wieder eine deutliche Rezession bei der Produktion von Science Fiction zu spüren ist), es gab verschiedenste Heft-Serien. Und auf jedem Flohmarkt konnte man für wenig Geld die bunten Heftchen kaufen. Neben „Perry Rhodan“ und seinem kleinen Bruder „Atlan“ waren dies z.B. „Ren Dhark“, „Rex Corda“, die diversen „Terra“-Heftchen und „Zauberkreis“. Von Horror-Serien und Fantasy (wie dem später aufkommenden „Mythor“ oder dem legendären „Dragon“) will ich erst gar nicht reden.

Was haben mich diese Dinge begeistert. Bei „Perry Rhodan“ habe ich es nie geschafft, eine komplette Sammlung zusammenzukriegen. Aber ich habe mal immer wieder 50 Stück-Berge auf Flohmärkten oder von Bekannten gekauft. Und dann war ich für einige Tage in meinem Zimmer unter dem Dach verschollen und habe gelesen, gelesen, gelesen.

Die Druuf aus einer anderen Dimension waren mir vertraut, ebenso die Haluter und ihr komplizierter Stamm. Ich wusste über die Maahks, jene armen Wasserstoffwesen Bescheid, und konnte zehn terranische Kolonistenvölker im Schlaf aufsagen. Mutanten und Zellaktivatoren, Transmitter und Zeitmaschinen waren der Stoff, aus denen meine Phantasien bestanden. Die Wände meines Zimmers waren mit Raumschiff-Postern geschmückt und ich hatte die Science Ficiton-Romane fein säuberlich an den Regalen meines Zimmers aufgestellt. Jahre später kam ich dann auf die weise Idee, dass es vielleicht besser sein könnte, nach Autoren und nicht nach Verlagen zu sortieren. Einen Roman hatte ich sogar in drei verschiedenen Ausgaben : „Ein Doppelleben im Kosmos“ von Robert A. Heinlein. Es spricht für Heinlein, dass ich seine Jugendromane irrsinnig gerne gelesen haben. Seine Bücher für Erwachsene – pfui. Aber seine Jugendromane habe ich geliebt, gar verschlungen. Die „großen Drei“ durften in meinen Regalen nicht fehlen: Asimov, Clarke und Heinlein hatten jeder über zehn Titel bei mir stehen –und die meisten davon habe ich heute noch. Asimovs „Der Mann von Drüben“ oder die „Foundation“-Trilogie, Clarkes „Die sieben Sonnen“ oder „Bewohner der Milchstraße“ und „Ein Mann in einer fremden Welt“ von Heinlein kann ich finden, wenn ich nur um die Ecke zu meinen Bücherregalen gehe.

Aber am meisten geprägt hat mich in diesen frühen Jahren doch „Perry Rhodan“. Warum ausgerechnet er? Weil hier das Angebot am größten war. Es gab Perry nicht nur als Roman, sondern auch als Comic, es gab Taschenbücher, ein Brettspiel und Quartett-Karten. Im Magazin zur „Perry Rhodan“-Serie erschienen immer wieder sogenannte Risszeichnungen – Querschnittbilder von Raumschiffen, die man sich dann an die Wände kleben konnte. Über meinem Bett hing jahrelang ein Schiff der Wynger. Wahrscheinlich könnte ich es heute noch nachzeichnen, wenn ich müsste (was auch nicht sehr schwer sein dürfte, weil es ein wenig wie eine Birne mit Landebeinen aussieht ...).

Wenn man mich fragen würde, wie die politische Zukunft der Erde in den nächsten zehn Jahren aussieht, dann müsste ich mich wahrscheinlich mit Plattitüden rausreden. Aber die Zeit in 100 oder 200 Jahren – da könnte ich schon mehr zu sagen. SMI²LE – „Space Migration, Intelligence Increase, Life Extension“. Die Eroberung des Weltraums. Lagrange. Kolonien auf dem Mond. Der Mars. Die großen Monde. Der Weltraum – die letzte Grenze.

Vielleicht sind wirklich die „Perry Rhodan“-Hefte schuld. Zumindest haben sie meinen Blick dafür geöffnet, dass es mehr gibt, als nur uns Menschen und unsere kleinlichen Probleme. Wenn ich daran denke, dann lege ich manchmal den Kopf in den Nacken und träume von der Brücke nach Andromeda ...

Alles Liebe,

Dein Homo Magi

 

Unsterblichkeit

Lieber Salamander,

bei dem Nachdenken über große Magier und über magische Fähigkeiten kommt man immer wieder an den Punkt, wo man sich mit der Frage nach Langlebigkeit oder gar Unsterblichkeit beschäftigen muss. Ein langer Bogen magischer Figuren, der nicht erst bei Henoch beginnt und nicht schon beim Grafen von St. Germain endet, zieht sich unsterblich durch die Jahrhunderte. Durch Salben oder Trünke unsterblich gemacht (das Drachenblut wäre nur ein Beispiel), den „Stein der Weisen“ konserviert oder einfach durch eine willentliche Einstellung des Alterns – Magier scheinen eine besondere Affinität zum „Ewigen Leben“ entwickelt zu haben.

Natürlich ist es auch ein weiterer Beweise für ihre Macht. Wer den Tod besiegt, der besiegt den größten Feind des Menschen.

Aber ist das sinnvoll?

In den nächsten Wochen feiern zwei Kneipen meiner Heimatstadt ihr 18- bzw. 20-jähriges Jubiläum. In meinem Leben gab es bisher nur drei Stammtische, die ich regelmäßig besucht habe. Der erste Stammtisch war erst in der einen, dann in der zweiten Kneipe. Der zweite Stammtisch war von Anfang in letzterer. Diese beiden Stammtische gibt es noch, ich besuche sie auch noch beide. Der dritte Stammtisch war in der ersten Kneipe; er hat sich aufgelöst, als ich mit dem Studium fertig war und meine Kommilitonen sich in alle Winde zerstreuten.

Ich bin jetzt 37 Jahre alt. Ich kann mich sehr genau an eine der beiden Eröffnungsfeiern erinnern. Damals war ich noch Student und hatte viel Zeit, um abends in Kneipen zu gehen. Und so traf es sich auch gut, dass es nette Kneipen gab, wo man sich treffen konnte. Woran es lag, dass wir diese beiden Lokalitäten wählten – keine Ahnung. Das Kneipenpersonal war so alt wie wir, viele Studenten fingen an, hier neben dem Studium zu jobben. Die Besucher waren in unserem Alter, man kannte sich oder lernte sich kennen.

Und so ist es bis heute geblieben. In der einen Kneipe, die ich bis heute regelmäßig besuche, ist das Publikum mit mir mitgealtert. Die Bedienungen sind auch noch dieselben wie vor 20 Jahren.

Kürzlich habe ich beim Stöbern im Internet eine Datenbank gefunden, wo man sich eintragen kann, wenn man ehemalige Klassenkameraden sucht. Nach Schulen und Jahrgängen sortiert kann man dann hier stöbern. Und was fand ich? Von meiner Grundschulklasse (31 Schüler im Laufe der Jahre) sind immerhin schon 5 eingetragen. Und für meinen Abi-Jahrgang (immerhin fast 150 Leute) sind es auch schon 8 Meldungen. Nicht viel, wie ich zugeben muss, aber es wird langsam mehr.

Welche Musik höre ich gerne? Die Musik, die mich während meiner Zeit vor dem Abi geprägt hat. NDW und ähnliches. Okay, inzwischen höre ich auch andere Dinge, viele andere Dinge – aber NDW führte mich zum ersten Mal brutal an das heran, was man wohl Popmusik nennt. Und das ist eben „populäre Musik“, also Musik, die in bestimmten Zeiten in ist – im Gegensatz z.B. zur klassischen Musik oder dem Jazz, die sich beide zumindest die letzten Jahrzehnte relativ geschickt den Stimmungsschwankungen des Marktes entziehen.

Ich bin ein Kind meiner Zeit. Die mich prägende Zeit lag zwischen meinem 13. und meinem 28. Lebensjahr. Dies ist die Gruppe, mit der ich gemeinsam altere. Die Jahrgänge um meinen herum treffe ich immer wieder – sie tragen ähnliche Sachen wie meine, hören ähnliche Musik, gehen in ähnliche Konzerte etc. pp. Sie heiraten zeitgleich, kriegen Kinder; die ersten sterben und werden von den anderen betrauert. Und irgendwann geht es vorbei, und man war auf der ersten Beerdigung, dann kommt die zweite, die dritte usw. In nicht allzu ferner Zukunft liegen mehr Menschen unter der Erde, die ich kenne, als dass Menschen auf ihr wandeln, die ich kenne.

Wie ist das jetzt, wenn man unsterblich ist? Schon für Menschen, die älter werden als 85 ist es schwierig, weiter in ihren Lebenszusammenhängen zu leben. Auf dem Hochzeitsbild meiner Großmutter (die nun schon weit über 90 ist) sind etwa 40 Personen zu sehen. Von diesen lebt heute – neben meiner Großmutter – nur noch eine. Es ist ein kleines Kind, das von einer Tante auf dem Arm gewiegt wird. Und auch dieses Kind ist heute schon in Rente und lebt im Altersheim.

Unsterblichkeit, das ist doch der Abschied von allen Menschen, die man liebt. Ich kann verstehen, warum Albers als „Baron Münchhausen“ das Geschenk der Unsterblichkeit zurückgibt – er ist dabei, den letzten Menschen zu verlieren, der ihn noch mit der Welt verbindet.

Wer unsterblich ist, der wird einsam. Einsam, weil die Menschen wegsterben, die man kennen und schätzen gelernt hat. Aber auch einsam, weil die Dinge, die einen in der Welt heimisch machen, untergehen. Die Bekleidung, die man gewöhnt war, wird abgelöst. Technische Neuerungen ersetzen Dinge, die einem lieb geworden sind. Musik und Literatur verändern sich. Dracula ist nicht nur der transsylvanische Adelige, der nach England kommt – er ist auch der sprichwörtliche „stranger in a strange land“, der einen Ort besucht, der von seiner Heimat kulturell und von seinem Leben zeitlich entfernt ist.

Ein Unsterblicher, der heute 300 Jahre alt ist, hat die französische Revolution und Napoleon miterlebt. Er erlebte die Zeit des deutschen Kaiserreichs und zwei Weltkriege. Die Welt, die er kannte, ist politisch nicht mehr vorhanden. Seine Vorstellungen von Klassen, Schichten und Ständen ist dahin – er muss sich immer wieder anpassen, um nicht als Relikt aufzufallen.

Die Welt, in der er jeden Morgen aufwacht, ist nicht die Welt, die er kennengelernt hat. Und ich bin nicht sicher, ob er diese neue Welt kennenlernen will. Sie ist zu weit von dem entfernt, was seine Heimat war. Für Unsterbliche liegt das Fremde nicht im Raum außerhalb unserer Welt, es liegt in unserer Welt. Der Unsterbliche wird der Welt fremd und damit für die Welt ein Fremder.

Und natürlich wird er eine Antwort nie erhalten: Was kommt nach dem Tod.

Alles Liebe,

Dein Homo Magi

 

Sommerfest

Lieber Salamander,

wieder einmal war ich – wie die letzten 18 Sommer oder so – zehn Tage auf dem Fantasy-Fest von Deutschlands größtem Fantasy-Verein.

Ich sage es gleich vorweg: Es war sehr erholsam!

Eine Burg an der tschechischen Grenze; in ihrem Mauern beherbergte sie u.a. eine Teeküche, eine Kneipe und mehrere Pavillons mit Essens- und Getränkeangebot. Dazu kam eine Vollverpflegung aus Brunch und Frühstück, mit der man alleine schon satt werden konnte. Der Rest war nur noch „Zugabe“ – wer nachts um 4.00 Uhr Hunger bekam, der konnte noch zwischen vegetarischem und normalem Essen in der Teestube wählen, Kekse oder Maiskolben in einem der Pavillons essen.

Das Flair der ganzen Veranstaltung war Fantasy – man trug an mehreren Tagen Kostüme (hier „Gewandung“ genannt) und unterhielt sich über alles mögliche. Zum Glück ging es nicht nur um die Fantasy-Literatur, sondern auch um Kindererziehung, Magie oder Brettspiele. Angenehm ist die Aufgeschlossenheit der Besucher. Wer hierher kommt, der ist bereit, sein tägliches Leben hinter sich zu lassen und sich auf ein paar Tage auf das Flair dieser Fantasy-Welt einzulassen.

Seit über 35 Jahren wird hier gemeinsam geträumt. Und obwohl es immer wieder Mitglieder gibt, die den Verein verlassen haben, gibt es doch eine Menge Aktive, die seit über 20 Jahren dabei sind.

Zusätzlich zum kulinarischen Angebot gibt es ein ausladendes Programm. Vorträge über historische Themen, Magie oder Fantasy-Literatur. Dazu kamen Dutzende Spieltische für Brett- und Kartenspieler.

Die Mitglieder sind sehr aktiv. So konnte man nicht nur Fantasy-Waren (Klamotten, Lederwaren etc.) kaufen, sondern es gab auch einen breiten Strauß an selbsterstellten Angeboten. Dies ging von eigenen Magazinen über Kurzgeschichtenbände, zwei Hörspiele bis hin zu einer CD mit eigenen Liedern.

In den ganzen Tagen habe ich viel gelästert. Die Hälfte der Zeit hat es geregnet und ich saß mit netten Menschen an Biertischen und lästerte, bis meinen Nachbarn Blut aus den Ohren lief. Und trotzdem gab es am letzten Nachmittag eine problemlose Jahreshauptversammlung des zuständigen Vereins (über 60 anwesende Mitglieder bei einer Sitzung von unter zwei Stunden).

Warum ich das alles erzähle? Weil ich davon überzeugt bin, dass man ein Treffen mit den selben Rahmenbedingungen bei Heiden nicht hinbekommen hätte. Das Ego der Heiden ist zu groß, um einfach mal bei einer Veranstaltung zu helfen, wenn Not am Mann ist. Es macht doch mehr Spaß, das eigene Ego zu streicheln, anstatt an gemeinsame Interessen zu denken. Die meisten Heiden wollen Anführer sein, nicht Helfer; Hammer, nicht Amboss.

Und im Bemühen, die eigene Bedeutung zu steigern, verliert man das gemeinsame Ziel aus den Augen. Schade eigentlich.

Alles Gute,

Dein Homo Magi

 

Land unter!

Lieber Salamander,

offensichtlich gießt es in weiten Teilen unseres Landes gerade wie aus Kannen. Die Schleusen des Firmaments sind sehr unwillig, sich wieder zu schließen, und in einigen Bundesländern steigen die Flüsse über ihre Ufer.

Die Folgen sind katastrophal – im wahrsten Sinne des Wortes. Mir drängen sich Bilder auf von Straßen, die bis zur Höhe des Straßennamensschildes mit Schlamm und Schutt gefüllt sind. Brücken, die von der Macht des Wassers durchbrochen wurden. Ganze Häuser, die in den Fluten schwimmen. Bagger, die eingesetzt werden, um Leute aus von der Umwelt abgeschnittenen Wohnungen zu holen. Helikoptereinsätze, um die Krankenhäuser zu evakuieren.

Und unsere Politiker geben sich beim An- und Abflug die Hand. In trockenen Kanzeln sitzend oder aus trockenen Büros redend, können sie in aller Ruhe davon sprechen, dass hier geholfen werden muss.

Auch der Verursacher ist schnell ausgemacht: Es ist die Erhitzung unserer Atmosphäre. Diese Überschwemmungen sind erste Folgen der Klimakatastrophe, auf die nun schon 20 Jahre lang hingewiesen wird. Zusätzlich versiegeln wir zu viele Flächen durch Straßen etc. Das Wasser kann nicht mehr versickern, es kommt zu einer Überschwemmung, da wir die natürlichen Abflüsse blockieren. Mehr und mehr Auen sind von uns bebaut worden – und jetzt erhalten wir dafür die Rechnung. Auch die Flussläufe wurden in den letzten 200 Jahren begradigt. Der Schiffsverkehr sollte ermöglicht oder verbessert werden, die Reisezeiten sollten verkürzt werden. Wenn ich aber die Länge einer Fluss-Strecke verkürze, kann ich nachher weniger Wasser als vorher unterbringen, oder? Andersherum. Wenn ein 2 m langer Schlauch 2 l Wasser fasst und ich verkürze den Schlauch auf 1 m, dann passt halt nur noch 1 l hinein. Das restliche Wasser läuft mir über die Klamotten oder – wie in der genannten Katastrophe – in die Keller.

Und was machen die Heiden? Nix.

Natürlich kannst du mich zu recht fragen, was die Heiden mit einer Überflutung zu tun haben. Meine ernst gemeinte Antwort ist: Alles. Bitte, sei so gütig und folge mir durch drei Argumente, bevor du beschließt, ob ich Mist erzähle oder Weisheit absondere.

a. Wasser ist eines der vier magischen Elemente. Eine Menge Gottheiten und Entitäten (Planeten, Sternbilder, Steine etc.) sind mit dem Element Wasser verknüpft. Wäre es jetzt nicht an der Zeit, etwas zu unternehmen, um dieses Element wieder dahin zurückzulenken, was es eigentlich „hingehört“? Ich bin kein Freund von „Trutz Blanke Hans!“, aber wir Menschen wehren uns seit Beginn der Zivilisation gegen die Naturgewalten. So sollten wir auch hier vorgehen. Und Zauberei ist eine von vielen Möglichkeiten, sich zur Wehr zu setzen.

Aber, ach, weit und breit ist kein Zirkel zu sehen, kein Coven, kein Kreis, der sich die Arbeit macht, um gegen das Wasser vorzugehen. Auch macht sich keiner Gedanken, ob diese Überflutung eine magische Komponente haben könnte. Ich selbst – so muss ich zugeben – halte diesen Ansatz für Quatsch, weil ich nicht daran glaube, dass düstere Schwarzmagier den „Aufbau Ost“ durch Überflutungen wettmachen wollen. Aber ich erhebe Copyright auf die Theorie, sie könnten (!) es versuchen. Und das ist doch schon eine Überprüfung wert, oder? Schon gar, da Heiden normalerweise jeden Zahnschmerz und jeden Muskelkrampf auf schwarzmagische Angriffe testen ...

b. Viele der Orte, die vom Wasser bedroht werden, sind für uns Heiden von Bedeutung. Es sind ja nicht Plattenbauten oder obskure Trabantenstädte, die da nass abgerissen und sicherlich viel schöner wieder aufgebaut werden. Allein das Beispiel von Prag (um mich nicht für eine deutsche Stadt entscheiden zu müssen) sollte ausreichen, um aufzuzeigen, dass hier auch Kulturgüter bedroht sind, die für uns Heiden Symbolcharakter wie Bedeutung haben. Vielleicht können wir nichts tun, um gegen die Flut zu helfen. Wir sind zu weit weg, können nicht Helikopter fliegen und was der Gründe mehr sind. Aber wir können Geld spenden. Es gibt genug Spendenkonten, bei denen dazu aufgerufen wird, Geld für die Opfer der Flut einzuzahlen. Und es gibt bestimmt für jeden Heiden eine karitative Organisation, der er soweit traut, dass er bereit wäre, ihr Geld für Hilfszwecke anzuvertrauen.

Ich glaube gerne an eine überflüssige heidnische Paranoia gegen eine Organisation, die sich „Rotes Kreuz“ nennt, aber in der Not schaut man nicht darauf, wer einen aus den Fluten rettet oder dabei hilft, das eigene Haus wieder aufzubauen.

c. Es sind Menschen, die dort betroffen sind. Okay, ich weiß, dass jeden Tag Menschen verhungern und das Opfer von Krieg und Vertreibung werden. Mir fallen von vorneherein 20 Dinge ein, die auch zu bekämpfen sind – von Lepra über Blindheit bis hin zu schmutzigem Trinkwasser. Aber diese Flut trifft Menschen, die ich kenne, Wohnungen, in denen ich schon übernachtet, Museen, die ich schon besichtigt habe. Vielleicht kann ich nicht jedem meiner Bekannten und Freunde Geld geben, die dort wohnen. Aber ich kann mir Gedanken machen, wie man verlorenes Gut erneuern kann. Bücher leiden stark unter Wasser. Ich überlege ernsthaft, jedem Bekannten, der seine Bibliothek in den Fluten verloren hat, bei nächster Gelegenheit ein paar Bücher zu schenken.

Warum nicht Kleidung, Geschirr oder auch Möbel weiterschenken, die man selbst über hat? Ein Netzwerk müsste man bilden mit den heidnischen Möglichkeiten, die ganzen Nachrichtenbretter und all die Möglichkeiten des Internets nutzen, um etwas zu tun, das Menschen hilft.

Du bist mir bis jetzt gefolgt, Salamander. Ich werde versuchen, meinen Teil zu tun, um meine Überlegungen publik zu machen. Vielleicht hilft es ja. Vielleicht ... man soll die Hoffnung nicht aufgeben. Wenn wir Heiden einmal, nur ein einziges Mal beweisen könnten, was in uns steckt. Nur ein einziges Mal.

Ich denke an dich,

Dein Homo Magi

 

Land unter! – Teil 2

Mein lieber Salamander,

weiterhin stehen weite Teile der Elbregion unter Wasser. Ich bin es eigentlich leid, jeden Tag die Nachrichten zu hören. Die ersten paar Minuten jeder Nachrichtensendung sind nichts anderes als Bilder von Land unter Wasser, Land unter Wasser, Land unter Wasser.

Ich fühle mich immer in einem eigenartigen Déja-Vu an alte Cousteau-Filme erinnert. Nur dass es hier nicht um das Leben von Fischen im Korallenriff, sondern um Städte wie Dresden und Bitterfeld geht. Eigenartig. Aber ich kann mir schon ganz gut vorstellen, wie Hans Hass die ganze Situation dargestellt hätte. Mit dem Schlauchboot erst in die Außenbezirke der Stadt, dann hinein in die am meisten überschwemmten Gebiete. Und im Licht der starken Scheinwerfer schälen sich dann unter Wasser Fernsehgeräte, Sofas und Kühlschranke aus dem Dunkel der Tiefe.

Aber ich weiß auch ganz genau, dass diese Nachrichten in den nächsten Tagen wieder von anderen Dingen aus den Top-Mitteilungen verdrängt werden. Konflikte im Nahen Osten, weitere Kriegspläne gegen den Irak, die Wahlschlacht zwischen den beiden Kanzlerkandidaten. Doch das Leid wird nicht verschwinden, wenn die Nachrichten über die Hochwasserschäden aus den ersten Minuten der Nachrichtensendungen verschwunden sind.

Und ich bin mir nicht wirklich sicher, ob es sinnvoll ist, mit Volksmusik Geld für Hochwasseropfer zu sammeln. Natürlich ist es dem Geld egal, wer es sammelt – und die Opfer der Flutkatastrophe freuen sich über jeden Euro. Aber ich habe schon fast Angst, nach 20.15 Uhr eines der normalen Programme einzuschalten, weil ich könnte ja auf den „Flutstadl“ oder „Katastrophenvolksmusik“ stoßen. Brrr. Wahrscheinlich ist es schon passiert, aber ich will einfach mein größtes Angstszenario mal beschreiben: Ich mache den Fernseher an und eine Menge dicke Männer (vulgo: Chor) in Seemannshemden (weiß-blau) singt gerade „An der Nordseeküste“, während unten im Fließtext mal wieder die Spendenkontonummer eingeblendet wird. Unrein, oder? Eigentlich sollte ich froh sein, wenn sie nicht noch – während ich in Angststarre auf meinem Sofa verharre – „Trutz Blanke Hans“ singen.

Aber eigentlich wollte ich dich etwas ganz anderes fragen. Samhain werden doch die Toten des letzten Jahres verabschiedet. Das Tor zur anderen Welt öffnet sich, die Durchgänge zwischen den Welten werden durchlässiger etc. pp. Wer hat sich schon einmal Gedanken gemacht, wie die Flutopfer (und es sind dann doch einige) ihren Weg in die Welt des Todes finden?

Bis jetzt hatte ich noch keine weise Idee für ein Ritual, um gegen das Wasser vorzugehen. Ich gebe aber auch gerne zu, dass das Beseitigen von Hochwasser durch Magie bei mir ungefähr in der selben Preisklasse stattfindet wie das Schließen des Ozonlochs und das Umlenken von Hurrikanen. Alles Aufgaben, die ich mir lieber verkneife, weil ich nicht möchte, dass mir mein Gehirn von irgendwelchen übellaunigen Gottheiten mit einem in eine Zitronenschale gewickelten Goldbarren aus dem Kopf geprügelt wird.

Aber was machen wir Samhain, um diese Toten „nach drüben“ zu geleiten? Menschen, die in einer Flut umgekommen sind – Wasserleichen: ertrunken, kalt, aufgeschwollen. Das ist keine Aufgabe, auf die ich mich freue. Aber immerhin eine, bei der mir ein paar Umsetzungsmöglichkeiten einfallen.

Denke doch einmal drüber nach, kleiner Lurch, ich tue es auch.

Alles Liebe,

Dein Homo Magi

 

Große Tanten, große Seelen

Lieber Salamander,

vor einigen Tagen hatte ich ein Gespräch mit meiner Großmutter. Sie erinnerte mich daran, dass es gerade der 15. Todestag ihrer Schwester, meiner Lieblingsgroßtante war. Das war ein eigenartiges Gespräch. Meine Großmutter ist jetzt fast 100 Jahre alt, geistig immer noch fit und zu eigenartigen Überlegungen fähig. Aber in ihrem Denken und Fühlen scheint sie immer mehr in das Jenseits „abzugleiten“. In der Unterhaltung über ihre Schwester hatte ich ein wenig das Gefühl, dass der Schleier vor den Zwischenwelten sich ein klein wenig hob und ich glaube, dass sie einen Blick auf ihre Schwester erhaschen konnte.

Meine Großtante war eine der prägendsten Personen in meinem Leben. Sie starb, als ich 22 war. Aber vorher hatte ich soweit ich zurückdenken kann immer meine Ferien bei meiner Großmutter und ihr verbracht. Meine Großtante hatte ein großes Haus. Sie war verheiratet, doch schien es sich eher um eine Vernunftehe zu handeln. Ihr Mann war vorher mit ihrer Schwester verheiratet, die in jungen Jahren verstarb. Die beiden schienen ganz glücklich, doch Kinder gingen aus der Verbindung nicht hervor. Ihr Mann, mein Großonkel, starb, als ich noch sehr klein war. Ich habe kaum Erinnerungen an ihn – nur, dass er immer im Lehnstuhl saß, Sonntags mittags exakt um 12.00 Uhr sein Essen wollte, damit man gemeinsam „Frühschoppen“ („mit acht Journalisten aus elf Ländern“) schauen konnte und dass er Unmengen Eis essen konnte, ohne dass ihm schlecht wurde.

Als er tot war, lebten in dem Haus noch meine Großmutter, meine Großtante und eine andere Großtante samt ihrer Tochter. Diese zweite Großtante starb auch, ihre Tochter nahm sich daraufhin eine eigene Wohnung. Die Tochter hat nie geheiratet, ihre Mutter war schon lange Witwe. Ein Frauenhaushalt, den ich und später mein kleiner Bruder und ich jedes Jahr in den Ferien aufmischten.

Das Haus war ein wunderschönes altes Haus, das wohl früher einem Arzt oder Juristen gehört hatte. Es gab mehrere Kellerräume, die zum Teil mit Spielzeug meiner Mutter und meiner Großeltern vollgestellt waren. Es gab im Erdgeschoss fünf Zimmer, im ersten Stock noch einmal vier Zimmer und mehrere Küchen, Bäder und Toiletten. Dazu kam ein großer Dachboden, ein sehr schöner Garten und in wenigen hundert Metern Entfernung ein zweiter Garten samt Gartenhäuschen. Heute scheinen mir Haus und Garten nicht mehr so groß wie damals, aber für mich als Kind waren die Räumlichkeiten gigantisch.

Aber das für mich wirklich beeindruckende war nicht das Haus, es waren meine Großmutter und meine Großtante. Damals habe ich viele Schwierigkeiten nicht gesehen, die beide miteinander hatten. Ich sah nur zwei alte Schwestern, die miteinander im gleichen Haus wohnten und sich um ihre Enkel beziehungsweise Großneffen kümmerten. Und meine Großtante war eine beeindruckende Frau. Sie war früher Hebamme und verstand viel von Menschen und Heilen. Leider kann ich keine Geschichten über eine obskure Initiation in alte Heilerriten oder neue magische Heilungsmethoden erzählen. Aber sie hat zu Ostern mit Zwiebelfarbe Eier gebräunt. Sei konnte gut kochen und sie konnte ein Gefühl von Ruhe und Zufriedenheit ausstrahlen, das ich nur in wenigen Menschen gefunden habe. Und sie hat nach dem Krieg – weil sie als Hebamme in Zeiten der Ausgangssperre unterwegs sein durfte – ein junges Mädchen adoptiert, deren Mutter von amerikanischen GIs erschossen worden war. Dieses Mädchen hat wiederum einen Sohn, den ich heute noch öfters im Jahr sehe. Aber das ist eine andere Geschichte ... Auf jeden Fall war sie samt Adoptivtochter und Sohn an einer der irrsten Geschichten schuld, die mir je passiert sind. Ich will sie dir erzählen, kleiner Lurch, ohne dass ich voraussetzen kann, dass du mir Glauben schenken wirst.

Vor einigen Jahren wachte ich nachts auf, weil ich den Eindruck hatte, meine – damals schon verstorbene – Großtante sei mir im Schlaf erschienen. Ihrem Enkel ginge es nicht gut, ich müsste etwas tun. Ich tat einen Blick auf die Uhr: 2.24 Uhr. Dann drehte ich mich um und schlief weiter. Morgens um 8.00 Uhr rief ich gleich meine Tante auf der Arbeit an und erklärte ihr, dass ich von ihrer Mutter geträumt habe und jetzt nicht wüsste, was ich tun soll. Dann erzählte ich ihr die Geschichte. Sie fragte mich nur nach der Uhrzeit. Dann war einen Moment Stille. Ihr Sohn hatte nachts um diese Uhrzeit einen Ski-Unfall gehabt und lag jetzt im Krankenhaus.

Ich weiß nicht, warum ich sie angerufen habe, warum ich dem Traum getraut habe. Wir einigten uns darauf, dass es solche Dinge gibt und dass sie auch anderen Menschen passieren. Eine Erklärung hatten wir nicht, wir haben sie aber auch nicht mit aller Gewalt gesucht – warum auch?

Ich werde meine Großtante immer im Gedächtnis behalten als jemand, der wohl versucht hat, mit einige Lektionen in Ruhe und Zufriedenheit zu erteilen. Ich denke immer wieder an sie, wie sie vom Sonnenlicht umflutet auf ihrem Balkon saß und Eier färbte. Auch jetzt noch, fast 30 Jahre später, werde ich ruhig, wenn ich an diesen Moment zurückdenke. Alleine dafür könnte ich ihr schon dankbar sein.

Alles Liebe,

Dein Homo Magi

 

Zu den Waffen!

Hallo Salamander,

man wundert sich manchmal über die „meiner ist länger als deiner“-Spielereien, die Menschen mit anderen und mit sich selbst machen.

Bei vielen Menschen geht es um das Auto, das mehr Kubik hat als das Auto des Nachbarn. Man verdient mehr, hat die größere Wohnung. „Mein Auto, mein Haus, mein Schiff!“ Man kennt diese Argumentationen hinlänglich aus dem Fernsehen. Und wenn die eigenen Leistungen nicht ausreichen, dann verlagert man die Vergleiche auf die eigene Familie. Das Kind muss dann Klavier spielen lernen und vorspielen, wenn die Tanten zu Besuch sind. Die Fußballerfolge des Sohnes werden überall herumerzählt und schon Neugeborene werden in einem nicht enden wollenden „Ah ist der süß“-Wettbewerb miteinander verglichen.

Dieses Verhalten kann man auch auf größere Gruppen ausweiten. Erst ist es nur die örtliche Fußballmannschaft, dann bald die Nationalmannschaft. Und bei großen Spielen heißt es auf einmal „Wann spielen wir?“ und „Wir sind Weltmeister!“. Das ist so, als würde ich behaupten, ich hätte 1871 den Krieg gegen Frankreich gewonnen. Aber das eigene mangelnde Selbstbewusstsein kaschiert man am besten durch Erfolge „im Außen“.

Auch in der Heidenszene ist das nicht anders. Erst beginnt das mit Äußerlichkeiten. Heiden einer gewissen religiösen Herkunft lassen sich in Klassen nach dem Gewicht an Buntmetallen einteilen, das sie am Körper tragen. Das Horn am Gürtel ist viel länger als das Horn des Gegenübers (alleine die Symbolik des Hornes ist eine eigene gedankliche Exkursion wert!) und die Hose und das Hemd sind super-authentisch. Okay, man muss halt schon versuchen, die eigene heidnische Wettbewerbsfähigkeit so weit wie möglich vorzuzeigen – besonders, wenn man noch im paarungsfähigen Alter ist.

Die nächste Ebene ist dann die eigene Gruppe, der eigene Verein, der eigene Coven, die eigene Tradition. So wie sich Christen der eigenen karitativen Erfolge wegen loben und die Eroberung Südamerikas schamhaft verschweigen, so haben auch Heiden einen eher selektiven Blick auf die Geschichte ihrer Tradition und ihrer kulturellen Wurzeln.

In dem Comic „Doonesbury“ gibt es um einen schwarzen Darsteller eine lustige Stelle. Dieser will – von „Roots“ inspiriert – seine Familiengeschichte rekonstruieren. Unter anderem ist er dann nach einigen Tagen soweit gekommen, dass er Geburtsdatum und -ort seines Großvaters väterlicherseits anhand von Urkunden rekonstruieren kann. Als er dies seinem bestem Freund erzählt, meint dieser nur lapidar „Warum rufst du ihn nicht einfach an?“.

So ähnlich scheinen Kommunikationsstrukturen im Heidentum auch zu verlaufen. Es gibt zwar kein „Heidentum für Anfänger“-Infoheft, aber bestimmte Informationen werden eindeutig nonverbal kommuniziert. So auch die Information, dass man einen gewissen Rang und eine gewisse Zugehörigkeit vorweisen muss, wenn man irgendwo der Held vom Erdbeerfeld sein will.

„Sag mal, wer ist eigentlich hier der Anführer?“

„Natürlich der mit dem großen, bemalten Schild, dem riesigen Horn am Gürtel und dem echten Murmeltierfell um die Brustwarzen!“

In dem Maße, wie man die eigene Tradition oder Gruppe braucht, um sein angeschlagenes Selbstbewusstsein zu retten, in jenem Maße sinkt auch die Kritikfähigkeit an den Strukturen der eigenen Gruppe. Man muss das „Heil“ der Gruppe verteidigen, weil ein Angriff auf das Gruppenheil auch ein Angriff auf das eigene Heil ist.

„Warum kämpfen wir hier eigentlich?“

„Weil die Opinopalazonotroten unseren obersten Repzap-Obzap beleidigt haben.“

„Dann gebührt ihnen der Tod!“

 Und so verliert man bald die berechtigten Kritikpunkte aus dem Auge und schlägt wild um sich, wenn jemand die eigene Gruppe angreift. Gegen einen Feind von außen steht man eng zusammen im geistigen Schildwall.

„Für Repzap-Obzap, gegen die Opinopalazonotroten!“

„Lang lebe Repzap-Obzap, unser weiser Führer!“

Schade nur, dass man in den ersten Reihen nichts mehr sehen kann, wenn man den Schild vor den Kopf hält. Aber man will ja auch nicht sehen, dafür hat man ja Leute, die in so etwas ausgebildet sind. Zumindest scheinen das viele Schildträger von denen zu glauben, denen sie gehorchen. Pech gehabt.

Alles Gute,

Dein Homo Magi

 

Secret Origins (Teil 1)

Hallo Salamander,

bis jetzt habe ich mich geweigert, dir die Wahrheit über die Herkunft meines Titels zu schreiben. Aber du kannst dir sicherlich vorstellen, dass ich durch Eide – älter als die Zeit – daran gebunden bin, die Wahrheit zu verschweigen bis die Zeit gekommen ist.

Doch jetzt ist die Zeit gekommen.

Vor vielen Jahren, ich war gerade volljährig, hatte ich nachts eigenartige Träume. Morgens wachte ich immer auf und hatte einen steifen Nacken.

Ich träumte von alten Burgen, von Lichtungen im Wald und von Männern in langen Kutten samt Kapuzen; ihre Hände und Gesichter lagen im Schatten des Stoffes. Nie konnte ich erkennen, wer sie waren, aber ich spürte mich mit ihnen verbunden.

So ging es einige Wochen. Immer wieder träumte ich nachts von Orten, die ich nicht kannte. Und oftmals hörte ich Gesang oder Stimmen. Und diese Gesänge und Stimmen lehrten mich Dinge über die Natur und über die Kräfte zwischen den Dingen. Ich begann auf sie zu hören, ihnen zu vertrauen.

Eines Tages begann ich auch, mich auf die Suche nach den Orten zu machen. Ein Platz hatte es mir besonders angetan. Ich hatte gemerkt, dass ich nur in Vollmondnächten von einer alten Ruine träumte, die mich ein wenig an eine Malerei von Caspar David Friedrich erinnerte. Also machte ich mich daran, festzustellen, ob es für dieses Gebäude eine reale Vorlage gab.

Ich hatte Glück. Nach einigen Wochen in Bibliotheken hatte ich herausgefunden, wo in Europa dieses Gebäude stand. Als ich etwas über seine Geschichte herausgefunden hatte, wurde mir doch etwas mulmig zumute. Angeblich hatten sich dort schon seit der ersten Besiedlung durch Menschen Gruppen aus Ausgewählter getroffen, um den alten, vorchristlichen Göttern zu huldigen.

Man sprach noch heute von geheimen Treffen im Mondlicht ...

Für den nächsten Vollmond nahm ich mir frei und besorgte mir eine Fahrkarte. In der Nähe meines Zieles fand ich eine billige Pension. Abends machte ich mich dann – nachdem ich mich brav von meinem Gastgebern für diese Nacht wegen „Campings im Wald“ verabschiedet hatte (nicht ohne in der Landessprache vor eigenartigen Bedrohungen im nächtlichen Wald gewarnt worden zu sein) – auf den Weg.

Ich fand den Platz meiner Träume und war wie gebannt von der schlichten Schönheit und Ausstrahlung der Ruinen. Ich trat hinaus und sah auf dem Boden ein Bündel Stoff liegen. Neugierig geworden trat ich näher und hob es hoch – es war eine jener Roben, die ich im Traum gesehen hatte! Wie von fremder Hand gesteuert zog ich sie über. Kaum trug ich sie, schon traten aus dem Schatten der Ruine elf andere Männer, die mit mir zusammen einen Kreis bildeten.

Leider kann ich dir nicht sagen, was im Einzelnen in dieser Nacht gesprochen worden ist. Alte Eide binden mich an mein Schweigen! Nur wenige Brocken aus dem riesigen Gesamtwissen kann ich dir hinwerfen. Man teilte mir mit, dass ein bestimmter Teil der Menschheit Zugriff hätte auf das Artgedächtnis. Meine morgendlichen Nackenschmerzen waren nicht anderes als mein Stammhirn und meine Nervenzellen im Rückenmark, die langsam aber sicher Informationen an mein Großhirn – und damit an mein Traumbewusstsein – abgaben. Man lehrte mich Techniken, die es mir im Laufe einiger Jahre möglich machten, diesen Prozess willentlich und ohne Nebenwirkungen anzuwenden.

Jedes Jahr kehre ich zu einem bestimmten Termin zu diesem Ort zurück – so wie es die anderen auch tun. Nach einigen Jahren erhielt ich den silbernen Ring mit den Initialen HM und die Erlaubnis, mich in der Öffentlichkeit als einer der ihren darzustellen – als Homo Magi. Und so bin ich nun der, der ich bin.

In meinem nächsten Brief werde ich einen weiteren Teil des Schleiers lüften, werter Lurch, der über meiner geheimen Herkunft liegt.

Yours, Homo Magi

 

Secret Origins (Teil 2)

Werter Salamander,

leider muss ich Dir mitteilen, dass ich dich in meinem letzten Brief belogen habe. Die alten Eide, die ich geleistet, die Treffen die ich besucht, das Rückenmark, das zu mir spricht – sie alle sind erlogen. Tief in meiner Seele hatte ich gehofft, dass dich diese Informationen von weiteren Fragen abhalten würden – aber scheinbar ist es mir nicht gelungen, dich auf eine falsche Fährte zu locken.

Aber wie immer ist die Wahrheit schwerer zu glauben als das, was man sich einfallen lässt. Meine Geschichte ist nicht in wenigen Sätzen zu erzählen – trotzdem will es versuchen.

Schon in jungen Jahren hatte ich das Gefühl, dass meine Familie sich von anderen Familien unterschied. Vielleicht war es, weil mein Vater – anstatt wie andere Väter die „Sportschau“ zu schauen – abends im Wohnzimmer in seinem Lehnstuhl saß und in alten, in Leder gebundenen Folianten las. Meine Mutter stand auch nicht – wie andere Mütter, die ich entweder persönlich kannte oder deren Archetypen ich im Fernsehen hatte erleben dürfen – abends in der Küche und räumte die Reste des Tagewerks in die Spülmaschine, sondern sie kochte eigenartige Breis ein, die sie mir dann auf das Knie schmierte, wenn ich es mir wieder einmal aufgeschlagen hatte.

Aber vielleicht war es auch der Anblick meiner Tanten, die sich gegenseitig nackt mit Knochenfett einrieben, bevor sie in den Mondnächten hinausgingen, um auf den Wiesen zu tanzen, bis der Tau sie überall benetzt hatte.

Ich weiß es nicht mehr. Aber schon vor meiner ersten Initation war mir klar, dass meine Familie anders war als andere Familien.

Mit sechs Jahren wurde ich als Kind in die Familientradition aufgenommen. Ich schnitt mir mit meinem ersten eigenen Messer in die Hand und mein Blut wurde mit dem Blut des Familienoberhauptes, meines greisen Urgroßonkels Waldemar, vermischt. Ab diesem Tag durfte ich an den Festen im Jahreskreis teilnehmen und ich wurde formal in den alten Riten und Traditionen ausgebildet.

Mit vierzehn hatte ich meinen Mannbarkeitsritus. Nackt stand ich vor den Frauen meiner Familie und wurde begutachtet und für gut befunden. Dann durchlief ich die üblichen Feiern der Mannbarkeit (Sprung durch das Feuer, Messerspiel, Gurkennummer etc.), bevor ich als vollwertig und den Erwachsenen gleich von Stimme und Einfluss her formal in den großen Kreis der Erwachsenen aufgenommen wurde. Dieser Abend mit seinen Feierlichkeiten war einer der schönsten in meinem Leben!

Noch ein drittes Mal durfte ich in diesen Kreis treten, nackt, so wie mich die Götter geschaffen. Von Kopf bis Fuß war ich mit Rötel in ausschweifenden Kreisen bemalt, die Werden und Vergehen symbolisierten. Und nachdem ich zehn Jahre und zehn Tage lang gelernt und studiert hatte wurde ich als Magier und Priester vor den Meinen von den Gottheiten akzeptiert.

Dreimal hatten die Götter mich erkannt und benannt und bis ich sterbe werden sie es – toi toi toi – kein weiteres Mal tun müssen. Denn es ist schon so schwer genug, ihre beeindruckende Gegenwart ohne Folgeschäden zu überstehen.

Lieber Salamander, verzeihe mir, dass ich dir in meinem letzten Brief nicht die Wahrheit erzählt habe. Doch ich hoffte, dass das kleine Mysterium, welches ich dir letzte Woche erzählt habe, von dem großen Mysterium ablenken würde, welches sich wirklich in meinem Leben abgespielt hat. Ich hatte kein Glück. Verzeih mir den Versuch, dich zu täuschen!

In meinem nächsten Brief werde ich nun wirklich einen weiteren Teil des Schleiers lüften, der über meiner geheimen Herkunft liegt.

Dein Homo Magi

 

Secret Origins (Teil 3)

Du mein Salamander,

die Schande, die ich über mich gebracht habe, ist fast unbeschreiblich. Doch leider muss ich zugeben, dass auch das letzte von mir mühsam aufgebaute Netzwerk aus Lügen von dir durchschaut worden ist.

Leider ist es nicht nur so, dass die erste Version meiner Geschichte erfunden ist – auch die zweite Version ist erlogen. Ich muss gestehen, dass ich sowohl meinen Urgroßonkel Waldemar als auch meine nackt tanzenden Tanten erfunden habe. Ich hoffe, dass du mir diese mythische Unpässlichkeit verzeihen kannst.

Aber jetzt kann ich ohne Umschweife zu dem kommen, was ich dir eigentlich über mich erzählen wollte.

Schon als Kind hatte ich ein ausgeprägtes Interesse an der Religion. Ich besuchte nicht nur regelmäßig den Kindergottesdienst, sondern ich las auch alles, was ich an Mythen, Märchen und Sagen in die Finger bekommen konnte. Dies war z.T. sehr unterschiedliche Kost. Es ging von den Sagen des klassischen Altertums über Märchenbände bis hin zu jüdischen Mythen. Und natürlich blieb mein Lesehunger samt seinen sich ergebenden religiösen Überlegungen meiner Umwelt nicht verborgen. Schon als Kind von 11 oder 12 Jahren fiel ich auf, weil ich auf den Stufen des Gemeindehauses mit den Leitern des Kindergottesdienstes und unserem Pfarrer über die Ausschüttung des heiligen Geistes und den brennenden Dornbusch stritt. Natürlich war ich zu jung und zu unerfahren, um wegen Häresie aus dem Kindergottesdienst ausgeschlossen zu werden – wäre ich 10 Jahre älter gewesen, man hätte es bestimmt getan. So aber blieb mir dieser frühe religiöse Verweis erspart.

Als ich 15 Jahre alt war, lernte ich ein älteres Ehepaar kennen, das am Rande der nächsten Großstadt (die genau zu benennen hier nichts zur Sache tut) in einem kleinen Hause am Rande eines stillgelegten Bahndamms wohnte. Er war nicht in der Gemeinde aktiv, aber seine Frau war in einer verwaltenden Position für den Gemeindebezirk zuständig. Zu ihren Aufgaben gehörte auch die administrative Betreuung der Kindergottesdienste – wahrscheinlich hatten sie über diesen Umweg von mir gehört.

Eines Tages organisierte der Kreisverband ein großes Treffen aller Kindergottesdienstgruppen. Ich befand mich schon auf der Schwelle vom Kindergottesdienstkind zum Betreuer eben jener Veranstaltungen, aber natürlich ließ ich mir dieses Treffen nicht entgehen. Es gab viele gemeinsame Singangebote, Predigten und – für die Älteren – ein Abendmahl, aber es gab auch moderne Musik und Spielangebote. Im Rahmen dieser Veranstaltung wurde ich auch von jener älteren Frau angesprochen, die ich im Rahmen ihrer Tätigkeit für den Bezirk schon mehrere Male getroffen hatte. Sie stellte mich auch ihrem Mann vor, der „zufällig“ mit zu diesem Termin gekommen war. Angeblich hatte er gerade in der Nähe etwas zu tun gehabt und dieser andere Termin wäre ausgefallen ... Damals habe ich ihm noch geglaubt, aber im Rückblick ist mir klar, dass er schon damals ein Auge auf mich und meine Fertigkeiten geworfen hatte.

Er verwickelte mich in ein längeres Gespräch über Religion, Gott und so weiter. Ich vergaß schon noch einiger Zeit den Zweck meines Kommens, so eingenommen war ich von dem Gespräch. Natürlich spielte auch meine Eitelkeit eine Rolle – ich, ein Jugendlicher, hatte hier mit einem Erwachsenen ein Gespräch auf der selben Ebene. Aber erst Jahre später hatte ich den Eindruck, dass ich in diesem Gespräch getestet worden war. Damals war es eher so, dass ich einfach zufrieden damit war, dass sich jemand die Mühe machte, auf dem selben Niveau mit mir zu diskutieren.

Viele Themen schnitten wir in diesem Gespräch an. Und es war so, dass er mich mit einer Menge Fragen und einer brennenden Gier nach weiteren Antworten allein ließ, als wir uns endlich trennten. Aber mein Heißhunger nach Wissen sollte nicht ungestillt bleiben – er deutete an, dass ich gerne bei ihnen vorbeikommen und weiter mit ihm reden könne.

Zum Glück hatten meine Eltern nichts dagegen einzuwenden. Sie waren sehr zufrieden, dass ich scheinbar jemand gefunden hatte, der in der Lage war meine Neugier zu stillen. Und meine Neugier wurde gestillt!

In den nächsten Jahren verbrachte ich viele Nachmittage, Abende und später ganze Wochenenden in dem Haus der beiden. Es stellte sich heraus, dass wir nicht nur die Interessen für Religion teilten, sondern dass er auch in der Lage war, meine Fragen nach Magie zu beantworten.

Viele Jahre später zeigte er mir einmal das Amulett, das ihm in direkter Linie von Crowley überkommen war, den Ring, den Gardner geweiht, den Gürtel, welchen Blavatsky geküsst und gesegnet und die Golftasche, welche Starkhawk getragen. Er war in vielen Traditionen eingeweiht und so alt und so weit fortgeschritten, dass er diese Traditionen transzendiert hatte. Er stand in allen Richtungen auf dem höchsten Rang und im Lauf der Jahre lernte ich immer wieder Menschen kennen, die zu ihm kamen, um seine Antworten für ihre Fragen zu hören – den Asatru war er Gode, den Kelten Druide, den Christen ein Priester, den Obzolongophalen ein Barangu-Blabede und den Freifliegenden ein Schamane. Er hatte in einem speziellen Schrank, den er „Schrank für viele Gelegenheiten“ nannte, Anzüge für magisches Werk jeder Tradition. Vom bestickten Umhang bis hin zum Cape war hier alles drin, was man als Magier tragen konnte.

Er bildete mich aus zu dem, was ich heute bin. Gemeinsam gingen wir durch Wald und Feld, wo ich die 28 Blumen, die 9 Getreide und die 121 Gräser lernte. Die Bäume am Geräusch des Windes in ihren Kronen zu unterscheiden lernte ich und Pilze zu sammeln im feuchten Herbst. Ich lernte auf das Murmeln der Bäche zu hören und den Flug der Vögel zu lesen. Außerdem lehrte er es mich, die Melodie der Städte zu verstehen. Aus dem Blinken der Ampeln, dem verwischten Weiß der Zebrastreifen, dem Rauchen der Schornsteine und dem Hupen der Fabriksirenen konnte ich die Zukunft lesen – oder zumindest vernünftige Schätzungen abgeben, wie sie sich entwickeln würde.

Als ich genug gelernt und alle Prüfungen überstanden hatte, luden die beiden mich ein letztes Mal in ihr Haus. Dort eröffneten sie mir, dass nun ihr Platz auf dem Erdenrund frei würde, da sie ihre Aufgabe erfüllt hätten. Mit mir sei ein neuer Homo Magi ausgebildet worden, der ihre Aufgabe übernehmen würde. Ich war gerührt, wusste ich doch, dass dies ein Abschied für dieses Leben sein würde. Dass ich nicht unrecht hatte zeigte sich darin, dass beide innerhalb Monatsfrist verstarben.

Niemand war überraschter als ich, als ich in ihrem Testament als alleiniger Erbe aufgelistet wurde. Doch so zog ich in ihr Haus und lebe nun inmitten der von Generationen aufgehäuften Weistümer und gehe meiner Tätigkeit nach – immer auf der Suche nach einem Nachfolger oder einer Nachfolgerin, der nach mir Homo Magi wird. Und ich weiß, dass ich nach dem Ende meines Lebens die beiden Alten auf der anderen Seite der Nacht wiedertreffen werde.

Und so sitze ich hier und versuche den Erwartungen, welche die beiden in mich gesetzt haben, gerecht zu werden.

Dein Homo Magi

 

Secret Origins (Teil 4)

Hallo Salamander,

die letzten Wochen habe ich dich ein wenig verwirrt. Verzeihe mir. Aber diese ganzen „folkloristischen Qualitäten“ haben ihren Sinn, weil es weiterhin Menschen gibt, die diesen Blödsinn glauben.

Die Idee mit der Rückerinnerung an meine Vorleben via meines Rückenmarkes ist leider nicht von mir. Geklaut habe ich sie einigen Nazi-Esoterikern, die das offensichtlich praktiziert haben, um in Ruhe ihre eigene Volksvergangenheit durch Kontakt mit ihren Nackenwirbeln aufzuarbeiten. Ein Verfahren, dem ich sicherlich nicht folgen könnte, weil ich vor Lachen zusammenbrechen würde. Aber damals war das nicht opportun, und so können sich solche Ideen eine Weile halten. Hier wie in „Des Kaisers neue Kleider“ fehlt es an Kindern, die auf den Magier zeigen und rufen „Der ist ja nackt!“.

Meine im Mondlicht nackt tanzenden Tanten gebe ich nur ungern auf. Aber auch hier muss ich leider zugeben, dass ich sie erfunden habe – nicht die Tanten, nicht das Mondlicht, aber die Verknüpfung zwischen beiden samt der deutlichen Unterbekleidung meiner Anverwandten.

Und meine Tradi-Inita-Version mit dem älteren Ehepaar und ihrer Mehrfach-Qualifikation war auch nur dazu gedacht, dich ein wenig zu verwirren. Oh, Tradi-Inita ist erklärungsbedürftig. Ich habe das geprägt für jene Leute, die mehr als eine spirituelle Herkunft zu vermelden haben – und damit ich nicht immer „Tradition“ und „Initation“ sagen muss (beides schwere Worte), habe ich die Begriffe auf ihre tions-losen Restsilben reduziert. So entstehen Tradi-Initas. Auch ein schönes Wort, klingt irgendwie indianisch. Sollte ich mir schützen lassen, bevor jemand Geld damit macht.

Was wollte ich damit? Lieber Salamander, wir leben im Hier & Jetzt. Unsere Gegenwart ist gerade jetzt, gefangen im endlosen Strom aus der Vergangenheit in die Zukunft. Und nur unsere Tätigkeit im Jetzt kann Anerkennung, Zuneigung oder gar Ehrfurcht erzeugen. Weder eine Hypothek auf die Zukunft noch eine Qualifikation aus der Vergangenheit sind hierfür geeignet. Wer nicht erkannt hat, dass wir die Hypothek auf die Zukunft gelöscht haben, indem wir uns als Heiden davon abgewandt haben, dass ein christlicher Erlöser am Kreuz für unsere Sünden gestorben ist, der uns so das Himmelreich erkauft, der ist es nicht wert, ein Heide zu sein. Wer aber von dort aus gleich weiterläuft, um sich in eine Abhängigkeit von der Vergangenheit zu begeben, wer eine Belohnung in der Zukunft gegen unüberprüfbare und ungedeckte Wechsel aus der Vergangenheit eintauscht, der ist auch auf dem falschen Weg.

Lasse dich nur von dem ausbilden, dem du traust. Traue nur dem, bei dem du ein gutes Gefühl hast. Überprüfe mit deinem kritischen Verstand, was man dir an alter Weisheit verkaufen will. Denke denke denke.

Du schaffst das schon. Du glaubst ja nicht mal mir alles ...

Alles Liebe,

Dein Homo Magi

 

Weisheit im Internet

Lieber Salamander,

das Internet ist für mich ein Quell ewiger Freude. Aber natürlich ist es noch viel lustiger, wenn man nicht nur selbst auf lauter Irrsinn dort hingewiesen wird, sondern wenn einem ab und an mal lustige Verweise zugespielt werden. So auch dieses Mal. Aber das war so irre, da konnte ich einfach nicht zurückstehen, dir davon zu berichten.

Über eBay (das System dürfte dir bekannt sein) gab es ein Angebot unter der Artikelnummer 1567843264 (nur, falls du das überprüfen willst und nicht glaubst, dass Irrsinn auch im Internet alltäglich ist). Angeboten wird „Hexenfernkurs, alle Magiearten über 1 Jahre“. Ersteigert worden ist der Artikel für 299 Euro.

Wir erinnern uns kurz an die Grundvoraussetzungen des Netzes. Anbieter wie Käufer sind anonym (wobei es hier nichts zur Sache tut, ob der Anbieter „dunklerengel“, „seelenfluesterer“ oder „herr-der-welt-26“ heißt). Die Geschäftsorte beider Seiten sind auch unklar (so können Anbieter und Käufer beide in Castrop-Rauxel wohnen, oder einer in Paraguay und einer in der Ukraine). Aber auch an Hintergrundinfos mangelt es beim Kauf (schon gar, weil der Platz, um das Produkt zu beschreiben, begrenzt ist).

Ein Freund von mir hat kürzlich einen guten Handel gemacht, weil er für „Lego“ Steine suchte und durch einen Tippfehler in einen Verkauf für „Lego-Dulpo-Steine“ hineingeriet – und da gab es wirklich einen Anbieter, wo er dann günstig zuschlagen konnte. Auch die Suche nach „Spansich-Kursen“ im Internet gibt immer wieder Hits ... vielleicht sollte man mal nach „Hekserei“ und „Magih-Kursen“ suchen.

War es nicht so, dass es bei der Magie auch stark um die innere Abhängigkeit, den „Gleichklang“ zwischen Ausbilder und Schüler geht? Zumindest ging ich kleines Dummerchen bis jetzt davon aus. Dem ist nicht so. Was über die Bücher zu den Grundlagen des Hexentums seit Jahren gang und gäbe ist, weitet sich jetzt auch auf das Internet aus – und sogar in Internet-Börsen, wo man Weisheit ersteigern kann. Über die Rolle des Geldes im Zusammenhang mit Magie will ich jetzt nicht schon wieder herziehen.

Schade, werter Käufer, dass ich dich darauf hinweisen muss: auch für 299 Euro ist Wissen nicht zu kaufen. Man muss es erlernen, und der Weg dahin ist manchmal steinig.

Aber wer auch immer der clevere Verkäufer war: Respekt. Weitere Angebote, die ich in den nächsten Wochen sehen möchte, sind dann „Bernsteinzimmer (leicht gebraucht)“, „Stadtkarte von Atlantis (mit leichten Wasserspuren)“, „Crowley für Anfänger (10 Sitzungen a mindestens 50 Euro)“, „Das Innere der Erde (ein Reisebericht)“ und „3 Initationen an 2 Abenden“ sowie „Meine Starhawk-Sammlung“ (beide Artikel können nur zusammen erworben werden). Nicht aufgeben: Anbieten! Das Geld liegt auf der Straße.

Gonzo-Journalismus heißt es in den Staaten, wenn man eine Reportage schreibt, die mehr das Drumherum als den tatsächlichen Kern beschreibt. Da geht es dann eher um das Aussehen der Hotelbar als um die Frage, wer bei dem Kongress in diesem Hotel über welches Thema gesprochen hat. So ähnlich stelle ich mir das auch im Internet-Heidentum vor: Gonzo-Heiden. Und es erinnert auch noch an die Muppets. Da haben Gonzos eine lange Nase. Eine ebensolche zeige ich jenen, die im Internet solche Angebote machen oder gar kaufen – wobei mir schon klar ist, welches Ende dieses Handels den größeren Fehler macht.

Dein Homo Magi

 

Posten stehen

Hallo Salamander,

die Welt ist schon eigenartig. Und manchmal kommt die Inspiration, ohne dass man sie sucht ... Ich stand in der Hauptpost. Unter meinem Arm hatte ich zwei Dinge, die verschickt werden mussten – eine Postkarte und dazu ein breiter Umschlag nach Finnland. Eine lange Geschichte, wie ich dazu kam, mit diesen Dingen hier zu stehen – aber das soll nicht Thema meines Schreibens sein.

Ich stand also am Eingang und stellte fest, dass es zwei Schlangen gab. Die eine Schlange war 5 Personen lang, die andere 7 Personen. Die 5 Personen standen offensichtlich an nur einem Schalter an, die 7 Personen an 2 Schaltern. Bei unserer Post ist es so, dass die Schalter mit einem gelben Band abgesperrt sind. Man kann nur an den beiden Seiten raus und sich nur im ersten und im dritten Drittel anstellen. Also überlegte ich einen Moment lang, was ich jetzt tun sollte. Die erste Schlange war kürzer – also sprach viel für sie. Aber hier kamen 5 Personen auf 1 Schalter, in der zweiten Schlange 3,5 Personen auf jeden der beiden Schalter. Also wäre es weiser gewesen, sich der zweiten Schlange anzuschließen.

Doch dann entschloss ich mich, mich dieses Mal nicht so leicht vom Schicksal über den Tisch ziehen zu lassen. Ich wartete einen Augenblick – und wurde sofort für meine Geduld belohnt. Der mittlere Schalter bediente nämlich abwechselnd erst die erste und die zweite Schlange. Also war es so, dass bei der ersten Schlange 5 Personen auf 1,5 Schalter kamen, in der zweiten Schlange 7 Personen auf 1,5 Schalter.

Nun galt es aber weitere Faktoren einzubeziehen. Welche Personen hatten mehr Post dabei? In der ersten Schlange waren zwei Personen mit den typischen grauen Kästen, in denen Firmen ihre Post abgaben. Das konnte bedeuten, dass es ganz schnell ging, weil die Teile schon frankiert waren – das konnte aber endlos lange dauern, weil es die Firmenpost nach Kuwait war. In der zweiten Schlange hingegen waren zwei ältere Damen dabei, die Päckchen unter dem Arm hielten. Ich wäre fast bereit gewesen darauf zu wetten, dass dies Geschenksendungen an ihre üppige Enkelschar waren. Leider war es nun nicht so, dass diese Enkel sich auf Wohnorte wie München oder Berlin beschränkten, sondern zum Teil mit ihren Eltern nach Tripolis oder Rio de Janeiro gezogen waren. Und natürlich war der Inhalt der Päckchen zerbrechlich oder anderweitig vorsichtig zu behandeln.

Nun war ich vor ein großes Problem gestellt. Immer wieder hatten in wenigen Augenblicken beide Reihen ihre Vorreiterstellung bei der Frage, wo ich mich anstellen sollte, eingenommen. Keine meiner Berechnungen würde ein Ergebnis erzielen, was dann doch verhindern würde, dass meine Reihe die langsamere war. Das schien nicht nur in Supermärkten mein Problem zu sein, sondern auch in Postfilialen. Wie vermisste ich die kleine Postagentur in dem Ort, in dem ich früher gearbeitet hatte – da war die Post als Postagentur im Metzgerladen untergebracht. Wenn man Hunger bekam beim Anstehen, dann konnte man dieses Problem innerhalb von wenigen Sekunden durch einen weiteren Einkauf lösen. „Dieser Brief geht nach Frankreich, dieses Päckchen nach Dillenburg und ich hätte gerne ein Paar Landjäger zum hier essen.“ Leider war dies in der Hauptpost nicht möglich.

Wie würde der magische Anteil in mir dieses Problem lösen? Postmagie gehörte nun weiß Gott nicht zu meinen Fachgebieten. Wäre zwar mal interessant, so etwas zu erlernen – aber der praktische Nutzen hält sich bei einem so chaotischen System wie der deutschen Bundespost klar in Grenzen. Ich schloss kurz die Augen, um zu einer Entscheidung zu kommen. Dann schaute ich mir die beiden Schlangen noch einmal an und stellte mich an der längeren Schlange an.

Wenn ich schon anstehen musste und wenn ich schon sicher in der Schlange stehen musste, die länger dauern würde, dann wollte ich wenigstens meinen Hormonen einen Gefallen tun – und sei es nur, um mir selbst zu beweisen, dass ich noch nicht ganz tot war. Und in der zweiten Schlange standen zwei schöne Frauen, die eine sogar am Ende. Und natürlich wird einem die Zeit subjektiv kürzer, wenn man etwas schönes anschauen kann. Dank an Einstein und die Relativitätstheorie! Dank an diesen Sieg der Ordnung über das Chaos! Dank meiner magischen Ausbildung!

Alles Liebe,

Dein Homo Magi

P.S.: Ich kam dann doch noch schneller dran als in der anderen Schlange. Auf meiner Seite war nämlich ein Mitarbeiter, der hoch motiviert war, während der Mitarbeiter am anderen Ende der Theke offensichtlich aus einem Zeitkontinuum kam, in dem die Zeit wesentlich zäher lief als bei uns. So ist die Welt.

 

Zeitumstellung

Lieber Salamander,

an diesem Wochenende wird wieder die Zeit umgestellt. Die Uhr wird zurückgestellt und die Zeit verläuft zwischen nachts 2.00 Uhr und 3.00 Uhr zweimal – man muss also brav zwischen 2.22 (a) Uhr und 2.22 (b) Uhr unterscheiden. Ich will nicht wissen, wie viele Leute heute zu spät zu irgendwelchen Verabredungen erscheinen oder aus dem Bett klettern um festzustellen, dass sie eigentlich noch Zeit haben. Ich gehöre nicht dazu, weil ich mir den Termin immer merke. Aber schon meine Fernsehzeitschrift hat Schwierigkeiten, für diese Zeiten beim Nachtprogramm Aufnahmezeiten anzugeben – und das Fernsehen hat noch am Tag vorher Zeiten für den nächsten Tag in Sommerzeit (MESZ) angegeben.

Merken kann ich mir, in welcher Jahreszeit in welche Richtung umgestellt wird, nur anhand des englischen Sprichwortes „spring forward, fall back“. Ob das ein Vorteil ist – na ja, immerhin ist damit bewiesen, dass ich mir Sprichwörter & Eselsbrücken gut merken kann.

Die Zeitumstellung ist ja mal eingeführt worden, um Strom zu sparen. Aber im Moment habe ich eher den Eindruck, dass hier Strom „verbrannt“ wird. Alleine die Wecker von 75.000.000 Deutschen, die von Hand umgestellt werden müssen – und selbst wenn man einen Funkwecker hat, dann bleiben andere Aufgaben, die man umstellen muss. Die Uhr am Herd, die Uhr in der Küche, die Uhr am Videorekorder, die Uhr am Computer (obwohl der das schon automatisch vorschlägt, wenn man das entsprechende Betriebsprogramm hat) und dann Dinge wie die Uhr im Auto und die Uhren am Arbeitsplatz. Und alles natürlich in den nächsten Stunden, nicht auf einen Schlag.

Zwei Dinge fallen einem dabei auf. Das erste ist, wie abhängig wir von der Zeit und der Zeitmessung geworden sind. Wenn meine Uhr nicht stimmt, dann verpasse ich den Bus zur Arbeit. Oder komme zu spät zum Arzt oder verpasse den Ladenschluss. Immer kürzer und immer hektischer werden die Zeiteinheiten, die uns bleiben, um bestimmte Dinge zu erledigen. Die Zeit, die eigentlich eine nicht einschränkbare Ressource ist, wird verwaltet und verkleinert.

Anfangs ging es bei der Vereinheitlichung der Zeit darum, den Menschen einheitliche Fahrpläne für die Bahn zu geben. Inzwischen leben wir in einem Korsett von Zeit und Zeitansagen, das es uns unmöglich macht, einer natürlichen Zeit hinterzuspüren. Jeder merkt, dass er am Tag nach der Zeiteinstellung Schwierigkeiten hat, sich dem neuen Zeitmaß anzupassen. Aber die wenigsten verschwenden einen Gedanken darauf, dass diese „Winterzeit“ genauso wie ihr Äquivalent die „Sommerzeit“ eine künstliche Zeitrechnung ist, die uns übergestülpt worden ist.

Und das zweite ist die Erkenntnis, dass hier natürlich keine Zeit umgestellt ist. Die Zeit ist außerhalb von uns existent und sie wird von jedem anders wahrgenommen. Dies ist eine eigenartige Dichotomie, mit der die Zeit aber leben muss. Zeit ist außen und innen, und keine von beiden Zeiten ist objektiv. Wir nehmen die Zeit, die wir auf einem Zahnarztstuhl verbringen, anders dar als die Zeit, die wir in den Armen einer schönen Frau verbringen. Und Zeit vergeht in einem Raumschiff, das fast mit Lichtgeschwindigkeit fliegt, anders als die Zeit auf der guten alten Erde. Zeit ist innen und außen und sie ist nie identisch und nie perfekt messbar – außer vielleicht von einem außerhalb der Schöpfung stehenden Wesen, das über eine geeichte Uhr verfügt. Nur woran ist diese Uhr geeicht worden?

Man kann die Zeit nicht umstellen, weil man die Zeit nicht einstellen oder verstellen kann. Michael Ende spricht in „Momo“ viel über die Zeit und ihre Effekte. Die Idee von Zeitdieben oder Zeitkonten ist verlockend – und doch unrealistisch. Es gibt ein schönes Märchen, in dem jemand ein Wollknäuel für die Zeit geschenkt bekommt, die ihm noch zur Verfügung steht. Und er überspringt alle jene Momente, die ihm nicht gefallen oder die ihn langweilen. Und bald ist die Wolle aufgebraucht.

Was mir dieses Märchen sagt, ist einfach. Wir sollten das Leben so nehmen, wie es kommt. Die Zeit, die uns auf Erden gegeben ist, ist begrenzt. Aber wir kennen nicht den Zeitpunkt, wann das Leben enden wird. Selbst wenn zwei Menschen erfahren, dass sie noch zehn Jahre zu leben haben – wie sie diese zehn Jahre ausfüllen und wie sie die ihnen verbliebene Zeit nützen, ist völlig von dem abhängig, was sie aus sich, ihrem Leben und ihrer Zeit machen.

Da gibt es diesen netten Witz: „Was würdest du machen, wenn du erfahren würdest, dass du noch zwei Monate zu leben hast?“ „Ich würde sofort nach Mannheim ziehen.“ „Warum das?“ „Nun, in Mannheim erscheint einem jeder Monat wie ein ganzes Jahr ...“

Man kann die Zeit nicht umstellen, auch wenn man sich das manchmal wünschen würde. Die Zeit ist stärker als wir. Auch eine Zeitumstellung zweimal im Jahr kann das nicht kaschieren.

Alles Liebe,

Dein Homo Magi

 

Rückblicke

Hallo Salamander,

so ein Jahr geht erstaunlich schnell vorüber. Dies ist jetzt sogar schon das zweite Jahr, in dem ich dich Woche für Woche mit Briefen versorgt habe.

Ich gebe zu: Manchmal habe ich die romantische Vorstellung, dass ich Woche für Woche einen Boten aus meiner Burg sende, der dann zu dir reitet und dir meine auf Pergament geschriebenen Worte bringt. Irgendwie scheine ich zu hoffen, dass das romantische Medium dafür sorgt, dass auch meine Texte mit dem entsprechenden Kolorit empfangen werden.

Boten würde ich dir gerne schicken, gekleidet in Gold und Schwarz. Sie würden den Salamander in diesen Farben auf der Brust tragen. Schwarze Stiefel trügen sie, dazu dunkle Hosen, gegürtet mit schwarzem Leder samt silberner Schließe. Und die Schließe würde einen Salamander aus Silber zeigen, der sich selbst in den Schwanz beißt. Der Umhang wäre dunkel, genauso wie das Hemd. Auf der Brust würde das Wappen prangen. Der Verschluss des Umhangs wäre eine goldfarbene Spange in Form eines Salamanders.

Sie würden an dein Hoftor pochen und dir Woche für Woche Nachricht bringen.

Oder ich träume von Schiffen, die hinauf reiten auf dem flammenden Strahl, hinauf zu den Sternen und zum Tannhäuser Tor. Und sie brächten Boten mit sich, gekleidet in Silber und Schwarz. Kleine Taschen würden sie tragen an ihren Gürteln. Und in diesen Taschen befände sich ein Etui aus Stahl, in dem ein kleiner Ring steckte. Diese Ringe würden, wenn man sie auf einer glatten Unterlage schnell genug drehte, meine Botschaft abspielen – und immer wieder abspielen können, bis zum Ende der Zeit. Kurz werde ich immer an den Film „Die Zeitmaschine“ erinnert, wenn ich an diese Ringe denke, doch dann muss ich auch wieder an Asimov und Clarke und Heinlein denken, die Helden der Science Fiction meiner Kinderzeit.

Oder ich denke an Drachen, auf deren Rücken Reiter sitzen, die in ihren Satteltaschen meine Briefe zu dir transportieren.

Oder ich denke an Frauen in der Uniform der Boten, die in einer futuristischen Kulisse – vielleicht der Mars der Zukunft? – in einer Magnettubenbahn sitzen und ihre Umhangtasche an sich pressen, während sie dem Ziel näher kommen. Bei diesem Ziel handelt es sich um eine Zitadelle an einem längst ausgetrockneten Kanal dieses Planeten, an dessen Wassern vor Jahrtausenden die Ureinwohner dieser Welt geplanscht und gespielt haben mögen. Doch jetzt steht dein Turm an den Ufern dieses ausgetrockneten Kanals und diese Botin bringt dir Woche für Woche Post von mir.

Kleiner Salamander, aller guten Dinge sind drei. Ein Jahr will ich dir noch schreiben. Bis dahin hast du entweder alles gelernt, was ich dir beibringen kann, oder ich habe alles erklärt, was du lernen musst, oder ich habe einen guten Grund gefunden, warum ich weitermache – aber dies sollte ein Grund sein, der weder Schande über deine Lernfähigkeit noch Schande über meine Lehrerfähigkeiten bringt. Und das ist schwierig.

Was kann ich dir für dieses Samhain mitgeben außer meinen Träumen und Visionen? Ich weiß nicht, wie dieses Jahr das Torfest wird. Zuviel Leid und zuviel Sterben gab es in diesem Jahr. Und ich habe den Eindruck, dass dies nur der Beginn einer Phase ist, in der das Sterben wieder zu einer Profession werden wird, die viele Menschen erlernen. Ich kann dir wenig sagen, über den Weg den du einschlagen musst. Aber ich kann dir für dieses Jahr und für das Jahr, das kommen wird, einen Satz weitergeben, der mich sehr beeindruckt hat. Ich trage ihn seit Monaten mit mir herum, ohne dass es mir gelungen ist, dir dazu einen ganzen Brief zu schreiben.

„Gott zu suchen heißt seine Allgegenwart zu leugnen.“

Mehr kann ich dir zu diesem Samhain nicht sagen. Suche dich, mein kleiner Wurm, suche dich und die Antwort auf die Frage deines Seins. Aber suche nicht nach Gott – du hast ihn gefunden, als du geboren wurdest. Aber du verlierst ihn nicht, wenn du stirbst.

Alles Liebe,

Dein Homo Magi

 


 

[1] Freiburg im Breisgau, 1991

[2] München, 1989

[3] Starhawk, S. 129

[4] Starhawk, S. 364

[5] Starhawk, S. 129

[6] Starhawk, S. 364

[7] Starhawk, S. 158

[8] Francia, S. 41

[9] Starhawk, S. 146

[10] Luisa Francia „Zaubergarn“, S. 70 (München, 1989)

[11] Unter www.stbg.de/Zeitung/se501/unfall.htm findet man die Zeitschrift „Die Industrie der Steine und Erden“, Jahrgang 2001, Ausgabe 5/01 samt diesem Zitat.

[12] ebenda

[13] Unter www.baua.de/fors/fb91/fb640.htm findet sich Material der „Bundesanstalt für Arbeitsschutz (...)“ samt Literaturangaben und diesem Zitat.

[14] „Amtliche Mitteilungen der Bundesanstalt für Arbeitsschutz“, April 1993

[15] München, 1989

[16] „Zaubergarn“, S. 20

[17] Ebenda, S. 22

[18] Erschienen in „Agent Provocateur 11 - Im Zeichen des Maulswurfs“, Hrsg. Rehbein (Köln), 1987 (?)

 

 

 

 


 

 

 


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