Homo Magi Archiv Wöchentliche Ansichten eines Magiers über den Jahreslauf und die Welt Teil 11
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Walgesänge Hallo Salamander, es ist bestimmt 15 Jahre her, dass mein jüngerer Bruder mir
zu irgendeiner Gesellschaft eine Cassette mit dem wundervollen Titel
„Walgesänge“ schenkte. Es war ein Werk aus – wenn ich mich recht
erinnere – dem reichen Fundus der Medien-Experimente von Werner Pieper[1],
und das Ding ist eine Zeit lang in meinem Kassettenrecorder rauf und
runter gelaufen. Als ich vor einigen Jahren dann die wichtigsten 10 MCs
digitalisieren lassen wollte, war diese dabei. Ich weiß nicht, warum.
Drei oder vier der „zu rettenden“ MCs waren von mir selbst
zusammengestellte Sammlungen, die ich einfach in der Form konservieren
wollte. Mindestens zwei MCs waren Hits aus der ehemaligen DDR; das Land
ist untergegangen, der Label „Amiga“ auch, von daher ist es schwer,
diese Dinge heute noch aufzutreiben. Und ganz alleine stand am Ende die
MC mit „Walgesänge“, die ich unbedingt auch retten wollte. Ich habe Geld dafür ausgegeben und sie auf CD brennen
lassen. Ich habe es nicht bereut. Denn in den letzten Tagen – es ist ja
Herbst – hatte ich mal wieder Grund und Gelegenheit, die CD ins den
CD-Player im Auto einzuschieben und die Fahrt durch die Dämmerung mit
singenden Walen zu begleiten. Es war und ist weiterhin … unfassbar.
Natürlich denkt man an den „Star Trek“-Film, wo die Erde durch singende
Buckelwale gerettet wird, die man vorher in der Vergangenheit retten
musste, aber man denkt auch an Jacques Cousteau, an blaues Licht auf dem
Boden einer Lagune, man denkt an Walfang, an „Moby Dick“ und und und … Es ist … anders. Jedes Mal, wenn ich diese Musik höre,
ärgere ich mich vehement darüber, dass wir Menschen diese Spezies Wal
ausrotten wollen, so als wären sie gefühls- und regungslos. Sie sind es
nicht. Kein Wesen, das gefühls- oder regungslos wäre, könnte diese
Gesänge erzeugen. Sie sind herzzerreißend, eigenartig, fremd … und doch
wunderschön. Ich fange wieder an, vor mich hin zu salbadern, werter
Salamander. So viel lass dir gesagt sein: Wenn du in deinem Leben nicht
einmal dem Gesang der Wale gelauscht hast, dann hast du niemals gehört,
was das wahrscheinlich einzige intelligente Leben auf diesem Planeten
außer uns Menschen zu sagen hat. Und ob der Mensch intelligentes Leben
ist, sei dahingestellt. Dein Homo Magi
Tesla Energy Watch
Hallo Salamander,
in einer esoterischen Zeitschrift (ja, ich war am Kiosk in
einem Bahnhof und „Das Wesentliche“ als Zeitschriftentitel stach mir in
die Augen und begeisterte mich so, dass ich bereit war, dafür Geld
auszugeben) fand ich eine Anzeige für die „Tesla Energy Watch“ mit den
drei wundervollen Werbesätzen „Die Urkraft des Universums am
Handgelenk!“, „Tesla Chip Inside!“ und „Electrosmog-Protection“. Erhältlich sind diese wunderbaren Dinge unter www.tesla.ch.
Hier kann man für schlappe 245 Schweizer Franken und mehr wundervolle
Dinge wie die „Tesla Energy Explorer III“ erwerben – mit integrierter
Tesla-Spule und Energy-Chip! Wow. Denn: „Im Herzen der Tesla-Uhren
wirken eine Teslaspule sowie der spezielle Tesla-Chip. Dieser erzeugt
ein positives, energetisches Feld höherer Rangordnung, das in Resonanz
zum Schumannsfeld steht. Das so erzeugte Feld stärkt das natürliche
elektromagnetische Feld des menschlichen Körpers. Damit schützt sich der Körper besser vor den negativen
Auswirkungen tiefschwingender elektromagnetischer Felder (EMF), wie sie
z.B. von Funk- und Mobiltelefonen, Computer (Elektrosmog).“[2] Ja, dieser Satz kein Verb. Aber das ist auch egal, denn die
Felder in Spule und Chip helfen einem, mit einer Uhr und ihrer „Urkraft“
(das hier kein Wortspiel stattgefunden hat, verwundert mich ein wenig)
vor Electrosmog geschützt zu sein. Man kann aber auch 245 Schweizer
Franken sparen und einfach kein Handy benützen. Ist billiger und viel
ökologischer. Dein Homo Magi
Rollenspiel und Ton der Schöpfung Lieber Salamander, vor vielen Jahren erschienen in den USA die ersten
Rollenspiele. Lassen wir einfach einmal „Dungeons & Dragons“ den Urvater
sein und nennen wir für die Entwicklung des Rollenspiels als
Marktsegment (nicht als Spiel für kleine, isolierte Minderheiten) das
Ende der 70er Jahre. Damals kamen die Spiele schon mit beeindruckenden
Würfelsätzen daher. Es gab neben dem aus „Mensch ärgere dich nicht!“
bekannten sechseitigen Würfel (W6 genannt, also ein Würfel mit 6 Seiten)
noch den W4 (eine Pyramide aus 4 Dreiecken), den W8, den W10, den W12
und den W20. Bis auf ein paar Spielereien (wie einen hundertseitigen
Würfel) hat sich dieses Angebot im Spielesektor auch kaum verändert in
den letzten über 20 Jahren. Jetzt auf einmal hat der schnöde W12 es geschafft, endlich
esoterische Weihen zu erlangen. Unter dem geometrisch korrekten
Tarnnamen „Pentagondodekaeder“ (klingt deutlich cooler als W12) darf er
„der heiligste der plantonischen Körper“ sein, er ist mit dem
Christusgitter verbunden und war früher so geheim, dass er in den alten
Mysterienschulen nicht erwähnt werden durfte.[3] Dass die Mysterienschulen vor Christus bestanden … naja,
die konnten halt ahnen, dass später einmal das Gitter nach ihm benannt
wurde (vorher hieß es wahrscheinlich „Mithrasgitter“). Dass er geheim
war – naja, Plato sprach auch nicht über Vanilleeis mit heißen
Himbeeren, ist das also auch geheim und mysteriös und ganz wichtig? Und
welche Verbindung hat Vanilleeis mit heißen Himbeeren mit meinem
Fliegengitter? Aber man kann die Verbindungen noch weiter ziehen –
immerhin ist es schön, dass das Ganze irgendwie auch mit Lemurien
verbunden ist.[4] Und vergessen wir nie: „In
der Zeit vom 20.08. – 22.08. öffnen wir ein Zeittor für
die Energie um eine neues Christusgitter zu etablieren … das
die letzten Verknüpfungen in Mutter Erde herstellt zu
den Christusgittern oberhalb der Erde …
damit alle 144 Christusgitter in einem Ton schwingen können und
verbunden sind mit den Leylinien …“[5] Ein neues Christusgitter, das mit den anderen
Christusgittern und den Ley-Linien verknüpft ist? Lemuria? Paraguay? Aber was machen die anderen Selbsten (jaja, siehe unten),
wenn sie sich das vorstellen wollen – klar, ein Zwölfseiter:
„Ich Danke Dir für Deine Hilfe
Dein Hohes Selbst … in Verbindung mit viele Anderen Hohen Selbsten …
erzeugen eine Energie des Friedens …
eine Frequenz des Friedens … Ein
Ton des Frieden …
Eine Änderung in dem Bewusstsein der Welt …
Stellt Euch dafür einen Dodekaeder vor …“[6] Und jetzt haben wir endlich auch noch die Erzengel drin
(über Rechtschreibung wollen wir nicht streiten mit den anderen Selbsten): „(
Anmerkung von TA’Ia ...: einen der Platonischen Körper ...
Eine Kugel ... die aus 12 gleichgrossen 5 – Ecken besteht ... Der
Dodekaeder ist ein Symbol für den Äther ... und
wird gleichgesetzt mit dem goldenen Licht von Erzengel Metatron ... )“
[7] Erzengel, Lemuria, Ley-Linien, Christusgitter … und alles
auf den kleinen 12 Seiten meines Dodekaeders aus meiner schönen
Rollenspiel-Box. Ja! Wow! Endlich! Thesen, dass Rollenspiele nicht okkult wären, sind damit
obsolet – ja, wir sind okkult! „Was hast du gewürfelt?“ „Erzengel.“ „Ist
das mehr als mein Lemuria?“ Dein Homo Magi
Heilige weiße Teller Hallo Salamander, mein Nachbar ist Franzose, seine Frau ist Finnin. Wir
unterhalten uns in Englisch, weil das die einzige Sprache ist, die wir
alle Drei halbwegs beherrschen (im Gruppenangebot wären noch Latein,
Deutsch, Italienisch und Spanisch … aber immer nur mit 1 oder 2
Sprechenden). Letzte Woche wollten sich die beiden dafür entschuldigen,
dass ihr Kind abends so in der Wohnung randaliert, so dass im
Arbeitszimmer bei mir immer Lärm ist. Also brachte man uns leckeren
Kuchen auf einem weißen Teller, ein kulinarisches Friedensangebot.
Irgendwann war der Kuchen konsumiert, der Teller gereinigt – es ging an
die Rückgabe. Leider waren die beiden Nachbarn gerade im
Kino/Theater/Nachtclub und ihre Eltern passten auf die Wohnung auf. Ihre
Eltern sind Finnen. F-I-N-N-E-N. Finnisch gehört zum finnisch-ugrischen Sprachstamm (mit
Ungarisch) und ist mit keiner anderen Sprache verwandt.
Fremdsprachenkenntnisse der Beiden: Keine. Also stand ein Deutscher vor der Tür, einen weißen leeren
Teller in der Hand. Tür geht auf. Die beiden Großeltern und das Kind
machen mir auf, das Kind erkennt mich und winkt. Ich winke mit dem
Teller. Keine Reaktion. Ich versuche zu erklären, dass der Teller ihnen
beziehungsweise in die Wohnung gehört. Keine Reaktion. Ich deute auf
ihre Küche und auf den Teller. Keine Reaktion. Ich tanze meine
Geschichte und sende Alphawellen, um sie mental zu überzeugen, dass ich
ungefährlich bin. Keine Reaktion. Also zog ich mit meinem Teller wieder
ab. Was mögen die von mir gedacht haben? Uralte Bräuche in
Deutschland, dass der Nachbar Kindernieren abholen darf, wenn er einen
leeren, weißen Teller mitbringt? Das Einsammeln von Stuhlproben auf
Keramik zur Reihenuntersuchung gegen Skorbut in deutschen Haushalten im
Winter? Das Verschenken von weißen Tellern an der Haustür, damit
verpflichtet man sich zu sexuellen Gegenleistungen im nächsten Jahr?
Weiße Teller als Zeichen für außerirdische Untertassen, sozusagen
Einweis-Teller analog zu den Kellen der Fluglotsen – der weiße Teller
zeigt das Ende der Landebahn auf. Keine Ahnung. Aber ich wüsste schon gerne, was die von mir
gedacht haben … Dein Homo Magi
Autos und Namen Hallo Salamander, ich stand ganz unschuldig in der Werkstatt, um meinen Wagen
abzuholen. Nichts wirklich Schlimmes war passiert – auf dem
Firmenparkplatz war mir bei Eis einer auf die Stoßstange gefahren und
hatte diese angebrochen. Also durfte seine Versicherung einen
Werkstattbesuch bezahlen, ich bekam zusätzlich eine neue Hecklackierung
für mein Auto bezahlt. Ich wollte den Wagen abholen und stand schon eine Weile bei
der jungen Dame an, die das im Autohaus mehr oder weniger souverän unter
Kontrolle hat. Endlich war ich dran und folgender Dialog entsprang
zwischen uns beiden: „Kennzeichen?“ Ich nannte das Autokennzeichen. „Marke?“ Ich nannte die Automarke. „Namen?“ „Ich habe meinem Auto keinen Namen gegeben, ich finde das
zu persönlich. Normalerweise sage ich »Auto«, wenn ich mein Auto meine.
Manchmal sage ich auch »Karre«, aber das ist eher selten.“ Die junge Frau schaute mich an. Man hätte kleine Münzen in
ihren Mund schnippen können, der offen stand. Es lief kein Speichelfaden
raus, aber sie sagte nur „Äh?“. Also wiederholte ich, dass ich meinem Auto keinen Namen
gegeben habe, sondern einfach „Auto“ zu ihm sagen würde. Ihre Kollegin
stand hinter der jungen Dame und hatte schon Tränen in den Augen vor
Lachen. Meine Gegenüber war noch immer in Schockstarre. Es dauerte einen
langen Moment, dann konnte sie wieder sprechen. „Ich … meinte ihren Namen.“ „Ach so, warum haben sie das nicht gleich gesagt.“ Ich
nannte meinen Namen. „Aber ich bin vergeben.“ Weitere Kommunikation fand nicht statt, weil ihre Kollegin
ein Einsehen hatte und mir die Mappe mit der Rechnung und dem
Autoschlüssel reichte. Ich ging, ohne mich umzuschauen. Aber ich kann dich beruhigen: Als ich zwei Wochen später
wegen Reifen dort war, stand sie nicht mehr sprachlos herum. Aber sie
mied es, mich zu bedienen. Dafür bekam ich dann die Kollegin gesandt,
die ihre Sache ganz gut machte. Und sie fragte nicht nach meinem Namen,
den hatte sie sich wohl aus irgendwelchen Gründen schon gemerkt. Dein Homo Magi
Fragment I Lieber Salamander, folgendes „Fragment“ ist weder als Biographie noch als
Hagiographie geeignet; doch jetzt über zehn Jahre alt und
unveröffentlicht wollte ich dir diesen „Splitter“ nicht vorenthalten.
Ich hoffe, er passt zur nachdenklichen Zeit der Raunächte (nein, ich bin
dir nicht böse, wenn du ihn überblätterst oder überliest, weil die
Begriffe „Magie“ oder „Heidentum“ keine Rolle spielen!). Dein Homo Magi Das Leporello meiner Seele auszubreiten habe ich mir
vorgenommen. Ein paar Splitter von Erinnerungen, ein paar Bilder meines
Lebens, ein paar Standfotos aus drei Jahrzehnten Lebens. Zum Teil
Testament für die, welche nach mir kommen werden. Zum Teil
Rechtfertigung gegenüber jenen, die vor mir gekommen sind. Zum Teil
jedoch ein Versuch, ein wenig von dem, was mir passiert ist, anderen
Menschen anzuvertrauen. Ein Teil also ist für die Welt um mich herum. Meine Erinnerung an meine Kindheit ist – wenn man es
freundlich nennen will – lückenhaft. Ich kann mich vor der Zeit im
Kindergarten an fast nichts erinnern. Viel kann ich mir anhand von den
Geschichten meiner Verwandten zusammenreimen, doch bleiben trotzdem
Lücken. Löcher, die nicht mehr zu stopfen sind. Ich wurde geboren, ohne
gefragt zu werden. Meine Mutter behauptete einmal auf eine Frage von
mir, wenn es ein Wunschkind gegeben habe, dann sei ich es gewesen. Für
sie sicherlich. Ob die Welt das auch so sieht, wage ich zu bezweifeln. Meine Eltern waren das, was man als gutbürgerlich
bezeichnen würde. Meine Mutter und mein Vater kommen eigentlich – wenn
man ihnen eine bestimmte Bandbreite durchgehen lässt – als normal aus.
Keiner von beiden zieht nachts los und jagt mit dem Beil in der Hand
arme Menschen durch den Wald, keiner versuchte irgendwelche
geheimnisvollen Beweise mit meiner Zeugung und Geburt zu erreichen.
Hoffe ich zu mindestens. Die ersten Jahre meines Lebens waren also das, was man als
nicht erinnerungswürdig bezeichnen würde. Meine Mutter gebar mich, als
sie dem Rosenmontagszug im Fernsehen zusah. Ich weiß nicht, ob mich das
Lachen auf den Fluren geprägt hat. Vermuten würde ich es, denn bis heute
ist der Versuch, andere Menschen zum Lachen zu bringen oder sich auf
ihre Kosten zu amüsieren tief in mein Gehirn eingegraben. Leute, passt
auf, was Eure Kinder als erstes auf der Welt an Gefühlen
entgegengebracht wird! Lasst es nicht Gelächter sein, denn wer lacht,
wird von der Welt nicht ernstgenommen! Meine Eltern waren ziemlich glücklich miteinander.
Zumindest verkündet dies die Legende, die von allen Familienmitgliedern
tradiert wird. Nach einigen Monaten wurde mein Bruder geboren, und nach
einigen weiteren Monaten musste ich mich dem Kindergarten stellen. Inzwischen waren wir auch in eine größere Wohnung gezogen,
die es uns möglich machen sollte, für die Kinder und die Eltern genügend
Platz zu haben. Das ganze lag ganz angenehm in einer neu entstandenen
Siedlung, in der sich eine Reihe von Häusern hinter einer anderen Reihe
von Häusern verstecken kann. Eine von diesen Siedlungen, wo man an der
Straße Schilder aufstellen muss wie „Zu den Häusern 1 bis 13“, damit
überhaupt irgendjemand dorthin findet. Verschlafene Vorortstraßen, wo
man wahrscheinlich früher noch Sonnenbaden konnte, ohne dass man Gefahr
lief, von irgendjemandem bemerkt zu werden. Die ganze Reihenhaussiedlung war voll mit Ehepaaren um die
35. Dies führte zu dem ausgesprochen angenehmen Effekt, dass die
Reihenhäuser voll waren mit frisch geborenen Kindern, als mein Bruder
und ich dorthin zogen. In heimeliger Atmosphäre würden wir aufwachsen
können, umgeben von Kindern, die in die Hose machten, wenn wir in die
Hose machten, die ihre ersten Zähne bekamen, wenn wir unsere ersten
Zähne bekamen und die anfingen Bart zu bekommen, wenn wir anfingen Bart
zu bekommen. Zumindest der Punkt mit dem Bart hat sich für mich bis
heute nicht bewahrheitet. Zurück zu dem Kindergarten. Bis zu meinem ersten Tag dort
mangelt es mir an Rahmendaten für die Rekonstruktion meiner frühen
Erinnerung. Zwei Bilder kann ich bieten, mehr nicht. Das eine ist ein
geheimnisvoller Turm irgendwo an Nord- oder Ostsee. Meine Mutter
behauptet steif und fest, es wäre irgendwo in Belgien, und es wäre ein
Denkmal für die U-Boote im zweiten Weltkrieg. Wenn man mich fragt, so
war es einfach nur hässlich. Bedrohlich wirkten da eher die Krebse, die
es laut der fundierten Aussage meines Vaters im Wasser beziehungsweise
auf dem Strand geben sollte. Krebse, das waren für mein kindliches
Gehirn Lebewesen, die zum großen Teil aus Scheren und Panzer bestanden.
Eine Art mobiler Gefechtsstation also, die es auf kleine Kinderfüße
abgesehen hatte. Sicherlich aus verständlichen Gründen zog ich es also
vor, mich nicht in das Wasser zu begeben. Das andere Bild ist verwaschen und ziemlich alt. Es hat
etwas mit Licht zu tun, einem hellen Licht, das mir erscheint und mir
irgendetwas erzählt. Bis heute kann ich nicht sicher sagen, was es war
oder was mir da geschehen ist. War es irgendeine Tante, die mit einer
Taschenlampe in der Hand kontrollieren wollte, ob meine Augen auch
anfangen zu blinzeln? Hat man mich auf der Straße vor ein Flutlicht
gesetzt? Viele Jahre später, als ich begann, mich quer durch die
Bücherberge zu wühlen, stieß ich auf die lustige Idee, Leute mit solchen
Erinnerungen wären von außerirdischen Flugobjekten entführt worden. Diese Erklärung hat mich immer irgendwie wegen ihrer
Dummheit fasziniert. Also, nehmen wir nur einmal für einen Moment an, es
gäbe wirklich neben unserer Zivilisation irgendetwas im Universum, das
sich als intelligentes Leben ausgeben könnte. Und nehmen wir weiterhin
an, dass dieses Leben den Weg bis zur Erde findet. Der nächste Schritt
ist dann doch hoffentlich entweder eine Untersuchung der Erde oder die
Kontaktaufnahme mit den zuständigen Behörden. Das letztere führt
unweigerlich zum beliebten „Take me to your leader!“ und endet
hoffentlich nicht in der Kontaktaufnahme mit sabbernden Kleinkindern.
Ersteres müsste doch eigentlich mit einem, nun vielleicht auch zwei
Kleinkindern abgeschlossen sein. Warum sollte ich bei der geringen
Wahrscheinlichkeit von maximal zwei zu ziemlich viele Kleinkinder
ausgewählt worden sein? Ähnlich doof ist nur noch die Idee mit den
Kornkreisen. Da kommen also Außerirdische auf die Erde und versuchen,
mit uns Kontakt aufzunehmen. Und da sie davon ausgehen, dass wir
Intelligenz besitzen, schreiben sie uns ein paar Zeilen – in ein
Kornfeld! Wie muss eine Zivilisation aussehen, die es sich zur Aufgabe
gemacht hat, ihr Wissen in Kornfelder zu vermitteln? Man stelle sich das
doch nur einmal vor. Riesige Scheunen, in denen riesengroße
Schnellhefter stehen, in die diverse Kornfelder eingeheftet sind. Und
wenn man dann mit Hilfe eines kleinen Krans umgeblättert hat, kann man
ganz langsam die Geschichte dieser Zivilisation nachlesen. Und als diese Zivilisation eines Tages gemerkt hat, dass es
mit ihr abwärts geht, hat sie ein paar tapfere Männer, Frauen oder was
auch immer in den Raum hinaus geschickt, um ihre Schriftzeichen in
Kornfelder zu verewigen. Irgendwie etwas bizarr, oder? Der Kindergarten war nicht weit von der Wohnung meiner
Eltern entfernt. Später bin ich die Strecke sicherlich einige tausendmal
gelaufen. Denn auf demselben Gelände, wo sich mein Kindergarten befand,
war auch das Gemeindehaus samt Kirche. Und später wuchs ich wohlbehütet
von Kindergarten an hinein in die Konfirmandenstunde und den
Kindergottesdienst, in die Jugendclubs und in die Arbeit im sogenannten
offenen Haus. Irgendwann war man dann selber Leiter in Kindergruppe und
beschäftigte sich damit, Kindern religiöse Erfahrungen nahezubringen. Doch zurück. Die Jahre im Kindergarten sind mir in guter
Erinnerung. Der Kindergarten hatte einen großen Garten, in dem hölzerne
Spielgeräte dazu aufzurufen schienen, sich auf sie drauf zu setzen.
Einige waren nur grob bearbeitete Holzblöcke, doch andere sahen aus wie
Lokomotiven oder Flugzeuge. Und mitten zwischen einigen kleinen Bäumchen
stand ein Metallgeflecht aus großen, nur mit Mühe mit Kinderhänden zu
umspannenden Metallstangen, auf denen man klettern konnte. An sonnigen
Tagen waren wir oft draußen in diesem Garten. Die meisten Gruppenräume
ließen sich zum Garten hin öffnen, und im Sommer war es also nur ein
kleiner Schritt hinaus in die Sonne, den man tun musste. Ein kleiner
Hang führte hinab auf jene Wiese, auf der die Spielgeräte standen. Und
dieser Hang musste immer wieder herhalten für „Der Kaiser schickt seine
Soldaten aus“ oder „Wer hat Angst vorm schwarzen Mann“. Unvermeidlich
wurde „Plumpsack“ gespielt, bis wir nicht mehr konnten. Eine schöne
Zeit. Viele Jahre später wurde ich für einen kurzen, leicht
vergänglichen Tag wieder zu jenem Kind, was damals den Kindergarten
besucht hatte. Es war irgendein Jahrestag, irgendeine Feier zu
irgendeinem runden Jubiläum. Der Kindergarten war für die Öffentlichkeit
genauso geöffnet worden wie die anderen Räumlichkeiten der Gemeinde. Und
so schlenderte ich über das Gelände, aß erst eine Wurst samt Brot und
Senf, trank eine Kleinigkeit und schlenderte dann über den staubigen
Fußweg zum Eingang des Kindergartens. In einem Raum hatten sich einige
kleine Kinder auf dem Fußboden ein Streckennetz für die Holzeisenbahn
zurechtgebastelt, und sie schienen schwer vertieft, Holzstück an
Holzstück zu legen. Ich schaute ihnen eine Weile zu, bis sich auf einmal
ein junger Mann in meinem Alter neben sich stellte. Ich schaute ihn
fragend an und er lächelte schelmisch zurück. Ein Kindergartenfreund von
mir, der mich nach einigen Jahren wieder erkannt hatte. Wir unterhielten
uns eine Weile lang, und dann begannen wir, den Kindern beim Bauen zu
helfen. Anfangs waren es nur die Schienen im näheren Umkreis, die
wir ihnen anreichten. Dann begannen wir unauffällig, in den Ecken des
Zimmers nach weiteren Teilen zu suchen. Einige Stücke waren einfach zu
finden, so die geraden Schienen und die großen Kurven. Doch andere
Stücke waren seltener und daher schwerer zu finden. So gab es viel zu
wenige Endpuffer, und viel zu wenige Schranken und Autos. Vom Mangel an
Loks mit funktionierenden Kuppelstücken ganz zu schweigen. Ich weiß
nicht mehr, wer von uns beiden zuerst auf die Idee kam, in einem der
Nachbarzimmer nachschauen zu gehen. Aber bald waren wir damit
beschäftigt, in leeren Waschmitteltrommeln die Teile aus den anderen
Zimmern zu schmuggeln. Das war nicht so einfach, wie es klingt. Die
Räumlichkeiten waren alle voll mit besichtigenden Elternteilen und
ehemaligen Kindergartenkindern, die schnell mal vorbeigekommen waren.
Und das Zimmer, welches wir uns herausgesucht hatten, lag gerade rechts
neben dem Eingang. Die anderen Zimmer waren jedoch auf der anderen Seite
vom Eingang, nämlich links einen Flur hinunter entlang angeordnet. Wir
hatten also echte Schwierigkeiten mit dem Nachschub, da die
zurückzulegende Strecke immer länger wurde. Aber irgendwie schafften wir
zwei es, alle Zimmer der Reihe nach von den Teilen für die Holzeisenbahn
zu entblößen. Unsere beiden Vorzeigekinder hatten nach einer Weile den
Raum verlassen, und wir schlossen uns einfach ein und schütteten Eimer
nach Eimer mit Holzteilen auf den Fußboden. Dann begannen wir mit dem
großen Werk, jener ultimaten Eisenbahnlinie, von der jedes Kind nur
träumen kann. Wir trennten erst die zerstörten von den unzerstörten
Teilen ab und stapelten erstere in einer unzugänglichen Ecke des Raumes.
Dann bauten wir aus allen übrigen Teilen ein zusammenhängendes
Eisenbahnnetz, welches die Schränke und unteren Regale mit einschloss.
Das ist wesentlich schwieriger, als es bei der Beschreibung klingen mag.
Die einzelnen Stücke lassen sich nämlich nicht schräg aneinander
stecken, so dass man mit jeweils zwei Teilen nur eine minimale Steigung
überwinden kann. Sonst brechen die Holzknubbel ab, die an einem Ende der
Teile in die entsprechende Aussparung am anderen Teil gesteckt werden.
Ein echtes Problem, dem wir nur durch die Verwendung von vielen vielen
Decken und Kissen begegnen konnten. Wir schlossen dann irgendwann auf, als wir draußen keine
Stimmen hörten, verabschiedeten uns voneinander und gingen unserer Wege.
Ich stellte mich noch einmal für eine Wurst an und kam rechtzeitig
wieder, um mitzuerleben, wie einige Mütter den Raum mit unserem
Meisterwerk besichtigten und sich darüber ausließen, wie kreativ Kinder
heutzutage sind. Ich enthielt mich jedes Kommentars. Aber ansonsten war meine Zeit im Kindergarten ereignislos.
Ich lernte dort einige Dinge, die ich für mein Leben gebraucht habe. Das
Spielen von Kinderspielen auf der Wiese habe ich schon erwähnt. Außerdem
kann ich Lampions bauen und die gängigsten Lieder dazu singen. „Laterne,
Laterne, Sonne, Mond und Sterne.“ ist nur eines von vielen Liedern, die
mir noch ab und an im Kopf herumschwirren. Ich war am Ende meiner
Kindergartenzeit in der Lage, aus etwas Laub und Papier und vielen
vielen Farben eine Menge Sauerei zu erzeugen, und ich konnte alleine auf
das Klo. Andere Kompetenzen sind mir leider wenig beigebracht
worden. Man sagt zwar, es gäbe Kinder, die sogar schon vor dem Eintritt
in die Schule halbwegs erträglich lesen können. Ich gehöre nicht dazu.
Mein Gehirn war leer wie ein weißes Blatt Papier, was die Kunst des
Schreibens anbetraf, bevor ich die Schule betrat. Mein bester Freund aus Kindergartentagen, an den ich mich
sehr eng gebunden hatte, zog später einfach so fort. Sein Vater war,
wenn ich mich recht erinnere, am Theater beschäftigt und ging auf der
Suche nach einer besseren Anstellung. Heute noch erwische ich mich ab
und an dabei, wie ich sein Bild anschaue und irgendwie die gemeinsamen
Spiele vermisse. Ich hatte schon immer viel Phantasie, und da unsere
Wohnsiedlung relativ neu war und nahe am Wald lag, hatten wir viele
Möglichkeiten zum Spielen. Uns kam auch entgegen, dass einige der
Nachbargrundstücke nicht bebaut waren. Wir konnten also dort spielen und
herumtollen, wie es uns Spaß machte. Und da überall Gleichaltrige
aufwuchsen, hatten wir auch genug Spielkameraden. Es war wie das Leben
in einem verwunschenen Königreich, dessen Grenzen nur in die eine
Richtung von einer bösen, großen Straße begrenzt waren. In die andere
Richtung kam man schon nach einigen Minuten Laufens in einen großen
Wald. Ich habe diesen Wald geliebt, tue es heute noch. Findige Menschen
hatten dort nämlich einen Spielplatz angelegt, der aus einem großen
Indianerlager und einem Fort für Cowboys bestand. Heute weiß ich
natürlich, dass man einfach um die Palisaden herumgehen muss, um im
Inneren des Forts zu stehen. Damals sind wir ich weiß nicht wie oft über
die Holzbrücke gestürmt, um von den Cowboys zurückgeschlagen zu werden.
Oder aber wir verteidigten die Holzbrücke, während Horden von
Indianerkriegern versuchten, sich unseren Skalps zu nähern. Aber auch die anderen Anlagen waren wunderschön. Es gab
eine Rutschbahn, die in einem wunderschönen Sandhaufen endete. Und es
gab einige Klettergerüste, Schaukeln, Wippen und was das Herz eines
Kindes sonst noch begehren könnte. Etwas weiter draußen gab es dann noch ein Gelände, auf dem
später ein Sportverein seine Tennisplätze bauen sollte. Doch davor war
es wunderschön geeignet, dort mit Fahrrädern quer über die kleinen Hügel
zu heizen. Und ein kleiner Hügel bot sich ideal als Schlittenbahn an.
Wenn man genügend Schwung nahm, dann konnte man von der Spitze des
Hügels über einen kleinen Waldweg hinweg in eine große Baugrube
hineinfahren. In dieser Baugrube sollte Jahre später die Umgehungsstraße
gebaut werden. Aber aus irgendwelchen Gründen gab es dort nicht nur die
Trasse, die einige Meter tief durch den Wald verlief, sondern auch eine
Betonbrücke über diese Trasse. Und neben der Betonbrücke hatte man auf
einer Breite von einigen Metern den originalen Waldboden stehen lassen.
Die Bäume waren entfernt worden, richtig. Aber dafür hatte man jetzt
eine sandige Brücke zwischen beiden Seiten der Trasse. Man konnte also
an ihr entlang weiter Schlitten fahren, wenn man das wünschte. Man
konnte aber auch Löcher in den Sand bohren und sich darin verstecken.
Diese Tätigkeit habe ich erst eingestellt, als mir spazierengehende
Erwachsene mitteilten, es wäre dort ein Kind erstickt, weil es von einer
herabstürzenden Erdmasse eingegraben worden sei. Ich habe nie wieder in
Hängen gebuddelt. Also, irgendwie war das Gelände, welches meine Kindheit
umgab, sehr schön. Ich fühlte mich dort wohl, und da die große böse
Straße parallel zum Waldrand verlief, konnte ich zwischen Wald und
Straße ein relativ großes Gelände erforschen. Denn in diesem Streifen,
der durch Stichstraßen unterteilt war, kannte ich mich sehr gut aus.
Musste ich doch durch ihn hindurch, um den Kindergarten oder das
Gemeindehaus zu erreichen. Ich habe sicherlich alle möglichen Fußwege
ausprobiert, die mich von unserer Haustür bis zum Eingang der Gemeinde
führen könnten. Als mein Vater sich das Grundstück neben unserem Reihenhaus
gekauft hatte, um dort selber ein kleines Bürohaus hinzusetzen,
verwandelte sich dieses Grundstück bald in eine beginnende Baustelle.
Ich hatte dieses Gelände immer geliebt, liebe es eigentlich heute noch.
Es sah aus wie ein Tortenstück, eine Art eigenartiges Dreieck. An der
Kopfseite war das Ende die Rückseite einer Garagenfront, deren
Vorderseite dazu diente, unter anderem unser Auto aufzunehmen. Später
entstand hier vor den Garagen ein Fußweg, der an dem Bürohaus
vorbeiführt. Die beiden Schenkel des Dreiecks waren zur einen die wenig
befahrene Straße, zum anderen, ein kleiner Fußweg, der praktisch nur an
einem einzigen Grundstück entlang lief. Dieses Grundstück war der etwas
größer geschnittene Garten des Bewohners des ersten Hauses unserer
Reihe. Und in der Spitze des Tortenstückchens waren die Mülltonnen
für die Reihe hinter uns versteckt. In der Form eines „U“ hatte man hier
ein Areal gebaut, das sowohl links als auch rechts jeweils zwei Tonnen
beherbergte. Die Rückwand war einfach nur aus Beton. Zwischen diesem
Lager für Mülltonnen und der Rückseite der Garagen erstreckte sich
anfangs ein wunderschönes wildes Gelände. Und es wurde dort noch
interessanter, nachdem dort erste Baumaterialien gelagert worden waren.
Dort fand man dann Backsteine, ab und an mal übriggebliebene Nägel oder
Schrauben und immer wieder verbogene Metallbänder. Erst später habe ich
gelernt, dass Pappen oder auch schwerere Gegenstände damit festgezurrt
werden. Aber als Kind habe ich mich immer gefragt, warum diese
Metallbänder dort lagern. Einmal beschlossen wir auch, uns aus ein paar
herumliegenden Backsteinen ein Haus zu bauen. Wir hatten mit den unteren
Mauern auch noch viel Spaß, aber irgendwann wurde die Arbeit immer
hektischer und wir versuchten immer schneller, Steinreihe auf Steinreihe
für das imaginäre Haus hochzuziehen. Und bei einer dieser Aktionen geriet dann mein Daumennagel
zwischen zwei Backsteine. Erschwerend kam hinzu, dass der untere
Backstein nicht nachgeben wollte und der obere Backstein mit einem
schweren Gegenstand traktiert wurde. Meine Erinnerung gibt mir nur an,
ein Kind hätte auf den Backstein drauf geschlagen. Ich nehme an, dass
der Schmerz dementsprechend war. Denn ich verlor dabei einen Daumennagel
und durfte in eine sehr unangenehme Behandlung beim Arzt einziehen. Wenn
ich mich recht erinnere (oder richtig erzählt bekommen habe), so hat man
den Nagel schlussendlich gezogen und darauf gewartet, bis der richtige
Daumennagel nachwächst. Er ist nachgewachsen, aber ich hatte jahrelang
eine Delle im Nagel. Viele Jahre später sollte sich dieser ausgesprochen
widerliche Schmerz wiederholen. Auf einem der sommerlichen Treffen
unseres Fantasy-Vereins geschah es. Wir hatten uns für acht Tage auf
einem größeren Gelände in Nordfrankreich einquartiert. Dort gab es
Hütten mit Vier- oder Acht-Bettzimmern für unsere Unterbringung, einen
Speisesaal und einige große Räumlichkeiten, wo Programm stattfinden
konnte. Und einer der Programmpunkte war eine jeden Morgen
wiederkehrende Fitness-Veranstaltung. Man konnte, wenn man sich jeden
Morgen daran beteiligte, eine Reihe von exotischen Kampfsportarten
ausprobieren. Nun, ein Freund von mir hatte sich in einem Anfall
geistiger Umnachtung bereit erklärt, Karate vorzuführen. Und ich, der
ich nun wirklich weder ausgesprochen gelenkig noch ausgesprochen
sportlich bin, hatte mich bereit erklärt, als Sandsack zu funktionieren.
Das sollte eigentlich ganz einfach sein. Meine einzige Aufgabe wäre es
gewesen, still zu halten, während er Schläge und Würfe ansetzte. Und da
der Boden der Boden einer Turnhalle war, machte ich mir auch keine
Sorgen über einen eventuellen Fallschaden.Nun, wie auch immer, er hatte
am Abend vorher eine ganze Menge getrunken und wohl auch nicht sehr viel
geschlafen. Die beiden einzigen Teilnehmer und ich schlugen ihm vor, das
Karate-Training abzublasen und lieber ein paar Warmmachübungen zu
starten. Er war nicht einverstanden. Wir machten uns also warm, liefen
ein wenig in der Halle herum und machten einige erheiternde Freiübungen.
Dann wollte er an mir ein paar Bewegungen vorführen. Er hatte einen
richtig schönen Kampfanzug samt hässlichen weißen Turnschuhen an. Ich
trug auch eine Art fernöstlichen Kampfanzug, ein Überbleibsel meiner
zwei Wochen Training als Schüler einer solchen Disziplin. Und ich war
barfuß, weil ich das immer angenehmer für solche Übungen finde. Nun, er
machte erst einige Schläge, die mich doch wirklich nicht trafen. Dann
setzte er ein paar Hebel an. Auch diese verschonten mich – wie geplant.
Dann wollte er wohl einen ganz tollen Schlag vorführen, bei dem er alle
Kraft des Schlages und der zusätzlichen Körperdrehung in den rechten Arm
legen würde. Er riss also den rechten Arm nach vorne und sprang in einen
anderen Stand. Dabei kam das vordere Bein nach hinten und das hintere
Bein nach vorne. Sein Schlag verfehlte mich, aber er sprang volle Kanne
mit seinen dicken weißen deutschen Turnschuhen auf meinen nackten Fuß.
Ein schrecklicher Schmerz durchzuckte mich. Ich fand mich auf dem Boden
wieder, auf dem ich herum rollte und mit beiden Händen meinen blutenden
Fuß und meinen zersplitterten Nagel hielt. Dann kam er zu mir, beugte
sich über mich und blies mir seine Fahne ins Gesicht. Sein nächster Satz
war klasse. „Bei einem echten Training müsstest Du jetzt aufstehen und
weitermachen, oder Du dürftest Dich wochenlang nicht beim Training
blicken lassen!“ Ich schwöre es: Hätte ich laufen können, ich hätte ihm
in die Eier getreten. Aber ich war damit beschäftigt, mich
rollenderweise auf dem Boden herumzutummeln. Geheult habe ich auch, und
ich war ziemlich am Ende. Er kümmerte sich nicht um mich, aber die
beiden anderen Teilnehmer überwanden irgendwann ihre Verblüffung und
trugen oder schleppten mich zum diensttuenden Sanitäter. Hier begann nun mein Glück im Unglück. Dieser Sanitäter
hatte schon mehrmals Fußnägel selber gezogen bekommen und auch selber
gezogen, und er bescheinigte meinen übriggebliebenen Nägelstümpfen eine
Stabilität, die ich ihnen selber nicht zugetraut hätte. Er meinte, das
würde schon wieder nachwachsen und sei mit einem vernünftigen Verband zu
retten. Ich hatte mich schon wieder wie ein Kind gefühlt und
schreckliche Angst davor gehabt, jetzt bei einem französischen Arzt mir
meinen Fußnagel ziehen zu lassen. Dazu muss man wissen, dass ich außer
„Baguette“ kein Wort französisch sprechen kann, und natürlich auch, dass
ich aus verständlichen Gründen schreckliche Angst vor dem Entfernen von
Nägeln habe. Nun, der Nagel wuchs wirklich wieder raus. Ich habe heute
noch einen Strich durch den Nagel, und man konnte einige Wochen lang den
Abdruck seiner Sohlen auf meinen ganzen Fußnägeln dieser Seite und auf
dem Rest des Fußes sehen. Irgendwie ist mir bei den Erzählungen aller meiner
Bekannten klar geworden, dass Familiengeschichten sich immer gleich
anhören, egal wer sie erzählt – schlecht. Ich will da bei meiner Familie
erst einmal keine Ausnahme machen. Drei meiner vier Großeltern habe ich
nicht mehr erlebt, sie starben lange vor meiner Geburt. Ein Großvater
fiel in den letzten Tages des Kriegs, die Eltern meines Vaters starben
in den Jahren nach dem Krieg an Krebs. Meine Oma, die Mutter meiner
Mutter, lebt noch, hat inzwischen ein biblisches Alter erreicht und
erfreut sich einer guten Gesundheit. Sie war für mich in den ganzen
Jahren meiner Kindheit und Jugend ausgesprochen wichtig. Nicht nur, weil
sie eine ausgesprochen beeindruckende und intelligente Frau ist. Nein,
sondern weil sie – was für mich als Kind sehr wichtig war – in einer
kleinen Stadt wohnte, die als Kurort eine gewisse Karriere gemacht
hatte. Dort wohnte sie in den letzten Jahrzehnten nur in drei Wohnungen,
die also maximal fünfhundert Meter voneinander entfernt sind. Erst zur
Untermiete bei einer freundlichen älteren Dame, dann vielleicht dreißig
Meter weiter bei ihren beiden noch lebenden Schwestern. Meine Familie
scheint in dieser Generation sehr fruchtbar gewesen zu sein, denn meine
Oma hatte einen Stall von Schwestern und Brüder. Zwei Schwestern habe
ich bewusst noch miterlebt, die eine starb, als ich relativ jung war.
Die andere war immer meine Lieblingsgroßtante, eine ehemalige Hebamme.
Viele Geschichten über sie und ihre Tätigkeit als Hebamme in den
Kriegsjahren und kurz danach habe ich leider viel zu spät erfahren; zum
Teil von meiner Mutter, zum Teil von meiner Tante, der Tochter ebenjener
Großtante. Nun, ich hätte sie bei vielen Dingen einfach gerne noch mal
gefragt, und mir Details zu den Geschichten geben lassen. Aber ich bin
gerne bereit zu glauben, dass all das, was man mir erzählt hat, wirklich
passiert ist. Es klingt im Zusammenhang mit ihr, die ich immer als stark
und mutig erlebt habe, ausgesprochen glaubhaft. Von meiner Großmutter lebte sonst nur noch ein Bruder, ein
ehemaliger Förster. Auch er wohnte in derselben kleinen Stadt, in einem
wunderschönen Haus, das so aussah, als hätte man es von der Mitte eines
großen Waldes dorthin versetzt. Er war etwas vierschrötig, fast schon an
der Grenze zum garstig sein. Und er hatte überhaupt keine Hand für
Kinder. Aber einmal hat er meinen Bruder und mich wirklich aufgeheitert,
als wir – beide schon mindestens 14 – zusahen, wie er mit brennender
Zigarre im Mund den Tank eines Rasenmähers aufschraubte und hinein
linste, ob noch Benzin drin sei. Wir sind beide zurückgesprungen und
fanden uns atemlos hinter einer Hecke wieder, während mein Großonkel in
aller Ruhe den Deckel wieder auf den Tank schraubte und uns
verständnislos an. Wir haben eine Menge gelacht über diesen Zwischenfall
– jedoch wohl ohne, dass er verstanden hätte, über was wir lachen. Die beiden Geschwister sind heute auch schon eine Weile
lang tot, und trotzdem erwarte ich jedes Mal, wenn ich meine Großmutter
besuchen komme, sie um die Ecke kommen zu sehen. Meine Großmutter ist dann nach dem Tode ihrer Schwester in
ihr ehemaliges Geburtshaus gezogen, welches inzwischen einem ihrer
Neffen gehört. Dort hat sie eine Wohnung, die sich über zwei Geschosse
erstreckt. Im oberen sind zwei Schlafzimmer für Gaste (eines mit einem
Ehebett, eines mit einem einzelnen Bett), sowie ihr Schlafzimmer und ein
großes Bad. Im unteren sind das Wohnzimmer, die Küche und eines kleines
WC. Im Keller lagern dann Kartoffeln und einiger Plunder. Nebenan wohnte bis zu seinem Tod ihr Neffe, ein Nenn-Onkel
von mir. Okay, seine Kinder sind meine Vettern zweiten Grades, aber ich
glaube, dass es keine präzise Bezeichnung für unser
Verwandtschaftsverhältnis gibt. Jetzt wohnen da noch seine Witwe, und
ihre beiden Söhne, die sich aber am Beginn einer Schullaufbahn als
Lehrer befinden. Hoffe ich zumindestens. Meine eigene Familie ist dagegen schnell weiter erklärt. Da
gibt es meine Eltern. Einen Vater und eine Mutter, beide noch am Leben,
beide halbwegs gesund. Und dann habe ich noch zwei Geschwister, einen
Bruder und eine Schwester. Irgendwie fällt es mir schwer, etwas direkt
über die vier zu schreiben. Meine Oma ist mir nahe und doch fern. Ich
habe sie sehr gern und sie steht mir in vielen Dingen nahe. Aber sie ist
doch als Mutter meiner Mutter und mit ihrem entfernten Wohnort doch so
weit von mir entfernt, dass sie eher direkt zu beschreiben ist als über
ihre Wirkung auf mich. Bei meinen Geschwistern und meinen Eltern ist das
schwierig. Die wirken irgendwie einfach oft in Wechselwirkung mit mir.
Wie soll ich meine Eltern beschreiben, ohne dabei ausführlich mich
selbst zu beschreiben? Und wie soll ich meine Geschwister beschreiben,
ohne dabei eine Menge über mich selbst zu sagen? Ich halte das für
unmöglich. Vielleicht fällt es mir irgendwann in der Zukunft leichter,
oder ich bin einfach irgendwann in der Lage, an einem anderen Punkt über
sie zu schreiben. Jetzt auf jeden Fall nicht. Einen wichtigen Wegbegleiter habe ich vergessen. Er hat
mich mein Leben lang begleitet, und tut es immer noch. Deswegen sei er
erwähnt. Mein Teddybär. Ich wurde im Frühjahr geboren, und als ich etwas
über neun Monate alt war, war es wieder einmal Zeit für Weihnachten. Ich
fand Weihnachten als Kind immer ein schönes Fest, und auch heute noch
bin ich gerne zu Weihnachten zu Hause. Dies mag daran liegen, dass es
die einzige Zeit im Jahr ist, wo meine Geschwister alle zu hause sind
und wir gemeinsam mit der Familie Weihnachten feiern. Natürlich hat Weinachten auch was mit dem Essen von Enten,
dem Singen von Weihnachtsliedern und dem Auspacken von Geschenken zu
tun. Ich konnte mir als Kind schon nicht richtig vorstellen, dass sich
ein dicker Herr mit einem roten Mantel und Pelzbesatz am Kragen durch
unseren Kamin quetschen soll. Besonders, da wir keinen Kamin hatten.
Aber die Idee mit den Elfen und den kleinen Rentieren fand ich klasse.
Irgendwie schnuckelig. Als ich viel später in einem Bilderbuch, das
Tolkien für seine Kinder gemalt hatte, diese Elfen wiederfand, war ich
ausgesprochen glücklich. Und ebenjene Elfen schenkten mir zu meinem ersten
Weihnachtsfest meinen Teddybären. Und dieser Teddybär war seitdem immer
mit mir zusammen und hat nach mir geschaut. Wenn ich als Kind anhörte,
wie mein Vater laut wurde, dann lag ich im Bett und hielt meinen
Teddybären umklammert. Wenn ich wieder einmal für irgendwas getadelt
worden war, dann legte ich mich mit meinem Teddybären ins Bett. Wenn ich
abends einen Gruselfilm gesehen hatte oder große Schmerzen hatte, nahm
ich meinen Teddybären in den Arm. Er zog bis jetzt jedes Mal mit mir um,
und obwohl inzwischen seine Fußsohlen und seine Handinnenflächen
repariert werden mussten, so bin ich doch immer noch mit ihm zusammen,
wenn mich die Angst packt. Er kann zwar nicht mehr brummen, wenn man ihm
in den Bauch drückt, aber er hat immer noch dieses Fell, das so
wunderschön an der Wange reibt, wenn man ihn an sich drückt. Und
irgendwie riecht er gar nicht nach Holzwolle und Glasaugen, sondern nach
Kuchen und heißer Milch mit Honig. Nicht nur Weihnachten gehörte zu meinen frühesten
Erfahrungen. Die Kirche in der Nähe habe ich schon erwähnt, und so ist
es wohl kaum überraschend, wenn ich auch getauft worden bin. Inzwischen
wohne ich wieder näher an meiner Taufkirche, als ich es jemals in meinem
Leben vorher getan habe. Und das lenkt natürlich die Gedanken auf die
eigenen Paten. Nun, ich hatte Glück. Drei Paten sind mehr als die
meisten anderen Kinder haben, und was macht es schon, wenn sich einer
der drei später als spanischer Mafiosi herausstellt. Aber er hatte immer
schöne Geschenke für mich, so z.B. einmal ein fernlenkbares Auto.
Mithilfe der mir von meinem Schöpfer vererbten technischen Fähigkeiten
habe ich nicht mehr als drei Tage gebraucht, um es völlig unbrauchbar zu
machen. Nun, dieser Pate verschwand auf jeden Fall aus meinem Leben.
Meine Patin ist inzwischen Professorin für Musik, und wir sehen uns noch
ab und an, da sie auch eine alte Freundin meiner Mutter ist. Und meinen
Patenonkel habe ich schon seit Jahren nicht mehr gesehen. Er lebt wohl,
war auch mit meiner Patin bei meiner Konfirmation da. Aber wie alle
Traditionen sind auch diese ach so christlichen Traditionen aus der Mode
gekommen. Ich kann immer nicht verstehen, wenn Leute zum Beispiel im
Fernsehen darüber klagen, dass unsere gemeinsame christliche Kultur aus
den Fugen geht. Ich habe nicht den Eindruck, dass da irgendwas aus den
Fugen geht. Ich habe nur den Eindruck, dass es vorher schon nicht fest
war und jetzt einfach das wirkliche Bild dem tatsächlichen Bild
angepasst wird. Meine Beobachtungen, die ich in Bezug auf meine eigenen
Paten gemacht habe, lassen sich nebenbei auch auf die Paten meiner
beiden Geschwister übertragen. Wenn ich mich recht erinnere, hat mein
Bruder auch drei Paten. Einen Onkel, der denselben Namen trägt wie er
und nachdem er wohl benannt ist. Wir sind mit dieser Familie zwar weder
verschwägert noch verwandt, aber da sie früher in derselben Straße
gewohnt haben wie die Eltern meines Vaters, lernte man sich durch das
Vorbeibringen der falsch zugestellten Post näher kennen. Nun, auch mein
Bruder erhielt nur einen Vornamen. Damit wird bei uns in der Familie
immer etwas gespart, so als wären sie ein teures Gut, was nur unter
größten Mühen auf Kinder weitergegeben werden kann. Naturreligionen wie viele Heiden glauben daran, dass Namen
eine eigene Magie enthalten. Vielleicht ist das der Grund, warum wir nur
einen Vornamen erhalten haben. Das ich nach meinem Vater, der nach
seinem Vater und dieser wiederum nach seinem Vater benannt worden ist,
erlaubt es mir immerhin rein theoretisch, eine römische Vier hinter
meinen Namen zu setzen. Mein Bruder hat diese Ausweichmöglichkeit nicht.
Wie auch immer, von seinen drei Paten starb eine Patentante, eine
Freundin meiner Mutter, als mein Bruder noch sehr jung war. Einen habe
ich eben genannt und der dritte ist mir entfallen. Auch ein Indiz. Meine
Schwester hat auch wieder einen Vornamen und drei Paten. Ihre
Patentante, eine freundliche Dame die auch um einige Ecken mit meiner
Mutter und meiner Oma verwandt ist, machte vor einigen Jahren im
Familienkreis dadurch auf sich aufmerksam, dass sie ihren Vornamen
geändert haben wollte. Durch den Austausch eines einzelnen Vokals wollte
sie wohl der Welt deutlich klarmachen, dass sie sich auch verändert
habe. Nun, ich bin gerne bereit diese Veränderung in die richtige
Richtung völlig zu attestieren. Aber ich kann nicht verstehen, warum
jemand, den ich über zwei Jahrzehnte mit einem Namen angeredet habe, auf
einmal darauf besteht, von mir mit einem anderen Vornamen angesprochen
zu werden. Naja, ich glaube, sie hat mir inzwischen dafür verziehen,
dass ich ihren Vornamen gehörig verballhornt habe. Ein weiterer Pate, dieses Mal männlich, war ein
Geschäftsfreund meines Vaters, der zum Glück aus unserem Leben
verschwunden ist. Aber was hat meine Schwester ihm getan, die doch an
ihrer eigenen Taufe völlig unschuldig ist und die sich sicherlich über
eine Karte zu ihrer Konfirmation gefreut hätte? Doch Garnichts. Aber
wahrscheinlich sind das dieselben Leute, die sich auch darüber aufregen,
das unsere Kultur den Bach runtergeht. Aber das Schreiben einer einzigen
Glückwunschkarte überfordert sie wahrscheinlich immens. Schon als Kind hatte ich ein leicht intellektuelles
Aussehen. Der Grund war eine ausgesprochen hässliche Kassenbrille, die
ich bekam, um mein Schielen zu korrigieren. Nun, schielen tue ich heute
nun wirklich nicht mehr. Und die meisten Leute, die mir einen
Silberblick attestieren könnten, bleiben glücklicherweise an meinen
wunderschönen Wimpern hängen und können überhaupt nicht weiter schauen.
Zu meiner Rettung, wie ich einmal vermuten darf. Denn ich habe immer
noch einen etwas schrägen Silberblick. Überhaupt fühlte ich mich zu allen Zeiten, eigentlich bis
heute, nicht hübsch. Man erzählte mir, ich hätte leichte X-Beine. Als
Kind war ich eine Zeitlang davon begeistert, als ich mitbekam, dass
amerikanische Superheldenserien sich wohl meistens dadurch auszeichnen,
dass sie mit einem X beginnen. Doch als ich herausbekam, dass weder
X-Menschen noch X-Mutanten entsprechende Beine hatten, war ich etwas
enttäuscht. Wenn Herr Röntgen sich hätte entschließen können, etwas mehr
Selbstbewusstsein zu haben, dann hätten diese Gruppen wahrscheinlich
heute den Namen Röntgen-Mutanten, und ich hätte mir wegen meiner Beine
keine Illusionen machen müssen. Meine Füße sind sehr groß, und obwohl mein Vater und mein
Bruder größere Schuhgrößen haben, müsste ich mir von Elbkahn bis
Kindersarg alles über meine Schuhe anhören. Ich fand zwar die Idee, das
Zwerge in meinen Schuhen hätten Schiff fahren können, von einem
verzückten Standpunkt aus ziemlich amüsant, aber ich glaube nicht
ernsthaft, dass ich mit dem anderen Schuh alleine mich hätte fortbewegen
können. Meine Hände sind zu lang. Mein Kopf ist zu groß. Sogar so
groß, dass ich heute noch Schwierigkeiten habe, mir einen passenden Hut
zu kaufen. Meine Haare wurden erst lockig, als ich sie lange wachsen
ließ. Davor waren sie kurz und hässlich. Mein Gesicht ist etwas asymmetrisch, meine Nase ist
gebrochen und daher etwas schief. Meine Großmutter, die an dem Unfall
mit meiner Nase schuld war, macht sich bis heute Vorwürfe. Wenn ich das
richtig verstanden habe, so ist wie mit dem Kindergarten spazieren
gefahren, und aus einer Ausfahrt kam ein Mann mit ein paar Kisten auf
dem Arm. Da er wegen der Kisten nichts sehen konnte, meine Großmutter
aber sowieso einige Schwierigkeiten mit dem sehen hatte, fiel er über
den Kinderwagen. Ich fiel auf die Straße, blieb unverletzt und bekam
eine der Kisten mit Zwiebelmuster-Kannen auf die Nase. Und gebrochen.
Und da man solche Sachen erst dann operieren kann, wenn das Kind
ausgewachsen ist, habe ich viele Jahre meines Lebens mit einer
gebrochenen Nase, Schwierigkeiten beim Atemholen und Nasentropfen leben
müssen. Wenn man mich beim Schwimmen getunkt hat, bekam ich
Erstickungsanfälle. Wenn ich nachts mit Schnupfen aufwachte, bekam ich
Erstickungsanfälle. Aber hätte man mir vorher gesagt, wie viel Stress
eine Nasenoperation bedeutet und wie schmerzhaft das Entfernen der
Tampons aus der Nase ist, dann hätte ich mir sicherlich wenig Sorgen
über diesen Schmerz gemacht und relativ unbeschwert alle meine Angst und
Schmerzen für die Operation aufgehoben. Habe ich schon meine riesigen Ohren erwähnt? Und meine
Augen, die je nach Laune und Licht ihre Farbe von Braun zu Grün und
umgekehrt wechseln können? Und meine schiefen Zähne, die ich mir erst
als Erwachsener habe mit einer Zahnspange richten lassen? Und ich bin zu
groß und wirke immer schlaksig und unterernährt. Wer kann sich also
Jahre später meine Verwunderung nicht vorstellen, als sich tatsächlich
Frauen für mich zu interessieren begannen. Und sogar hübsche Frauen ohne
Augenfehler. Ich war hingerissen. Schon früh begann ich damit, meine Defizite beim Aussehen
durch ein Training meiner Sprache auszugleichen. Ich war in mehr als
einer Sprachtherapie, weil meine Sprache verwaschen klang. Man erklärte
mir später, das läge daran, dass mein Unterkiefer zu klein für meinen
Kopf sei. Nun, ich war gerne bereit das zu glauben. Besonders später war
ich noch mehr bereit, dieser unhaltbaren Theorie zuzustimmen, weil es
mich per Attest davon abhielt, mich der französischen Sprache zu nähern.
Die diversen Nasallaute und anderen obskuren Geräusche waren für
jemanden mit einer gebrochenen Nase und zu kleinem Unterkiefer
unaussprechbar. Aber andere Dinge konnte ich lernen. Ich hörte viel zu, und
war relativ bald in der Lage, flüssig zu sprechen. Nur lesen konnte ich
nicht. Irgendwann war sogar ich in der Lage, eingeschult zu
werden. Nun, der Kindergarten gab noch ein rauschendes Abschiedsfest,
und wir wurden nach einem wunderschönen Sommer eingeschult. Mein erster
Schultag war eine Katastrophe. Mein Vater war sehr krank und nicht in
der Lage, an meiner Einschulung teilzunehmen, obwohl er sich so darauf
gefreut hatte. Den ganzen Morgen verbrachten wir also zuhause mit
Streiten und diversen Versuchen, uns auf diesen Tag vorzubereiten.
Natürlich war meine Stimmung beim Gang in das Schulgebäude irgendwo
unter dem Nullpunkt, und ich vermute mal sehr stark, dass meine Umwelt
das auch zu spüren bekommen hat. Es gibt ein wunderschönes Foto von
meiner Einschulung. Meine Mutter steht mit einem ziemlich verheulten
Gesicht neben mir, ich selber sehe aus, als wäre ich gerade vorher
gezwungen worden, einen Liter Lebertran in mich hineinzufressen. In
kurzen Worten: unerträglich. Die ersten Schultage waren für mich eine Qual. Im Gegensatz
zu anderen Kindern konnte ich noch keinen Buchstaben erkennen und
weigerte mich auch ziemlich lange standhaft, Lesen zu lernen. Dazu kam,
dass die Lehrerin meiner ersten beiden Grundschuljahre ein
ausgesprochenes Ekel war, die einen Mitschüler sogar immer wieder unter
der Treppe in einem kleinen Verschlag einsperrt, wenn der wieder einmal
aufsässig war. Und Schläge mit dem Lineal gehörten auch zu dem von ihr
praktizierten Erziehungsstil, genauso wie das Herumbrüllen mit uns
kleinen Kindern. Ich lernte also nicht lesen. Aber ich entdeckte die
Möglichkeiten, die das Fernsehen bot. Und im Gegensatz zu anderen
Kindern hatte ich zwei Eltern, die tagsüber erstaunlich wenig fernsahen.
Sogar mein Vater war clean von der Sportschau, und so konnte ich
Samstagmittag – wie überhaupt das ganze Wochenende – relativ frei über
den Fernseher verfügen. Und da kam doch wirklich am Samstagmittag eine
Fernsehsendung mit obskuren Außerirdischen und einem Offizier mit
spitzen Ohren – „Raumschiff Enterprise“. Ich hatte zwar entsetzliche
Angst, wenn Klingonen auftauchten, und nahm den Kragen meines grauen
Pullis zwischen die Zähne und nuckelte darauf herum, bis ich durch war –
aber die Sendung hatte mich begeistert. Meine Mutter versuchte nun
verzweifelt, mir klarzumachen, dass „Raumschiff Enterprise“ nicht
andauernd und jeden Tag gezeigt wird, sondern nur Samstags. Ich glaubte
ihr nicht. Dieses Misstrauen führte dazu, dass ich mir drei Dinge
aneignete, um mit meiner Mutter konkurrieren zu können. Erstens lernte
ich lesen, um in die Fernsehzeitung schauen zu können. Zweitens lernte
ich, die obskuren Zahlenangaben in der Fernsehillustrierten mit den
Zeigern der Uhr in Verbindung zu bringen. Und drittens merkte ich, dass
man durch Lernen und Intelligenz sogar Respektpersonen wie die eigene
Mutter austricksen kann. Ich hätte meine Fähigkeiten entdeckt. Die Grundschulzeit wurde für mich erst angenehmer, als nach
der zweiten Klasse eine neue Lehrerin uns für zwei Jahre übernahm. Diese
Frau war wesentlich angenehmer als ihre Vorgängerin, und hier wurden wir
auch nicht eingesperrt. Dafür hatte sie die ausgesprochen störende
Angewohnheit, bei allen Geburtstagsfeiern „Wenn die bunten Fahnen wehen“
singen zu lassen. Ein lässlicher Fehler. Meine Grundschule lag auch in dem Areal, in dem wir
wohnten, und zwar einige Minuten zu Fuß in Richtung Wald. Wenn man es
geschickt anstellte, brauchte man nur eine Nebenstraße zu überqueren und
kam dann an einem Spielplatz vorbei zur Grundschule. Sie lag sehr schön, mit einem großen Hof und einem schönen
Spielplatz. Der Spielplatz sollte mir im Gedächtnis bleiben, weil ich
dort immer von einem türkischen Mitschüler zusammengeschlagen worden
bin. Ich bin kein großer Kämpfer, deshalb habe ich mich nie gewehrt. Es
waren meine Mitschüler und meine Mutter, die es ihm austrieben. Wir
wurden dann beste Freunde, und er übernahm es, mich vor anderen Kindern
zu schützen, die sich von mir geärgert fühlen. Mir war erst Jahre später
klargeworden, dass er Türke war. Es hat mich nie gestört oder
verwundert, er war halt stärker als ich und hat mich geschlagen. Ich bin
oft genug auch von Deutschen verprügelt worden, von daher, machte es
wenig aus, wenn mal ein sogenannter Ausländer darunter war. Die Schläge
taten genauso weh, und mein Widerstand war genauso wenig vorhanden wie
in den anderen Fällen. Nur war es der Türke, der mich nachher half, vor
den anderen Kindern sicher zu sein. In der Grundschule lernte ich nicht nur lesen und schreiben
– mit einer grässlichen Handschrift –, sondern auch die Grundzüge des
Bastelns. Ich sollte ehrlichkeitshalber wirklich von den Grundzügen
sprechen, weil über mehr als diese Anfangsfähigkeiten bin ich nie
hinausgekommen. Mein kleiner Bruder war das manuelle Genie der Familie,
ich hatte zwei linke Hände. Nun, ich war jahrelang deswegen auf ihn
eifersüchtig, aber mit steigendem Alter hat sich das dann doch etwas
gelegt. Zum Glück. Es ist halt schon ärgerlich, wenn man zusammen mit dem
Bruder jeweils einen Papierbastelbogen für Burgen geschenkt bekommt. Und
wenn dann der eigene Bruder doppelt so lange für die Fertigstellung der
Burg braucht, wie man selbst. Aber leider erkennen Eltern dann relativ
schnell, dass meine Zeitersparnis nur durch das Einsparen von Zinnen,
Söllern und kleineren Anbauten entstanden ist. Die Stellen, an denen
diese angeklebt werden sollten, hatte ich immer mit grauem Filzstift
übermalt, damit sie aussahen wie Schindeln, oder mit braunen und roten
Stiften, wenn sie wie Mauersteine aussehen sollten. Also lernte ich
früh, mich mit Schummeln über Wasser zu halten. Leider wurde diese
wertvolle Fähigkeit nicht in dem Maße honoriert, wie ich sie gerne
honoriert bekommen hätte. Im letzten Schuljahr der Grundschule wurde das Gebäude für
mich und den geburtenstarken Jahrgang, aus dem ich hervorgegangen war,
zu klein. Für die meisten Unterrichtsstunden – außer Sport und Werken,
wenn ich mich recht erinnere – zogen wir mit den anderen Klassen unseres
Jahrgangs in eine Haupt- und Realschule um, die einige Straßen weiter
lag. Deren Gebäude waren bei weitem nicht so schnuckelig wie die
Gebäude der anderen Schule, und ich konnte mich dort in dem einen Jahr
viel weniger einfinden, als in der alten Grundschule. Vielleicht lag
dies daran, dass wir dieses Jahr nicht verdientermaßen die ältesten auf
dem Schulhof der Grundschule waren. Immerhin hatten wir uns auf diesen
Zustand lange genug gefreut. Nein, wir waren die jüngsten auf einer
völlig anderen Schule, auf deren Hof es rauer zuging. Und dieser Hof war
auch mit einem schrecklichen teerigen Belag bedeckt, so dass hier jeder
Fall sehr schmerzhaft war. Nicht, dass ich von alleine gefallen wäre.
Aber das eine oder andere Mal wurde ich von diversen unfreundlichen
Mitschülern gefallen. Keine angenehme Erfahrung, wenn ich dies hier mal
kurz einbinden darf, aber eine sehr lehrreiche. Ich lernte hier, mich in
der Öffentlichkeit zurückzuhalten. Andere Kinder mögen ihre Kämpfe um
die Frage führen, wer die Kontrolle über den Schulhof hat. Ich stand in
meiner Ecke, kickte leere Blechdosen, plauderte oder las. Aber auf
keinen Fall nahm ich an diesen Spielchen teil. Später würde mir das schaden, weil ich irgendwie immer
neben dem Strom der Entwicklung der anderen Kinder stand, statt in ihn
hineinzutauchen. Damals war es mir egal, und ich habe es locker
ertragen. Ich war sehr froh, als meine Grundschulzeit vorbei war. Man
hatte vorher schon herausbekommen, welche Kinder wohin weitergeleitet
werden sollten. Manche kamen auf die Hauptschule, manche auf die
Realschule und einige Auserwählte durften darauf hoffen, auf das
Gymnasium verwiesen zu werden. Nun, einige Auserwählte trifft es nicht,
es dürfte fast die Hälfte der Klasse gewesen sein. Damals war es üblich,
die Kinder aufs Gymnasium zu schicken. Nicht wie heute, wo jeder eine
vernünftige Lehre machen soll. Nein. Damals sollte jeder sein Abi machen
und später studieren können. So auch ich. Ich hatte – begünstigt durch die Lage meines Wohnortes –
die Wahl zwischen mehreren Gymnasien. Eines war konfessionell geleitet
und genoss einen Ruf als streng und elitär. Da wollte ich nicht hin.
Blieben zwei weitere Schulen. Mein Vater hatte einen seiner
ausgesprochen hellen Momente, lud meinen Bruder und mich ins Auto und
fuhr beide Schulen besichtigen. Die eine Schule war in der Stadt und
ausgesprochen hässlich. Diese Schule war auch nur Gymnasium. Die andere
Schule lag in die Gegenrichtung, etwas auf dem Land dafür wunderschön
gelegen. Und es war eine integrierte Gesamtschule, mit Schulformen vom
Kindergarten bis zum Gymnasium. Und es gab dort Bäume, schöne offene
Schulhöfe und viele Säulengänge. Ich war begeistert. Praktische
Erwägungen kamen bei meinen Eltern hinzu, wie die Überlegung, dass mein
Bruder auf einer Förderstufe besser aufgehoben wäre, weil im Moment noch
nicht klar war, ob er sofort nach der Grundschule das Gymnasium packen
würde. Er war (und ist) nämlich Legastheniker, und irgendwie hoffte man
darauf, dass die neue Schule dieses Problem eher lösen würde. Wir wählten also die Schule in der Tundra. Die Förderstufe war für mich eine sehr schöne Zeit. Die
Schule, praktischerweise Schuldorf genannt, hatte einen freundlichen
Charakter. Mir tat es gut, dass hier – bis auf die drei Kursfächer
Mathe, Deutsch und Englisch – alle Schulformen in einer Klasse saßen.
Und mir tat es auch gut, dass drei meiner besten Freunde mit dieser
Option gewählt hatten. Viele anderen, gerade auch die, welche bei uns in
der Gegend gewohnt hatten, hatten sich nämlich für die Stadt
entschieden. Mir kam es sehr entgegen, dass ich jeden Morgen auf dem Weg
zur Schule unverhinderbarerweise mit einem meiner Freunde zusammentraf,
wir zwei dann gemeinsam den zweiten Freund abholten und wir drei Männer
dann ebenso unverhinderbarerweise an der Straßenbahnstation der vierten
im Bunde, einem Mädchen, begegneten. Die Fahrten zur Schule haben wir
immer weidlich ausgenutzt. Später spielten wir „Pflicht oder Wahrheit“,
erzählten uns Geschichten oder machten die Hausaufgaben. Nun,
Hausaufgaben machen ist wohl gelogen. Wir haben sie voneinander
abgeschrieben, weil es natürlich viel praktischer ist, wenn nur einer
die Aufgaben macht. Und da es eine Straßenbahn war, hat sie bei weitem
auch nicht so sehr gewackelt wie Busse das normalerweise tun. Denn dort
ist das Abschreiben fast unmöglich – eine Art von Skandal, denn andere
Kinder konnten natürlich nicht in demselben Maße wie wir unsere
Hausaufgaben nachschieben. Ich bin diese Strecke dann neun Jahre lang jeden Tag mit
der Straßenbahn gefahren, von meinem ersten Jahr in der Förderstufe bis
zu meinem letzten Jahr in der Oberstufe. Ich hatte zwar später die
Möglichkeit, erst mit dem Fahrrad, dann mit dem Mofa, dem Moped und dem
Auto zu fahren. Aber irgendwie blieb die Straßenbahn (oder Elle, wie wir
sie liebevoll nannten) immer meine erste Wahl. Elle steht angeblich kurz
für Elektrische, und die Straßenbahn war und blieb immer meine große
Liebe. Ich fahre auch heute noch, wenn ich in fremden Städten bin,
irrsinnig gerne mit dem Nahverkehrssystem herum. Einfach, weil es mir
tierischen Spaß macht, die Straßenbahnlinien fremder Städte
auszuprobieren. Oder die U-Bahn. Oder – wenn es unbedingt sein muss –
auch die Busse. Nebenbei: die schönsten Bahnen fahren in Wien, weil die
nicht nur unterirdisch verkehren, sondern zum Teil auch überirdisch über
höher gelegte Gleise. Ein echter Genuss. Im Lauf der Jahre veränderte sich die morgendliche
Fahrstrecke. So wie sich manche Rosenarten an Holzgeflechten
emporranken, so verändert sich auch das Straßenbahnnetz. Wie die Arme
einer Kletterrose greifen die Schienen ins Land. Ich ging jahrelang von
einem stetigen Wachstum der Straßenbahnschienen aus, von einer
andauernden Vervollkommnung und Verbesserung des Netzes der Schienen.
Dann musste ich auf einmal feststellen, dass die Schienen nicht immer
weiter wuchsen, nein, dass sogar ein Stillstand eingetreten war. Und
dann erkannte ich an einer Straße, dass dort Schienen verlegt waren, die
überhaupt nicht mehr von Bahnen genutzt waren. Ich hatte ein Geheimnis
entdeckt. Dieses Geheimnis entfaltete sich mir erst langsam aber
sicher im Verlauf der nächsten Jahre. Das Geheimnis war das Mysterium
der Zeit. Straßenbahnlinien sind nicht irgendwann angefangen worden und
seitdem gewachsen, nein. Sie stehen in einer Entwicklung, in der es
möglich ist, dass es einmal wenige Straßenbahnschienen, dann mehr und
dann vielleicht wieder weniger Straßenbahnschienen gibt. Das Liniennetz von heute ist nicht einfach entstanden, es
entstand aus einer Tradition heraus. Nur weil es heute nur noch
Straßenbahnlinien mit den Nummern 1, 2, 3, 6, 7, 8, 9 und 10 gibt, so
heißt das noch lange nicht, dass die fehlenden Nummern von der unfähigen
Verkehrsgesellschaft übersehen worden sind. Nein, sie sind nur momentan
nicht mehr in Benutzung. Und im Laufe der Jahre ist auch aus dem Bereich
der Nummern von 1 bis 9 eine neue Linie erwachsen, die praktischerweise
die Nummer 10 trägt. Auch hier macht Wien netterweise eine Ausnahme,
denn hier ist es wohl ein reiner Planungsfehler, dass es zwar die Zahlen
U 1 bis U 6 gibt, aber tatsächlich nur fünf statt der zu erwartenden
sechs Linien gibt. Die Linien, die ich jeden Morgen zur Schule fahren musste,
sind sehr schön. Der Startpunkt ist nach wenigen Minuten Fußmarsch vom
elterlichen Haus leicht zu erreichen. Netterweise stand man dann dort
jeden Morgen vor den Auslagen des kommunalen Kinos. Das war in jenen
Jahren, als es zusätzlich zu den großen Kinos in den Metropolen noch in
den Vororten kleine Klitschen gab, in denen nach dem Abnudeln der Filme
in der Großstadt noch ein paar Wochen drangehängt wurden, in denen auch
die Vorortbesucher die Meisterwerke schauen durften. Ehrlicherweise muss man natürlich hinzufügen, dass es sich
bei den Vorortkinos meist nicht um Tempel der Muse, sondern um
Anbetungsstätten des schlechten Geschmacks handelte. Das Kino an meiner
Haltestelle hatte drei Arten von Filmen. Das erste waren Soft-Pornos,
das zweite Gewaltfilme (meist mit den Standartworten wie „... des
Kung-Fu“, „... des Shaolin“ oder „Die Todeskralle ...“ versehen) und das
dritte billige Science Fiction Schinken. Gerade letztere hatten es mir
angetan, und so war es nicht weiter verwunderlich, dass ich mich in der
glücklichen Lage befinde, alle schlechten Science Fiction Filme aus neun
Jahren Schulzeit am Plakat wieder identifizieren zu können. Wenn man sich der Bahn anvertraut, wird man erst zu einer
ruckeligen Fahrt um ein paar Ecken gezwungen. In der alten Innenstadt
ist eigentlich kein Platz für Gleise, und da hat man halt dafür gesorgt,
dass sie entlang der Straße verlaufen – auch wenn die Straße sich völlig
schlängelt. Die zweite Station ist vor einigen Jahren verlegt worden.
Früher lag sie auf der Brücke, bis irgendein kluger Kopf darauf kam,
dass die Brücke vielleicht gar nicht in der Lage ist, dieses Gewicht
problemlos zu verarbeiten. Also wurde die Station in beide Richtungen
von der Brücke hinunter verlagert. Jetzt ist der Blick nur noch halb so
schön wie früher. Die nächste Station ist dann unter der alten Ortskirche.
Diese liegt auf einer Sanddüne, und erhebt sich daher stolz über den
Ort. Weiter fährt man an einem Friedhof vorbei bis zum Depot. Hier endet
zwar auch ein Teil der Linien in diese Richtung, aber ich bin nie in den
falschen Zug gestiegen und hier geendet. Nur nachts, wenn man mit der
letzten Bahn zum Depot mitgenommen worden ist, endet man manchmal hier
und muss dann den Rest des Weges laufen. Weiter der Strecke folgend gelangt man zu einer
Mittelschneise genannten Station, die mitten im Wald zu liegen scheint.
Wenn man aber einem der Waldwege folgt, gelangt man relativ bald in ein
lieblos an die Altstadt herangeklatschtes Wohngebiet. Dieses heißt
praktischerweise nach der Himmelsrichtung: Süd. Und es ist in
Halbkreisen um den alten Stadtkern durchnummeriert, so dass man hier
sich auf der Höhe von Süd 3 befindet. Wer sich so etwas für einen
Stadtteil als Namen einfallen lässt, darf sich nicht wundern, wenn die
Bewohner jahrelang mit dieser blödsinnigen Bezeichnung aufgezogen
werden. Das nächste Stück ist etwas länger, und man fährt einen
kleinen Berg hinaus. Oben liegt dann nach rechts nur ein Friedhof, aber
nach links hin schmiegt sich den Berg hoch ein kleines Dorf an den Hang.
Inzwischen haben die außer einer Bankfiliale, die nur halbtags aufhat,
und einigen Kneipen überhaupt nichts mehr im Ort, früher gab es dort
wenigstens noch einen Einkaufsmarkt. Wer hier kein Auto hat, der ist
verloren. Das längste Stück der Strecke folgt nun und bringt einen in
eine Verbandsgemeinde, zu der auch meine ehemalige Schule gehört. Die
erste Station des Ortes ist vor einigen Jahren umbenannt worden, damit
die Leute gleich wissen, dass die Station zu dem neu entstandenen
Wohngebiet gehört. Es folgt die relativ schone Altstadt dieses Dorfes,
und man kommt an eine weitere umbenannte Straßenbahnstation. Früher hieß
sie nach dem alten Rathaus, doch das war bevor man sich hier darauf
besann, dass man eine französische Partnerstadt mit einem
unaussprechlichen Namen hat. Nach der heißt nun der frisch von einem
Architekten neu gestaltete grässliche Platz vor dem Rathaus, und nach
hier heißt nun auch die Straßenbahnstation. Nun gut. Einer Kurve folgend gelangen wir zur vorletzten Station.
Rein theoretisch kann man an jeder der drei letzten Station aussteigen,
um zur Schule zu gelangen. Doch tatsächlich ist die letzte Station
diejenigen, von der aus der Weg zum gymnasialen Zweig am kürzesten ist.
Außerdem kriegt man hier auf der Rückfahrt am ehesten einen Sitzplatz,
weil man als erster einsteigen kann. Nun, die letzte Station liegt im zweiten Teil der
Verbandsgemeinde, und früher endete die Strecke hier. Doch man
entschloss sich noch zu meiner Schulzeit, hier weiter zu bauen und die
Schienen bis zum nächsten Dorf voranzutreiben. Schade, denn früher
ließen die Fahrer manchmal kleine Kinder mit durch die Wendekurve
fahren. Ein echtes Erlebnis, weil die Bahn dabei schrecklich quietscht
und ruckelt, und es ist schon etwas besonders, wenn man als einziger
sitzenbleiben kann, während alle anderen aussteigen. Oder wenn man sogar
als einziger zusteigen darf, während alle anderen noch ein paar Meter
länger stehen bleiben müssen. Straßenbahnen sind ein ganz eigener Mythos. Sie sind ganz
anders als ihre kräftigen Brüder, die Busse. Busse passen sich Kurven
nicht an, sie schneiden sie. Busse sind meistens nicht so komfortabel
wie Straßenbahnen, sie sind bei Glatteis und Schnee ausgesprochen
unzuverlässig, und bei Regen spritzen sie die Passanten nass.
Straßenbahnen sind da anders. Sie sind immer zuverlässig, sie stinken
nicht nach Benzin, sie sind meistens mit schönen blauen Sitzen
ausgestattet und irgendwie einfach mehr ein Zug als ein Reisebus. Ich würde nie nie nie eine Straßenbahnfahrt gegen eine
Busfahrt eintauschen. Für mich waren die Jahre der Förderstufe auch aus anderen
Gründen wichtig. In meinem Leben geschahen viele Dinge, die ich nur
erfahren sollte. Sie geschahen mit mir, ohne dass ich auf sie einwirken
konnte. Und jetzt, Jahre später, erfahre ich erst, was dort eigentlich
mit mir gemacht worden ist. Wenn ich mich heute frage, warum ich das englische so gerne
mag, dann kann ich das auf eine Menge Dinge zurückführen. Ich hatte
immer gute Englischlehrer, die meisten waren sogar überdurchschnittlich
gut. Aber ich habe auch gerne englische Musik gehört, wenn auch nicht
unbedingt so neue wie die meisten meiner Altersgenossen. Ich hörte gerne
Rock und Beat, und irgendwie haben mich auch immer die Texte begeistert.
Eine meiner Mitschülerinnen kaufte sich immer diese kleinen A 6 Hefte,
in denen jede Woche – oder war es jeden Monat? – die neuesten Hits der
Top Ten aufgelistet wurden. Netterweise erschienen dort nicht nur die
englischen Originaltexte, sondern auch deutsche Übersetzungen. Natürlich
waren diese Übersetzungen nicht das Gelbe vom Ei, und heute erscheinen
sie einem eher erheiternd als denn wirklich gut gemacht, aber sie
weckten in mir die Erkenntnis, dass diese Lieder mehr waren als
heruntergesungene Silben. Früher hätte man mich glauben machen können,
dass dort auf Englisch von eins bis tausend gezählt wird. Auf einmal
merkte ich aber, dass da mehr war als nur der einfache Beat und die
schnellen Rhythmen. Das waren echte Lieder mit Text und Inhalt. Ich war
begeistert. Als ich zehn Jahre alt war gewann meine Schwester, damals
immerhin zwei Jahre alt, ein Wochenende in London für drei Personen.
Geflogen sind dann konsequenterweise mein Bruder, mein Vater und ich.
Das ganze war relativ billig gehalten, also ohne großen Komfort und ohne
wunderbares Hotel in der Innenstadt. Aber mir hat es trotzdem gefallen.
London ist eine wunderbare Stadt, und die Engländer sind ein
ausgesprochen höfliches Volk, denen es auch nichts ausmacht, wenn man
selber nicht so bewandert ist in ihrer Sprache. Ich konnte noch wenig Englisch, und deshalb war mein Vater
auch jahrelang etwas sauer auf meinen kleinen Bruder und mich. Auf
einmal hörten wir nämlich eines Nachmittags Sirenen auf dem Flur. Mein
Bruder und ich gingen hinaus, schauen, was draußen passierte. Überall
liefen Feuerwehrmänner herum und aufgescheuchte Hotelangehörige. Wir
versuchten, erst einmal herauszubekommen was passiert war. Auf die
naheliegende Idee, dass Feuerwehrleute eigentlich nur auftauchen, wenn
irgendwo ein Feuer ausgebrochen ist, kamen wir nicht. So machten wir uns
daran, hinter der erstbesten Ecke nach Klärung zu suchen. Die fanden wir
nicht, aber zwei kräftige englische Feuerwehrleute, die damit begannen,
uns zu evakuieren. Das war aber genau das, was wir eigentlich nicht
wollten. Wir wollten eigentlich nur herausbekommen, was um uns herum
vorging und dann mit unserem Vater besprechen, was wir jetzt tun. Der
schlief aber wohl in seinem Zimmer, und wir zwei wurden unter lautem
Protest evakuiert. Was soll man tun, wenn man der Sprache der Einheimischen
nicht mächtig versucht, darauf aufmerksam zu machen, dass man eigentlich
nicht evakuiert werden möchte? Man strampelt mit Armen und Beinen. Das
führt natürlich dazu, dass auf einmal Garniemand mehr mit einem redet. Wir hatten Glück. Nach einigen Treppen und langen Gängen
standen wir hinter dem Hotel im Freien und durften erkennen, dass es
überhaupt kein ganzer Hotelbrand war, eher ein kleiner Zimmerbrand.
Vater hat den ganzen Aufruhr verschlafen, und wir mussten ihm dann
nachdem die Feuerwehr uns erlaubt hatte, wieder ins Haus einzudringen,
die ganze Geschichte erzählen. Er war nicht sehr begeistert und hielt
uns jahrelang vor, wir hätten ihn verbrennen lassen wollen. Alles
Unsinn. Trotzdem reizte mich dieses Geschehnis irgendwie. Und ich
beschloss, nie wieder in einem englischen Hotel nicht klären zu können,
was um mich herum vorging. Ich lernte Englisch. Natürlich mag es dabei eine Rolle gespielt haben, dass mir
das Land immens gefallen hat. Ich mochte den Tower, die „HMS Belfast“,
die Innenstadt und die Beefeaters. Mir gefiel der Palast der Königin,
und ich hatte Spaß an Windsor und diversen Besichtigungen. Man hatte
mich auf die Sprache süchtig gemacht, und ich blieb es eigentlich immer. Habe ich eigentlich schon von meiner Liebe zu
Krankenhäusern erzählt? Nun, bis ich zehn Jahre alt war, war ich schon
mindestens dreimal im Krankenhaus (meine Geburt mal nicht mitgerechnet).
Einmal wäre ich fast an einem halben Apfel erstickt und wurde eine Nacht
lang zur Beobachtung dabehalten. Meine Mutter behauptete noch Jahre
später, ich hätte danach erst einmal einige Wochen lang nicht mehr
gelacht. Das mag daran liegen, dass ich das Krankenhaus wohl nicht so
toll fand. Wer weiß, was mit kleinen Kindern passiert, die man in
Krankenhäusern zurücklässt? Einige Jahre später durfte ich diesen netten
Ort wieder besuchen, aber wohl nur ambulant, weil ich mir den Nagel
herausgeschlagen hatte. Und ein andermal war ich dort, weil ich mir die
Nase gebrochen hatte. Meine Mandeln sind mir natürlich auch genommen
worden, und das alles sorgte nicht dafür, dass ich Krankenhäuser allzu
sehr lieben würde. Ich meine, wer tut das schon? Aber ich habe sie
wirklich gehasst. Als ich dann – ausgewachsen – ab meinem achtzehnten
Lebensjahr versucht habe, mir die Nase korrigieren zu lassen, war ich
sicherlich zehnmal dafür im Krankenhaus. Einmal war kein Arzt da, der
hätte operieren können. Einmal war es zu warm. Einmal war kein Bett mehr
frei. Einmal hatte ich einen Pickel auf der Nase. Das war klasse, ich
lag schon im OP und war halb betäubt, da fiel dem Oberarzt auf, dass ich
einen riesigen roten Pickel auf der Nase hatte. Nun, auch mit achtzehn
hatte ich noch des Öfteren Pickel, aber irgendwie fand ich das nicht
besonders überraschend. In einem gewissen Alter haben wohl die meisten
Jungen Pickel, so auch ich. Aber dieser Oberarzt bestand darauf, dass
ich wegen dieser Pickel nicht operiert werden könne. Man ließ mich also
gehen. Ich stand voll unter Betäubungsmitteln, packte meine Sachen und
lief heim. Zuhause habe ich dann geklingelt und hatte erst einmal einen
Blackout. Meine Mutter muss wohl im Krankenhaus angerufen haben, weil
sie im Glauben war, ich wäre aus dem OP geflohen. Nun, das gibt doch
irgendwie schon zu Denken, was meine Einstellung zu diesen
Räumlichkeiten betrifft, oder? Wie auch immer, ich war ja nicht geflohen, von daher
bestand kein Grund zur Panik. Aber gemocht habe ich sie trotzdem nicht.
Ist ja auch verständlich, oder? Dass ich einen Bruder habe, habe ich erwähnt. Meine
Schwester habe ich auch erwähnt. Der erste gemeinsame Urlaub, aus dem
mir meine kleine Schwester als echtes lebendes Wesen in Erinnerung ist,
war, als ich mit dreizehn Jahren in die Rhön gefahren bin. Mein Bruder
war zwölf, meine Schwester fünf. Damit fingen die beiden an, wirklich
mit mir zusammen drei Geschwister zu bilden. Ich war noch jung genug, um Spaß daran zu haben, mit den
beiden Blödsinn zu machen. Und so ist es nicht weiter verwunderlich,
dass wir uns einen Einkaufswagen luchsten (oder genauer gesagt: einen
Wagen für den Transport von Koffern auf die Zimmer) und damit in der
Einfahrt immer wieder von oben nach unten fuhren. Unten angekommen,
schoben wir den Wagen wieder den Hang hinauf und begannen von neuem. Das
war alles nicht so einfach, wie es jetzt klingen mag. Die Bremse
befindet sich nämlich bei diesen Wagen als eine metallene Querstange
über den Schiebegriff, und es verdammt schwer, entweder den Hang
rückwärts hinunter zufahren (damit man immer auf die Bremse schlagen
kann) oder aber in voller Fahrt nach hinten zu greifen. Also fuhren wir
meist ungebremst und streckten notfalls einfach die Füße aus, um uns
abzubremsen. Auch das ist natürlich meistens weniger lustig, weil der
Wagen, wenn man mit dem Fuß abbremst, sich um die Ferse herum ein wenig
dreht und dann – zwar langsamer – unkontrolliert den Hang hinunter
rollt. Wir hatten viel Spaß. Leider muss wohl irgendjemand mitbekommen
haben, dass wir – um den Hang und neue Varianten auszutesten – immer
unsere Schwester alleine fahren ließen. Das war zwar sehr amüsant für
uns beide, aber irgendjemand erkannte wohl richtig, dass es für unsere
Schwester gefährlich war. In diesem Urlaub entwickelte ich auch eine ernstzunehmende
Abneigung gegen den Papst. Ich hatte meine Mutter glücklich überredet,
an einem der Abende im Gemeinschaftsraum einen Gruselfilm sehen zu
können. Ich glaube, es wäre die alte schwarz-weiße Version von
„Frankenstein“ gewesen. Glücklich hatte ich mir zwei Tage lang die
Lippen blutig geredet, und ebenso glücklich stand ich dann vor dem
entsprechenden Gerät. Nur um zu erfahren, dass der Papst gestorben sein.
Erst wurde stundenlang über sein frommes Leben berichtet, dann wurde
stundenlang darüber debattiert, wer jetzt Papst werden würde. Wenn ich
mich richtig entsinne, wurde damals der legendäre Pole zum Papst
gewählt. Jaja, so lange ist das jetzt schon her. Aber ich habe ihn
gehasst, vom ersten Augenblick an. Denn die ganze Papstwahl hätte ich
auch ohne meine Überredungskünste schauen können, doch so hatte ich mich
umsonst ins Zeug gelegt – und war noch nicht einmal dadurch entlohnt
worden, dass der Film in den nächsten Tagen wiederholt worden wäre, denn
die Erlaubnis zum sehen dieses Filmes hatte ich ja schon. Mein erstes Leseerlebnis war also deswegen angefangen
worden, um eine SF-Serie sehen zu können. Und meine erste
Auseinandersetzung mit der christlichen Religion erfolgte, weil ich
einen SF-Film nicht sehen durfte. Irgendwie ist das Leben schon voll von
eigenartigen Zufällen. Die Science Fiction – oder wie man feiner sagt, die
phantastische Literatur – hat mich mein ganzes Leben lang bis jetzt
begleitet, und es ist davon auszugehen, dass es auch weiterhin so
bleiben wird. Irgendetwas hat mich früh daran gefesselt, und es ließ mich
auch so recht nicht wieder los. Was war es? Das verbotene etwas zu
lesen, was allgemein als „unfein für Kinder“ und „Schund“ bezeichnet
wird? Ich glaube nicht, weil so stark war mein Widerstandswille zu jener
Zeit noch nicht, dass ich etwas gelesen hätte, weil es verboten war.
Meine erste Faszination war echt. Ich habe in diese Bücher
hineingeschaut, und ich war gefesselt. Mein richtiges Leben war schön,
aber mein erfundenes Leben war gigantisch. Zwischen den Deckeln des
Buches entfaltete sich für mich eine Welt der Wunder. Mit einem U-Boot
unter dem Pol durchfahren, mit einem Raumschiff im Sonnensystem
Expeditionen durchführen, im Inneren der Erde mit einem metallenen
Maulwurf nach versunkenen Zivilisationen und Hohlwelten suchen. All dies
und noch viel mehr gab mir die Phantastik. Die Beschränkung auf nur ein Genre war mir bald zu eng, und
ich las einfach alles, was im weitesten den Begriff „phantastisch“
verdient hätte. Märchen las ich schon immer gerne, und ich fing an, mich
systematisch mit ihnen zu beschäftigen. Einfach von vorne bis hinten
ganze Regale hindurch. Oder Gruselgeschichten, obwohl die mich immer
etwas abgeschreckt haben, weil ich eigentlich ein sehr ängstlicher
Mensch und daher leicht zu erschrecken bin. Der moderne Horror hat mich
nie gereizt, nur die Spielart des Horrors, die irgendwann um die
Jahrhundertwende entstanden ist, konnte mir etwas abgewinnen. Hier ging
es nicht um Gewalt als Stilmittel, sondern um subtilen Horror, der mich
wirklich begeistern konnte. Der „Golem“ hatte es mir angetan, oder
Sammlungen von Kurzgeschichten aus dieser Epoche. Auch etwas Wilde und
etwas MacDonald, wenn sich die Gelegenheit ergab. Ein Gebiet, das ich
erst relativ spät entdeckte, war das der Fantasy. Sie blühte kurz aber
heftig. Anfangs war sie mir zu brutal, dann wurde sie mir zu einfach.
Vorher las ich gar keine Fantasy, hinterher nur noch ausgewählte Bücher,
die mich aus irgendwelchen Gründen begeisterten. Doch dazwischen las ich
alles, was in die Buchläden kam. Ich fand sogar endlose Serien
faszinierend und konnte mich damit abfinden, denselben Stoff immer und
immer wieder aufbereitet zu bekommen. Einfach interessant waren diesen
Geschichten für mich, und ich las dieses Genre mit der Begeisterung des
Jungverliebten, der alle Nachteile seiner Geliebten wegen ihrer Vorteile
vergisst oder unterdrückt. Doch auch diese Liebe wurde kalt, und ich
lernte zwischen schlechten und guten Büchern zu unterscheiden. Heute
lese ich Fantasy nur noch, wenn ich damit von mir geliebte Autoren oder
Serien weiterlesen will. Und ganz ganz selten einmal, weil mir jemand
ein gutes Buch so warm empfohlen hat, dass ich es mir selber kaufe und
damit wieder einmal für einen halben oder einen ganzen Tag in meinen
früheren Tagträumen verschwinde. Doch eine Liebe hat sich von Anfang an in der gleichen
Intensität gehalten. Die Liebe zur Science Fiction oder kurz SF.
Raumschiffe mit metallen glitzernden Leibern, Raumanzüge und
Außerirdische hatten es mir angetan. Im Fernsehen waren dies „Orion“ und
„Enterprise“, im Buch eher „Giganto“ und „Delta VII“. Aber geliebt habe
ich sie alle. Jeden Planeten des Sonnensystems konnte ich herauf- und
herunterbeten, wusste Bescheid über die Schwierigkeiten des beinahe
lichtschnellen Antriebs und konnte Theorien auswendig hersagen, die
Zeitreisen erklären sollten. Nie war ich ein Freund von zu großer
Technik, und immer war ich bereit wegen einem schnuckeligen Raumschiff
über kleinere Webfehler in der Geschichte hinwegzusehen. Manche Male
habe ich mir damit sicherlich selber geschadet, weil ich Schund zu Ende
las, nur weil mir ein Teil der Handlung gefallen hat. Aber oftmals ist
es so, dass diese Begeisterung immer wieder von neuem beginnt und mich
immer wieder aufs Neue fasziniert und mitnimmt. Der Effekt der
Wiederholung tritt zwar auf. Man liest ein Buch und stellt bald fest,
dass es eine schlechte Pastiche auf ein gutes Original ist, und wirft es
in die Ecke. Aber der Stapel der ungelesenen Bücher ist riesig groß, und
die Auswahl ist es auch. Zum Glück. Wie kann man ermessen, wie viel Faszination in einem Buch
liegen kann, wenn man diese Liebe nicht teilt? Das Radio hat mich nie
interessiert, über das Hintergrundgedudel hat es dieses Medium bei mir
nie gebracht. Das Interesse an Hörspielen hatte ich als Kind mal,
richtig, aber inzwischen ist das völlig verschwunden. Das Fernsehen hat
mich begeistert und begeistert mich noch. Aber es lässt wenig Raum für
Phantasie, und oft merkt man dann doch, dass die Plots schwach und die
Schauspieler hölzern sind. Entweder Fernsehen ist gut als Parodie und
wiederum so schlecht, dass es schon wieder gut ist. Oder es ist so gut,
dass das Zusehen eine Freude ist. Dazwischen liegt das Jammertal der
visuellen Unterhaltung. Das Buch hingegen spielt sich zwischen unseren Ohren ab, es
ist Film und Geruch und Kino und Hörspiel und tausend bunte Blumen.
Unser Gehirn wird angeregt, sich die Szenen vorzustellen und zu
überlegen, wie die einzelnen Figuren aussehen. Vielleicht sind
Buchverfilmungen deswegen immer ein wenig problematisch, weil wir uns im
Grunde vorher ein klares Bild von den Personen und Orten gemacht haben.
Und jemand anders, eben der Regisseur oder wer auch immer, verwendet
seine Sicht und stellt sie dar. Und unsere eigene Phantasie kuscht vor
seinen Vorstellungen. Und viel geht verloren, denn seine Interpretation
der geschilderten Wirklichkeit ist selten die eigene. Und wenn sie doch
die eigene ist, dann hat man sich den Film umsonst angeschaut – die
Bilder hatte man vorher schon in seinem Kopf. Und die Comics, die Welten der bunten Bilder? Zu Recht wird
man einwenden können, dass sie für Kinder und kindliche Menschen gemacht
sind. Sie haben viel gelernt in den letzten hundert Jahren, die Comics.
Aber nicht genug, um neben dem Buch gleichberechtigt stehen zu können.
Trotzdem habe ich Schränke voll mit Comics. Kein Widerspruch für mich,
nur der Unterschied zwischen Anspruch und Unterhaltung. Ich hatte erst überlegt, ob ich meine fragmentarischen
Aufzeichnungen der letzten Tage nacheinander überarbeite und so tue, als
hätte ich wirklich jeden Tag ganze Sätze geschrieben. Aber irgendwie
erschien mir das als Betrug. Nicht als Betrug am (nicht vorhandenen)
Leser, sondern als Betrug an mir selbst. Ich hätte meine eigenen Regeln
von Redlichkeit verletzt, und das wollte ich dann doch nicht. Andere
betrügen und belügen mag in gewissen Situationen verständlich sein. Aber
wer sich selbst belügt, der bringt sich um die Wahrheit. Das Meer war eines der Wörter, die auf meinem
Stichwörterzettel standen. Wasser, oder besser große stehende
Wasserflächen, sind für mich immer faszinierend gewesen. Wenn sich das
Wasser bewegt, oder – noch schlimmer – wenn ich mich auf dem bewegenden
Wasser befinde, dann macht es mir Angst. Seekrankheit ist mir zwar
unbekannt, aber Wasser hat bekanntlich keine Balken. Und ich stehe gerne
auf festem soliden Boden. Meine Schwindelanfälle in großen Höhen hängen
vielleicht eher damit zusammen als mit echtem Schwindel. Ich will gerne
fest stehen, auf mir bekanntem und vertrautem Boden. Andere sind damit
glücklich, wenn der Boden unter ihnen schwankt oder sie auf dünnen
Gängen um Turmplattformen herumkriechen dürfen. Ich nicht. Der Boden ist
das, was ich mir wünsche. Aber stehende Flächen von Wasser sehen für mich nicht wie
Wasser aus, sondern wie ein großer hingegossener Spiegel. Und in diesem
Spiegel vermeine ich Dinge zu sehen. Begeistert war ich früher schon von
versunkenen Städten, die unter dem Wasser liegen sollen. Rungholt, die
Stadt, die angeblich irgendwie in der Nordsee liegen soll. Oder aber die
paar Gebäude (samt Friedhof), die man überflutet hat, um die
Edertalsperre zu bauen. Atlantis hat mich immer weniger begeistert, weil
es eigentlich kein Kindermythos ist. Atlantis ist irgendwie vergeistigt
worden in seiner Diskussion, und diese nachträgliche Vergeistigung hat
der Sache nicht gut getan. Warum kann man Atlantis nicht genauso suchen,
wie man Brigadoon oder Shangri-La suchen würde? Weniger als einen Ort,
denn als ein Prinzip von einer Zivilisation in Einheit und Freude, die
es eben so in dieser Form nie wieder auf der Erde gegeben hat. Eine Art
„goldenes Zeitalter“, nicht unähnlich jenem der griechischen Heroen,
welches eben von den Göttern versenkt worden ist. Stattdessen schwärmt
die Atlantis-Literatur von der Wiederentdeckung von kontinentalen
Schelfen, die Atlantis doch auf einer Inselposition möglich gemacht
haben. Thera-Diskussionen ob der Frage, ob jenseits der Säulen des
Herkules vielleicht auch im Mittelmeer meinen könnte. Und eine Suche bei
Helgoland oder in Südamerika nimmt mir beim Lesen den Spaß. Deswegen lese ich auch heute noch gerne Charles Berlitz.
Nicht, weil er vernünftige Thesen bieten kann. Kann er sicherlich nicht.
Aber ihm fehlt jene Däniken-hafte Verbissenheit in erfundene Fakten, die
ich so verabscheue. Berlitz erfindet Quellen (wenn er sie überhaupt
nennt), er huscht über die Erkenntnisse der Geschichte und der
Naturwissenschaften hinüber und malt auf seiner pseudo-historischen
Staffelei ein Bild von vergangenen Geheimnissen, das eher in den Bereich
des Märchens als in den Bereich des Sachbuchs gehört. Na und? Ich
amüsiere mich immer königlich darüber. Der Spiegel des Sees (man spricht nicht umsonst vom
Ansteigen des Meeresspiegels, oder?) ist für mich immer Mysterium. Ich
weiß, dass es etwas darunter gibt, etwas, das sich hinter dieser glatten
Oberfläche vor dem Blick verbirgt. Aber ich weiß auch genauso, dass der
See den Himmel spiegelt. Bilder zeigen sich auf seiner Oberfläche,
Spiegelungen von dem, was über ihm ist. Und so bleibt das, was unter
Wasser ist, verborgen. Man kann sich vorstellen, wenn man als Kind an
einer Pfütze steht, dass die Bäume, die man gespiegelt im Wasser sieht,
keine Spiegelungen sind, sondern dass in der Pfütze – sozusagen hinter
Glas – die Bäume wirklich nach unten wachsen. Und erst wenn die
Oberfläche des Wassers durch einen Tropfen oder einen hineinfallenden
Gegenstand verwirrt wird, merken wir, dass unsere schöne Selbsttäuschung
leider nur Selbsttäuschung war. Oder? Ein anderes Beispiel für den Unterschied zwischen dem, was
man vermeintlich sieht und dem, was sich wirklich dahinter verbirgt,
sind Häuser. Es gibt doch dieses wunderschöne Gefühl, wenn man das erste
Mal in einer fremden Wohnung – umso größer, umso besser –
herumschnüffeln darf. Der erste Gedanke, der sich mir immer stellt, geht
nicht nach der Einrichtung oder den Bewohnern. Ich will zu aller erst
wissen, ob die Wohnung von innen größer ist als von außen. Mein
Orientierungssinn ist eigentlich ganz gut, und ich gehe dann durch die
fremde Wohnung und versuche herauszubekommen, wie sich die Zimmer
zueinander anordnen. Welche Wand eine Außenwand ist oder an ein anderes
Zimmer grenzt. Welche Tür wohin führt. Ob Türen von der einen Seite
offen, von der anderen Seite vielleicht zugestellt sind. Welche Wände
neu gesetzt, welche Fenster zugemauert worden sind. Ab und an klopfe ich
auch einmal an eine Wand oder versuche durch Fühlen herauszubekommen, ob
eine Wand kälter (und damit eine Außenwand) oder wärmer (und damit wohl
eine Innenwand) ist. Wie laufen die Rohre? Wo ist der Kamin? Fehlt ein
Stück, z.B. durch das Zumauern eines Speisekammer oder weil eine kleine
Ausbuchtung noch zur Nachbarswohnung gehört? Und dann die wichtige
Frage: Passt diese Wohnung überhaupt in das Haus, das man von außen
sehen kann? Oftmals bin ich überrascht, weil ich von außen niemals
vermutet hätte, dass eine Wohnung dieser Größe und/oder dieses
Zuschnitts in dieses Haus passt. Ich bin immer wieder überrascht, wie
leicht ich mich doch von meiner Einschätzung täuschen lassen. Oder der Widerspruch zwischen einer Fassade und einer
Wohnung. Viele hässliche Fassaden verbergen hinter ihren Wänden
wunderschöne alte Wohnungen mit hohen Decken und lichten hohen Fenstern.
Andere moderne Fassaden sind dafür nur das Gehäuse für kleine
Beton-Schuhschachteln, in denen gelangweilte Menschen gelangweilte
Wohnungen einrichten. Häuser müssen Leben haben, einen eigenen Stil, der
sich vielleicht eher im Widerspruch ausdrückt als in der uniformen
Gleichheit von Beton. Ich bin immer noch neugierig und versuche
herauszubekommen, was es eigentlich ist, das mich an Häusern abstößt
oder fasziniert. Tore sind auch so ein Problem. Wenn ein Haus eine Tür hat,
dann ist es schon interessiert. Nein, kein Eingang, eine echte Tür. Halt
einen Gegenstand, der etwas mit dem Haus und seiner Geschichte zu tun
hat. Schmiedeeisern oder aus Holz, oder vielleicht sieht sie so aus, als
wäre hier irgendwann mal ein Lastwagen durch die Straße gefahren und
hätte vor jedem Haus eine Tür abgeladen, die man dann hätte einbauen
müssen. Viele neue Wohnsiedlungen sehen so aus. Ein abschreckendes
Beispiel ist die Wohnsiedlung in Berlin-Marzahn. Dort hat man bunte
Figuren, z.B. aus Märchen oder Singvögel, an die Türen gemalt, damit die
kleinen Kinder überhaupt in der Lage sind, ihre eigene Wohnung
wiederzufinden. Nun, ich bin kein kleines Kind und mein
Orientierungssinn ist eigentlich ganz gut. Aber schon ich hatte
Schwierigkeiten herauszubekommen, wo ich mich zum Teufel gerade befinde
und wie ich zum anvisierten Ziel komme. Türen sind eine Art kleine Pforte, Tore sind ihre große
Version, sozusagen ein Onkel der Türen. Ein Tor kann eine Menge
verbergen weil man durch ein geöffnetes Tor (im Gegensatz zu einer
geöffneten Tür) einen weiten Blick auf das hat, was sich hinter dem
Durchgang verbirgt. Ich habe schon Tore erlebt, die den Blick öffneten
auf einen Innenhof, in dem eine Kirche stand. Oder Tore, durch die man
in einen zweiten und sogar dritten Hof blicken kann. Tore, die auf
Mauern führen. Tore, die sich nicht öffnen lassen und mich zwingen,
meine Phantasie spielen zu lassen um herauszufinden, was sich dahinter
verbergen mag. Tore, hinter denen alte Autos verrosten. Tore, in deren
Durchfahrten ein Traktor samt Anhänger voll Heu steht. Tore, wo im
Torgang Kinder auf dem Boden spielen. Tore, die in einen dunklen Gang
führen, von dem rechts und links kleine Treppen in die Wohnhäuser
abgehen. Burgtore nicht zu vergessen, die hinter einem zuklappen und
einen in einem vergangenen Jahrhundert einschließen, so wie eine Mücke
im Bernstein eingeschlossen ist. Wieder ein Stapel Texte anstatt eines täglichen Eintrages.
Ich weiß nicht, woran das liegt. Gibt es Themen, die mich so
beschäftigen, dass es einfach unmöglich ist, sie an einem Tag zu
bearbeiten? Sozusagen Wortberge, deren Abarbeitung mich innerhalb von
einer Frist von Sonnenaufgang zu Sonnenaufgang schier überarbeiten
würde? Heißt das nicht auch im Wechselschluss, dass es Themen
gibt, die man in weniger als einer Stunde beschreiben kann. Kleine,
sauber verpackte Themenkomplexe, die sich mir nichts dir nichts
abarbeiten lassen. Vielleicht ist das auch von Lebewesen zu Lebewesen
unterschiedlich. Vielleicht gibt es ja Menschen, die alles, was es über
ihr Verhältnis zum Tod zu sagen gibt, in weniger als zehn Minuten zu
Papier bringen können. Ich gehöre nicht dazu. Etwas, was mich auch immer wieder beschäftigt hat, ist –
neben der Frage von Leben und Sterben – die Poesie von Zügen und
Schiffen. Schiffe sind so ein süßer, in sich geschlossener Mikrokosmos,
ähnlich wie Züge. Nur ist im Gegensatz zur Fahrt auf oder besser in
einem Schiff der Zug mit der Landschaft verbunden, durch die er fährt.
Das Schiff verändert seine Position meist nur von einer Wasserfläche zu
einer anderen Wasserfläche, während der Zug wirklich durch Landschaften
führt. Nun gut, ich gebe zu, ich bin noch nie in meinem Leben mit einem
Schiff Kanäle entlang gefahren. Vielleicht ist dies ein Element von
Wahrnehmung, das der Fahrt in einem Zug gleicht. Der Zug dann sozusagen
als aufs Land verlegte Variante des Kanals. Züge bewegen sich auf Linien, die man nicht verlassen kann.
Sie sind keine Pfeile, die von der Bahn abweichen könnten, sondern eher
Murmeln auf einer Murmelbahn, die immer schneller werdend auf ihr Ziel
zurollen. Zurück zu meinem Leben. Ich glaube zwar nicht wirklich,
dass man über mich mehr schreiben kann als über Züge oder ähnliche
Themen. Aber bei meinem Leben bin ich wenigstens sachverständig. Ich erreichte also nach der Förderstufe relativ problemlos
das Gymnasium. Wir hatten drei Fächer in Kursen (Mathematik, Deutsch und
Englisch), und mit drei Wertungen „A“ war mein Einzug in die oberste
Klasse der Schulen gewährleistet. Für mich veränderte sich nur das
Gebäude, die Schule blieb gleich. Das Wegbrechen von zwei Dritteln
meiner Schulklasse empfand ich als weniger schrecklich, als ich das
Zerbrechen meiner Grundschulklasse gefunden hatte. Wahrscheinlich, weil
man sich doch ab und an auf dem Schulhof oder in dem
Jahrgangs-übergreifenden Sportunterricht traf. Neben der Schule begannen andere Dinge mein Leben zu
füllen. In den Zeiten des Wahlkampfes wurde dies mehr und mehr das
Engagement meines Vaters in der Politik. Es gibt nichts schlimmeres, als
widerliche Familienbilder in Wahlkampfbroschüren wiederzufinden. Ein
Vater wird sehr stark übermächtig für Kinder, wenn die Kinder ihn an
jedem dritten Laternenpfahl sehen können. Als Bild versteht sich. Diese
Fotos kann ich mir heute nur noch mit großem Widerwillen anschauen. Ich
erinnere mich ungern daran, wie hölzern und konstruiert mir diese
Fotosessions erschienen. Lieb mussten wir aussehen, gut angezogen
mussten wir aussehen, und von den Bildern geht eine Dynamik aus, die
wahrscheinlich Leistungssportler sofort in den Schlaf versetzen kann. Knapp dahinter auf Platz zwei war das sonntägliche
Austragen von Wahlkampfunterlagen. Wir hatten ein Gebiet mit
Faltblättern zu versorgen, und waren damit sicherlich einige Stunden
beschäftigt. Da dies sonntagmorgens passieren sollte, bevor die Leute
zum Frühstücken kamen, mussten wir früh aufstehen und den Plunder
mehrere Wochen lang jeden Sonntag in die Briefkästen stopfen. Und für
einen Zwölfjährigen ist es schon ziemlich grässlich, wenn er bei jedem
Wetter mit Bergen von Zetteln an der Schulter von Straßenzug zu
Straßenzug marschieren muss. Wenn es dann noch große Hunde gibt, die
einen anbellen, und ältere Trinker, die einen nach der Bild fragen, dann
ist der Tag sowieso gelaufen. Für mich hieß es dann schnell frühstücken und mich wieder
in die Kirche begeben. Ich hatte eine obskure Liebe zum
Kindergottesdienst entwickelt und arbeitete bald selber als Helfer oder
Betreuer mit. Christliche Jugendarbeit hat mir immer Spaß gemacht, und
so kann ich heute im Rückblick auch mein Engagement im
Kindergottesdienst verstehen. Auf Dauer war es aber schon schrecklich. Oftmals musste ich
theologische Positionen den Kindern nahebringen, die ich selber für
völlig hanebüchen halte. Interessant war dies nur, wenn ich dabei etwas
über das Leben der Menschen im sogenannten heiligen Land erfahren konnte
(„sogenannt“, weil ich nicht glauben kann, dass ein einfaches Land
heilig sein soll). Da gab es dann wunderschöne Zeichnungen von den
Häusern oder Bilder von den Menschen in ihrer damaligen Kleidung. Das
hat mich fasziniert. Irgendwann stellte ich leider fest, dass die
wenigsten Menschen, die sich selber als Christen bezeichnen, die Bibel
komplett gelesen haben. Also besorgte ich mir eine Bibel und begann
jeden Abend zwei Seiten aus der Bibel zu lesen. Und als ich damit fertig
war, besorgte ich mir eine andere Übersetzung und trieb dasselbe Spiel
noch einmal von vorne bis hinten. Heute hilft mir das sehr viel weiter,
wenn ich auf der Straße oder an der Haustür von irgendwelchen
christlichen Predigern angesprochen werde. Ich habe immer wieder
dieselbe Standardfrage gestellt: „Haben Sie die Bibel komplett gelesen?“
Bis jetzt erhielt ich jedes Mal die Antwort „Nein“. Und dann kamen dann
Begründungen. So hatten viele die Bibel in Form von Tageslosungen oder
Wochensprüchen studiert, und der eine oder andere hatte sogar mal ein
komplettes Evangelium gelesen. Aber niemand kannte sie komplett. Dann
konnte ich immer wieder schön sagen, dass ich sie ja komplett gelesen
habe und zu diskutieren bereit sei, wenn sie sie auch gelesen hätten. Im Nachhinein erscheint mir mein christliches Engagement
zumindest als fragwürdig. Besonders heute überrascht es mich im
Rückblick, dass ich es über einige Jahre fertig gebracht haben soll, am
Wochenende Kindergottesdienst zu machen und unter der Woche einmal zu
der sozialistischen Jugend Deutschlands (den Falken) zu gehen. Religion oder einfach nur Glauben war schon immer eine
knifflige Frage für mich. Nicht nur im Widerstreit zwischen meinem
politischen Engagement (so lächerlich das auch für einen Jungen von 13
oder 14 auch gewesen sein mag) und meinen religiösen Tendenzen (die in
diesem Alter genauso lächerlich waren) ist mir das aufgefallen, auch
immer wieder in meinem späteren Leben stand ich auf einmal vor jener
nicht wahrnehmbaren Schranke, die mir irgendwie klarmachte, dass ich
jetzt glaube und der mir gegenüber nicht. Ich weiß nicht, wie es in
Worten ausdrücken oder gar noch schreiben soll. Reden ist soviel
einfacher als schreiben. Wenn man etwas gesagt hat, was man nicht so
gemeint hat, dann kann man es dementieren oder einfach behaupten, man
wäre falsch verstanden worden. Und wenn man dann noch eine gute
alternative Bedeutung des Satzes zum Besten geben kann, dann ist man
fast schon gerettet. Anders ist das beim Schreiben, weil man hier
„schwarz auf weiß“ arbeitet und sich nachher nicht mehr korrigieren
kann. Ich bin also konfirmiert worden. Die Bilder zeigen mich in
der letzten Reihe zwischen lauter ebenso muffig schauenden Gestalten auf
der Treppe des Gemeindehauses. Ich bin bereit Stein und Bein zu
schwören, dass die wenigsten von denen an Konfirmation denn eher an die
neue Stereoanlage oder ähnliches dachten. Mir erging es nicht anders,
ich träumte von einem fahrbaren Untersatz auf zwei Rädern. Naja, ich war damals 14 Jahre, und ich hatte schon einiges
von der Welt gesehen. London. Na, immerhin, eine Entschädigung für viele
andere Dinge und sicherlich die Phantasie anregend. Ich hatte eine Menge
Texte über Glaubensdinge gelesen und viel nachgedacht. Einen eigenen
Geschmack hatte ich entwickelt, besonders was Essen betraf. Nicht, dass
dieser sich dann noch groß verändert hätte, nein. Aber ich hatte ihn
entwickelt und blieb dann – zumindest bis heute – bei Dingen wie
Spaghettieis, Kotelett mit Erbsen und Möhren und Reibekuchen mit
Apfelmus. Nein, ich bin sicherlich nicht überzeugt, dass das
kulinarische Kostbarkeiten sind. Aber ich hatte mir darüber Gedanken
gemacht, was mir schmeckt. Und ich hatte mich für einen Geschmack
entschieden und den fest gemacht. Irgendwie war das einer der sicheren
Pfähle, die ich in meiner Jugend in den Boden gehauen habe, und um die
herum ich meine Existenz gesichert habe. Ich kam ja auch langsam in die Pubertät. Und während andere
über das Geheimnis von Frauen nachdenken, las ich in der Bibel oder im
„Buch Mormon“. Nicht, dass mir letzteres im Rückblick besser gefallen
hätte als die Frauen. Nein, aber es lag da halt herum und erforderte
weniger Arbeit als das Reden mit Menschen. Später, als ich dann feststellte, dass es neben dem
Aufklärungsunterricht in der Schule und den geröteten Gesichtern meiner
Schulfreunde beim Erzählen von „schmutzigen“ Geschichten mehr über Sex
zu erfahren gibt, bin ich in den Buchladen gegangen und habe mir ein
vernünftiges Aufklärungsbuch gekauft. Bis heute halte ich das für die
vernünftigste Einstellung. Keiner fand die Idee vorher gut, und alle
hielten mich vor meinem Gang zum Buchladen für wahnsinnig. Ich wurde
nicht verhaftet, und nachher haben sich ca. zwanzig Personen das Buch
geliehen. Nur um mal zu schauen, was da drin steht ... Eines der unvermeidlichen Abenteuer, das man mit sechzehn
Jahren anfangen kann, ist der Tanzkurz. Ich machte hier keine Ausnahme.
Mit einem Schulfreund zusammen, der sich hatte überreden lassen, mit mir
tanzen zu gehen, machten wir uns auf den Weg. Die Tanzschule lag etwas
am östlichen Rand der Innenstadt. Nun, um der Wahrheit die Ehre zu geben
war es eigentlich das drittletzte Haus vor dem Wald, aber östlicher Rand
der Innenstadt klingt halt irgendwie schon ziviler. Die Tanzschule war ein wunderschönes altes Haus, in das wir
uns ohne große Schwierigkeiten hineinfanden. Die Regeln waren hier noch
alt hergebracht – keine Jeans. Und die Existenz eines Hemdes war auch
Pflicht. Wir zwei – also mein Schulfreund und ich – hatten natürlich
keine Freundinnen dabei, und von daher mussten wir versuchen,
irgendjemand kennenzulernen. Das war leider nicht so einfach, wie es
hier klingen mag. Lernen sie mal jemanden kennen, wenn sie gerade dabei
sind, darauf aufzupassen, dass ihre Füße die richtigen Schritte machen.
Wenn ich den Schwachkopf in die Finger kriege, der mal behauptet haben
soll, dass man beim Tanzen gut Leute kennenlernen kann. Alles Humbug.
Man lernt Füße kennen und Hinterköpfe. Hinterköpfe deswegen, weil ich
groß bin und daher den Damen immer auf den Hinterkopf schauen konnte –
die schauten nämlich auch nach den Füßen, und wendeten daher den Blick
nach unten. Die Tanzstunden habe ich ganz gut überstanden. Es waren
eine Menge Standardtänze dabei, die eigentlich ganz einfach gehen, wenn
man einmal den „Trick“ heraushat, wohin die Füße gehören. Ganz nett war
auch, dass neben der Tanzstunde noch sonntags eine Art „Tanztee“
angeboten wurde. Dies war ein nachmittäglicher Tanztreff für jedermann,
in den ich mich einige Male verirrte. Verirren ist wirklich das richtige
Wort, denn ich bin kein guter Tänzer und wusste überhaupt nicht, was ich
dort sollte. Sieht man einmal von den Mädchen ab, die man dort treffen
konnte. Nun, den Anfänger-Kurs brachte ich gut hinter mich, und
wenn ich auch beim Abschlussball beinahe ins Publikum gefallen wäre, so
war es doch für alle Beteiligten zumindestens erheiternd. Ich habe mich
dann aus irgendwelchen Gründen zu einem Fortgeschrittenen-Kurs hinreißen
lassen. Wahrscheinlich wegen meiner hübschen Tanzpartnerin. Zumindest
behauptet das meine Mutter. Aber bei diesem Kurs habe ich es nicht bis
zum Abschlussball gebracht. Ich hatte wohl zu viel Angst, wieder beinahe
ins Publikum zu fallen. Dabei lag es nur an meinen neuen Ledersohlen,
ehrlich. Nun, für mich war der Gesellschaftstanz daher bis heute
gestorben. Mit 16 Jahren war ich dann auch das erste Mal für längere
Zeit (drei Wochen) in England. Nun, das Land und die Sprache hatten mich
schon früher begeistert. Jetzt kamen zwei weitere Faktoren hinzu, die
mir diese Reise unvergesslich machen sollten. Der erste Faktor war das
zusammenkommen meines Alters mit dem Mitfahren einiger schöner Frauen.
Nun, ich hatte inzwischen – nicht zuletzt dank dem genannten gekauften
Buch – herausbekommen, was der Unterschied zwischen Frauen und Männern
ist. Nun, für die Liebe gilt ähnliches wie für das Spiel Go – „Five
minutes to learn, a lifetime to master!“. Die ersten – wenn auch
sicherlich ausgesprochen zaghaften und plumpen – Versuche durfte ich auf
dieser Fahrt unternehmen. Ich habe also meinen Charme zusammengekratzt,
meine sauberen Hemden aus dem Koffer gezogen und war bestimmt
schrecklich nervend. Was würden sie von einem spätpubertären Jungen
erwarten, der seine ganzen Kenntnisse über Liebe aus Büchern gezogen
hat? Nichts. Richtig. Glücklicherweise konnte ich viel reden und bin
auch nicht allzu hässlich, von daher musste irgendwann mal irgendjemand
Interesse an mir bekunden. Und wenn man drei Wochen lang in derselben
Gemeinde untergebracht ist, sozusagen als Fremder unter Fremden, kann
man eine Annäherung nicht vermeiden. Und glücklicherweise war keiner so
bösartig, dass er mich wegen meiner Blödheit in den Arm gebissen hätte.
Also: Ich habe geflirtet, und ich habe dabei kein Auge oder Arm
verloren. Das machte mir Mut, es in der Zukunft weiter zu versuchen. Zum
Glück, wer weiß, was sonst geworden wäre. Die andere – wichtigere – Erfahrung war für mich jedoch die
Besichtigung einiger englischer Kirchen. Ich weiß nicht wieso, aber
große Kirchen, oder ehrlicher: Kathedralen lassen mir kalte Schauer über
den Rücken laufen. Ich besichtige sie, laufe an ihren Wänden entlang,
berühre die Ornamente und streiche mit den Fingern durch die Fugen. Ich
sitze in den Holzbänken, lege den Kopf in den Nacken und schaue mir die
Deckengemälde an. Oder ich blicke einfach nur durch die bunten
Glasfenster und beobachte, wie das Licht über die verschiedenen Farben
spielt und hunderte von Reflexen an die Wände zaubert. Oftmals versuche ich auch einfach nur, die Symbole zu
entschlüsseln. Jahre später war ich schon Co-Betreuer bei einer dieser
Reisen, und da ein Übersetzer fehlte habe ich die englische Führung für
einen Teil der Gruppe übersetzt. Nun gut, ich habe natürlich auch nicht
alles verstanden, was der Führer sagte. Das lag aber nicht nur an meinem
fehlenden Fach-Englisch, sondern auch daran, dass der Mann einfach zu
weit weg stand. Also habe ich wild improvisiert und eine Menge
Geschichten über die Kirche erfunden. Leider bin ich später damit
aufgeflogen ... Nun, in dieser Kirche fand ich auf jeden Fall etwas wieder,
was ich jahrelang verloren geglaubt hatte. Ich hatte es gesucht, aber
nicht gefunden. Als ich in der Bank saß, und ganz verzückt auf das große
Fenster hinter dem Altar schaute, sah ich es wieder. Das weiße Licht.
Und auf einmal war mir wieder klar, dass ich mir keine Sorgen machen
müssen. Irgendwas würde meinem Leben einen Sinn geben.
Fragment II Hallo Salamander, nicht wundern – es folgt Teil II jenes Rückblicks auf mein
Leben, der zehn Jahre lang unbearbeitet herumlag. Wie bei Teil I gilt:
Du darfst überspringen, was dich nicht interessiert. Wie immer. Dein Homo Magi Von meiner 11. Klasse gibt es noch ein Foto. Wir sind 27.
Dreizehn Jahre später, auf meinem Treffen zur Feier des zehnjährigen
Abiturs, war schon einer Tod. Autounfall. Aus der Jahrgangsstufe war
ebenso eine andere Frau verstorben. Autounfall. Ein Teil ist
verschollen. Venezuela, USA, Naher Osten. Einige sind zwar noch am
Leben, und auch ihre Adressen sind bekannt. Aber an Kontakt hatten sie
wohl kein Interesse. Einige wenige kamen. Bei meinen Lehrern sieht es nicht viel besser aus. Ein
Klassenlehrer ist an einem Wurstbrot erstickt, einer an AIDS gestorben.
Der erste AIDS Fall, der mich wirklich selber betroffen hat. Okay, Klaus
Nomi habe ich bewusst mitbekommen und auch das erste Mal begriffen, dass
es eine tödliche Krankheit gibt, die nicht heilbar zu sein scheint. Aber
anfangs – sogar über den Tod von Klaus Nomi hinaus – dachte ich, es
würde nur Schwule treffen und ich hätte keine Schwulen in meinem
Bekanntenkreis. Einen Lehrer zu verlieren, den ich sehr geschätzt habe,
war für mich sehr schwer. Es ging gar nicht darum, dass er schwul war.
Das habe ich während der Oberstufe nicht mitbekommen – obwohl natürlich
jeder nachher behauptet hat, er hätte etwas geahnt. Es ging um das
Eindringen des Todes in meinen Bekanntenkreis. Und da hatte ich bis
zuletzt gehofft, dass ich davon verschont bleiben würde. Alte Tanten
trägt man zu Grabe, ab und an auch mal einen Großonkel. Aber nicht
Lehrer und Mitschüler. Ich sehe auf dem Klassenfoto nebenbei bescheuert aus.
Blass, kurze Haare und daher abstehende Ohren und einen schlecht
sitzenden Pullover am Körper. Irgendwie war ich nicht der hübscheste sechzehnjährige, den
man sich vorstellen kann. Trotzdem begann ich dann doch damit, mich dem
anderen Geschlecht zu nähern. Dieses Mal sogar mit Erfolg. Nun, meine
Mutter teilte mir irgendwann beim Bügeln mit, dass die Mutter meiner
Flamme mit ihr über mich gesprochen habe. Ich weiß nicht, aber ich
glaube auch heute noch, dass das sicherlich der Tag in meinem Leben war,
an dem mein Gesicht den rötesten Farbton angenommen hatte, den es jemals
hatte. Mein weiteres Leben in der Schule (nun bald auch als
Oberschüler) plätscherte so dahin. Dort tat sich wenig Herausragendes
für meine Person. Nun, die Schule war nett und sicherlich hoch
unterhaltsam, aber irgendwie schaffte sie es nicht, ihrem eigenen Ansatz
zu genügen und mir wirklich Dinge für das Leben mitzugeben. Ich habe
eine Menge Sachen gelernt, aber die sicherlich mehr nebenher. Die
Schulzeit war für mich eine günstige Gelegenheit, viel zu lesen. Zum
Teil las ich die Bücher auf dem Weg zur Schule, teilweise in den Pausen
oder sogar in den Stunden. In der Oberstufe hatte ich einen
Mathe-Lehrer, der es mir erlaubte, während der Stunden zu lesen, solange
ich damit einverstanden war, dass es einen Abzug auf meine mündliche
Note geben würde. Ich war damit einverstanden und habe damit einige sehr
ruhige Stunden in einem Raum voller schwitzender Klassenkameraden
verbracht. In diese Jahre fällt auch mein einziger Besuch in einer
Fastnachtssitzung. Mein Vater hatte für seinen Wahlkampf netterweise
beschlossen, alle Fastnachtssitzungen zu besuchen. Und das bedeutete
unter anderem, dass er sich eine Sitzung bis zu zehnmal anschauen
musste. Meine Mutter marschierte heldenhaft immer mit, aber irgendwann
war die Sache an meinem Bruder und mir hängengeblieben. Wir verabredeten
also, dass wir in der Pause tauschen wollten. Ich hielt heroisch die
erste Hälfte des Programmes durch und sehnte mich voller Inbrunst nach
der Pause zur Programmhälfte. Als ich dann mich von meinem Vater
verabschiedet und den Gang zum Ausgang entlanggelaufen war, sah ich
meinen Bruder schon fast kalkweiß an einer Wand lehnen. Er hatte, da er
früher gekommen war, die letzten zehn Minuten des Programms miterleben
dürfen und wusste nun, was weitere neunzig Minuten oder so auf ihn
zukommen würde. Ich hingegen hatte meinen Anteil schon hinter mir und
konnte mich voller Ruhe auf den Heimweg machen. Er war nicht begeistert,
und dass er nicht auf die Knie fiel, um von mir weitere Minuten der
Schonung zu erbetteln, war alles. Aber ich blieb natürlich hart, weil
unter einer solchen Drohung wie einer Karnevalssitzung sollte man nicht
nachgeben. Mein Geburtstag ist zwar der Rosenmontag, aber das hat in
mir keine Prägung hervorgerufen. Ich finde die Kostüme ganz nett und
einen Teil der Reden, solange sie wirklich frech und keck sind, auch
ganz unterhaltsam. Aber die normale Fastnacht langweilt mich zu Tode.
Ich verstehe einfach nicht, warum normale Menschen ein paar Tage im Jahr
brauchen, an denen sich sie besaufen und rumhuren können, damit sie den
Rest des Jahres wieder ganz normal ihr Leben ertragen. Sozusagen ein
Ventil in einer vorgegebenen Zeitspanne. Nun, mir erschien es immer
etwas widersinnig, dass mir ein Kalender vorschreibt, wann ich närrisch
sein darf. Ich bin närrisch wann es mir passt, und nicht dann, wenn der
Karneval es vorschreibt. Meine Vorliebe für Karnevalslieder ist ein anders Problem.
Ich mag einfach schlechte Musik, und Karnevalsmusik gehört nun
sicherlich dazu. Humba Humba und Ernst Neger sind für mich halt
Stimmungskanonen. „Mir wachen durch bis Morgen früh ...“ Zelten war noch nie eine besondere Vorliebe von mir. Ich
finde es toll, wenn man irgendwann tagsüber in einem Zelt sitzen kann.
Draußen ist es schön warm, vielleicht hat man Glück und der Wind spielt
um die Planen und alles ist hell und duftend. Doch wenn der Abend kommt,
und man liegt wohlbehütet im Zelt, wird es sicherlich erstens kalt und
zweitens nass. Ich weiß leider auch nicht, woran das liegt. Es scheint
eine Art Fluch zu sein, der auf dem Zelt und seiner Einrichtung liegt.
Tagsüber ist es warm und trocken, nachts ist es feucht und kalt. Als Jugendlicher war ich dann auch, sogar noch zu meiner
Schulzeit Betreuer für ein Zeltlager. Ich habe das einmal gemacht, nicht
öfters. Tagsüber hatten wir viel zu tun, und die Kinder waren auch immer
beschäftigt. Die einen holten Feuerholz, die anderen machten bei
irgendwelchen Spielen mit oder beschäftigten sich mit der Vor- oder
Nachbereitung der Mahlzeit. Doch nachts lagen alle Kinder mit ihren
Betreuern im Zelt, und alle Kinder hatten Angst und wollten nicht
schlafen. Und der Betreuer wollte natürlich – zumindest soweit es sich
dabei um mich handelte – schlafen. Und das konnte man erst, wenn das
letzte Kind eingeschlafen war, und das konnte man nur, bis das erste
Kind aufgewacht war. Kein sehr angenehmer Zustand. Ich bin sowieso kein sehr guter Schläfer gewesen. Eine Zeit
lang gaben mich meine Eltern in psychologische Betreuung, weil ich ihnen
zu unruhig schlief. Nun, dies ist ein verständliches Problem bei
Jugendlichen. Ich hatte einfach Angst vor dem Einschlafen. Abends lag
ich dann im Bett und stellte mir den Wecker immer so ein, dass er in
zehn Minuten angehen würde. Dann wartete ich darauf, dass ich
einschlafen würde und hoffte darauf, dass die Gewissheit, dass der
Wecker mich wieder wecken würde, meine Angst vor dem Schlafen überlisten
könnte. Meistens hat es nicht geklappt, und ich lag dann bis zwei oder
drei Uhr wach. Ab und an hatte ich Glück, und irgendjemand im Haus war
noch wach und beschäftigte sich mit mir. Als ich ein kleines Kind war,
war dies des Öfteren mein Vater, der mit mir Schach spielte oder
zumindestens mit mir sprach. Doch später meinte meine Mutter, es sei
nicht gut für mich, wenn ich mich jeden Abend spät mit meinem Vater
unterhielt. Sie unterband das, und nun lag ich alleine im Bett und
konnte nur darauf hoffen, dass ich durch Heulen oder Schluchzen
irgendjemand an mein Bett bekam. Meistens war es hoffnungslos. Wenn der Trick mit dem Wecker nicht funktionierte, dann
weigerte ich mich einfach einzuschlafen. Oftmals war es dann reine
Erschöpfung, die mich einschlafen ließ. Manchmal habe ich mich auch
einfach in den Schlaf geweint. Und viele Male lang hatte ich das Gefühl,
ich hätte überhaupt nicht geschlafen. Ich weiß auch nicht, was es war, dass mich dann wirklich am
Schlafen gehindert hat. Ich glaube, dass es das Gefühl war, nicht Herr
meines Schlafes zu sein. Schlaf überkommt einen einfach, ohne dass man
etwas dagegen tun kann. Er ist da, und man selber ist zwar noch als
Körper am Leben, aber ohne einen wachen Geist. Eine Art von kleinem Tod
im Schlaf. Und davor hatte ich Angst. Leider hat es keiner verstanden. Irgendwann ging es dann weg. Meine Angst vor dem Schlaf
verschwand nicht, aber meine Angst vor dem Tod verschwand. Seitdem
schlafe ich ein, wenn ich mich hinlege, und schlafe durch wie ein Stein.
Nur einmal im Jahr erinnere ich mich meiner durchwachten Nächte und
bleibe lange wach, ohne einschlafen zu können. Doch meistens klappt es,
und ich hoffe, dass es auch weiterhin so bleiben wird. Später, in der Oberstufe, hatte ich dann kurzfristig das
Gefühl, mein Leben in der Hand zu haben und wirklich kontrollieren zu
können, was mit mir passiert. Meine Mitschülerinnen und Mitschüler
sprachen mit mir, ich hatte gute Noten und eigentlich das Gefühl, gut
integriert zu sein. Aber ich war zu sehr Schalk, um wirklich „Teil der Masse“
zu sein. Einmal hielt ich mit einem guten Freund zusammen ein Seminar
über eine christliche Sekte, die wir erfunden hatten – die „Eicherüben“
nach dem Anagramm für die Bücherei, in der wir immer unsere Pausen
verbrachten. Die Bücherei war der Ort zur Verwaltung der Buchbestände
der Schule, und er wurde von freiwilligen Schülern verwaltet. Dies hatte
den Vorteil, dass man von dort aus immer gut überblicken konnte, was an
Büchern im nächsten Schuljahr auf einen zukam. Und man wusste auch immer
eine gute Ausrede, wenn man sich aus dem Unterricht abseilen wollte.
Nichts überzeugt einen Lehrer so sehr wie die Auskunft, man wolle ihm
freiwillig Arbeit ersparen gehen. Ein letzter wichtiger Punkt für die
Existenz der Bibliothek bzw. für meine Mitarbeit bei ihr war der
Abfalleimer vor der Bücherei. Im Nachbarraum stand nämlich der Spiritus-Umdrucker,
auf dem manche Lehrer immer noch ihre Arbeiten herstellten. Danach
warfen sie die Wachsmatrize in den Mülleimer und verschwanden glücklich
mit ihren nach Spiritus riechenden Klassenarbeiten. Wir nahmen uns ein
sauberes Blatt, legten die Matrize darauf und lasen in aller Gemütsruhe
die Texte für die folgende Klausur. Wenn wir Glück hatten, kannten wir
jemanden, der bei der Arbeit mitschreiben sollte oder waren selber
betroffen. Wenn wir Pech hatten, konnten wir niemandem behilflich sein.
Wir hatten aber oft Glück. Eine andere Betätigung war die Schülerzeitung. Ich weiß
nicht mehr ganz genau, wie ich dazu kam, für die Schülerzeitung zu
schreiben. Ich vermute einfach mal, dass mein Bruder schuld war. Der
arbeitete nämlich bei der anderen Schülerzeitung der Schule mit, und da
habe ich dann ab und an ein paar Zeilen für geschrieben. Und irgendwann
lernte man die andere Redaktion kennen, und ich fing dann an, für die zu
arbeiten. War auch viel lukrativer, die hatten ein eigenes Zimmer. Oder
vielleicht war es auch ganz anders. Wir haben inzwischen so oft über
diese Zeitung gesprochen, dass ich gar nicht mehr weiß, was damals
eigentlich passiert ist. Sie hieß „Chaos“ und hatte ein Redaktionszimmer. Dort
standen ein Kühlschrank, ein Regal mit alten Ausgaben und „Recherchenmaterial“,
ein Tisch mit Stühlen und eine Korkwand, auf die man sehr gut mit einem
bereitliegenden Spachtel werfen konnte. Unter der Korkwand lag eine
Matratzenflut, in der man sich – so man Gelegenheit und Charme dazu
hatte – mit diversen Damen vergnügen konnte. Ich weiß auch nicht mehr, was an der Schülerzeitung so toll
war, dass ich einige der Mitarbeiter noch heute, immerhin über zehn
Jahre später noch treffe. Einmal war es natürlich die gemeinsame
Schulzeit, die im Rückblick immer verklärt wird. Zum anderen waren es
auch die gemeinsamen Interessen. Und das war mehr als die einfache
Formel „Mädel und Alkohol“. Man las dieselben Bücher, obskurerweise
sogar aus demselben Genre, nämlich aus dem weiten Bereich der Phantastik
– mag es nun Fantasy oder gar Science Fiction gewesen sein, man war
nicht mehr alleine. Dann waren es dieselben Spiele. Wir haben
Wochenenden damit verbracht, bei einem der Mitarbeiter im elterlichen
Keller zu sitzen und stundenlang Rollenspiele zu machen. Was anfing wie
ein nettes kleines Einzelspiel wurde im Lauf der Monate und Jahre zu
einer Aktenordner füllenden Flut von Unterlagen samt ausgearbeiteten
Sonderregeln und Zeichnungen. Wir hatten also einfach etwas, was uns
über die Schule hinaus verband. Und wir waren alle irgendwie Ausgestoßene. Sicherlich
würden meine Kameraden von heute das wild leugnen, und auch ich würde
mich in jeder Diskussion weigern, das Wort Ausgestoßene hier stehen zu
lassen. Aber ich fühlte mich verstoßen und wiedergefunden, aufgenommen
und angenommen. Hier hatte ich eine Runde von Schwachköpfen entdeckt,
die genauso schwachköpfig war wie ich. Und wir publizierten. Sicherlich ist eine Schülerzeitung nicht das ideale
Instrument, um damit einen Meinungsumschwung in der Bevölkerung
hervorzurufen. Aber wir hatten unseren Spaß, und unsere Leser auch. Und
manchmal haben wir es sogar geschafft, Dinge gemeinsam zu tun, die wir
ohne die Zeitung nicht hätten machen können. Zwei Dinge sind mir noch
lebhaft im Gedächtnis. Im einen Fall war der Neubau eines Schulgebäudes
fertig geworden, aber noch nicht eröffnet. Und wir wussten, dass dieses
Gebäude wesentlich größer geplant worden war, als es dann tatsächlich
gebaut worden war. Das heute stehende Gebäude bildet auch weniger als
die Hälfte des geplanten Baus. Da aber logischerweise Heizung etc. schon
eingebaut werden mussten, und da niemand zwei halbe Heizungen bauen wird
musste hier in diesem Gebäudeteil die Heizung für das ganze Gebäude
stehen. Analog war das bei anderen Einrichtungsteilen, wie zum Beispiel
den drei überdimensionierten Kaminen (die nicht umsonst zum heimlichen
Symbol der Schule geworden sind) und der Wasserversorgung. Ich umrundete
also den Neubau, machte einige Schätzungen wegen der Größe und sprach
mit einem der Hausmeister. Flugs war der Artikel über Heizungsplanungen,
verschwendete Steuergelder und megalomanische Schulneubauten verfasst.
Der Direktor war wenig erfreut. Er, ein eher etwas aufbrausender Mensch,
wollte dann doch zu gerne mal einige Worte mit mir reden. Ich aber nicht
mit ihm. Das andere Mal hatten wir einen der Lehrer im volltrunkenen
Zustand dabei erwischt, wie er den Fußboden der Schule vollmalte. Nun
gut, es war Schulfest, und viel passiert ist nicht. Aber wir wollten
dann doch etwas dabei herausschlagen. Wir druckten also ein Sonderblatt
der Zeitung mit einer Darstellung der ganzen Geschichte, ohne jedoch
seinen Namen zu nennen. Dann zeigten wir ihm die Stapel von Papier, auf
denen immer obenauf eine Kopie des Sonderblattes lag. Das ganze sah aus,
als hätten wir dreitausend Kopien gemacht, obwohl wir aber nur fünf
gemacht hatten. Vier davon lagen auf den Papierstapeln, das fünfte hatte
er in der Hand. Wir erzählten scheinheilig, dass ein „Informant“ uns
versprochen hätte, dass wir den Namen des Lehrers in der zweiten Nummer
veröffentlichen könnten, wenn wir erst einmal groß Propaganda machen
könnten. Der Lehrer, der nicht ahnte, dass wir genau wussten, dass er es
gewesen war, wähnte sich umgeben von dreitausend Flugblättern, die
seinen Untergang bedeutet hätten. Er handelte mit uns, er flehte uns an
und gestand alles. Wir holten einen Kasten Bier heraus und gestanden ihm
dann freimütig, dass wir sowieso nur eine Handvoll Zettel gemacht haben.
Er zahlte trotzdem. Man soll sich ja auch nie gegen die geballte Macht
der Presse stellen, selbst wenn diese nur aus einigen frühreifen Jungen
besteht. Ich stellte fest, dass ich mit hinter meinem Geschreibe
verstecken konnte. Das Ausdrücken in schriftlicher Form lag mir. Ich
spielte gerne mit Worten, mit Zusammenhängen oder Kombinationen. Und
hier hatte ich ein Betätigungsfeld, welches mir wie ein unbesätes Feld
vorkam. Alles war da, ich musste nur noch säen und auf die Ernte warten.
Der Rest wurde organisiert. Natürlich war es am Anfang nicht so einfach
für mich, einfach ein paar Worte aufs Papier zu bannen und diese dann zu
veröffentlichen. Zum Glück versteckten wir uns eine Zeit lang hinter
relativ lächerlichen Pseudonymen. Lächerlich deswegen, weil diese
Pseudonyme dieselben Initialen hatten wie unsere echten Namen. Also
konnte jeder, der uns kannte, oder auch diejenigen, die uns nicht
kannten, aber die Realnamen im Impressum lesen konnten und sich einen
Reim darauf machen konnten relativ leicht herausfinden, wer wohl wer
war. Mein „Tarnname“ gefiel mir so gut, dass ich ihn über viele Jahre
hinweg immer wieder verwendet habe. Er taucht in Geschichten von mir
auf, ich habe diesen Namen als Mitspieler in einem Briefspiel getragen,
ich war es einmal auf einer Faschingsparty (netterweise verfügte ich
zufällig über die entsprechende Bekleidung), ich nannte mich oder andere
Figuren im Rollenspiel so. Normalerweise finde ich es lächerlich, wenn nicht gar
lästig, wenn sich jemand hinter Pseudonymen versteckt. Es nimmt einem
selber irgendwie doch die Ehrlichkeit, wenn man die Leute nicht mit
seinem wahren Ich konfrontieren will. Irgendwie schreibt man hinter
einer Maske. Als würde der normale Mensch, der ein Buch liest, durch die
Innenstädte pilgern und nach Klingelschildern suchen, hinter denen sein
Idol wohnen könnte. Und die meisten Pseudonyme werden doch irgendwann
geknackt, wenn sie von Anfang nicht sowieso mehr eine nette Tarnung als
ein echtes Pseudonym sind. Ich rede nicht von Künstlernamen, bittesehr!
Wenn jemand einen ausgesprochen schrecklichen Namen sein eigen nennt
oder aus Rücksicht auf seine Familie oder weiß Gott wen unter anderem
Namen lebt und arbeitet, dann soll mir das Recht sein. Aber ich vermute
ganz einfach mal, dass es mir am liebsten ist, im Restaurant mit
demselben Namen angesprochen zu werden, den ich auch in meinem Ausweis
stehen habe. Und der Name in meinem Ausweis sollte auch über oder unter
den Texten stehen, die ich selber verfasse. Das hat sicherlich auch etwas mit einem Schuss Eitelkeit zu
tun. Sicherlich. Aber es sind mindestens zwei Schüsse Ehrlichkeit auf
jeden Schuss Eitelkeit dabei. Für mich waren diese Jahre der Oberstufe aber auch Jahre
des Nachdenkens. Es gab auf einmal Debatten, welche die Schule spaltete.
Es ging um Atomkraft, und ihre Gefahren. Sechzehnjährige können
eigentlich schon ganz gut begreifen, was eine atomare Explosion
bedeutet. Und es ist schon schlimm genug, wenn sie sich freiwillig Filme
über Atombombenabwürfe und Strahlenopfer anschauen, um herauszufinden,
was wirklich hinter der Hysterie um die Atomkraft steckt. Aber noch
schlimmer ist es, wenn sie sich erst Sorgen machen, sich engagieren und
versuchen herauszufinden, was eigentlich ihr eigener Weg in dieser
Auseinandersetzung ist, um dann von „Erwachsenen“ zu erfahren, dass sie
zu jung und/oder dumm sind, um die ganzen Zusammenhänge zu begreifen. Die Zusammenhänge waren aber genau das, was auf einmal aus
dem Ruder lief. Es gab die Bewegung gegen die Atomkraft, deren rote
Sonnen auf gelbem Grund einem überall entgegen leuchteten. Es gab die
Frage der Startbahn West, die gerade in Südhessen eine Menge Streit und
Auseinandersetzung erzeugte. Und es gab die Frage der Nachrüstung und
die damit verbundenen Menschenketten. Für mich waren die Menschenketten
und die großen Demonstrationen das prägende Ereignis. Anfangs waren wir
wenige, die sich in Friedensinitiativen trafen, um darüber nachzudenken,
was eigentlich mit uns und unserer Welt geschieht. Wir wurden mehr und
mehr. Im Laufe der Tage und Wochen wurden wir auch immer belesener,
unsere Informationen wurden zuverlässiger, wir hantierten mit Zahlen von
konventioneller und atomarer Rüstung wie andere mit PS-Werten auf
Quartettkarten. Und im Laufe der Zeit entstand eine gewisse
Widerstandskultur. Eine Seite war, dass man gewisse Gesichter in der
Masse erst wiedererkannte, dann identifizieren konnte. Wir waren eine
eingeschworene Gemeinschaft, die immer mit denselben Bussen zu
Demonstrationen fuhr. Wir lernten uns kennen, stritten uns, verliebten
uns, mochten uns, hassten uns. Aber wir hatten ein gemeinsames Ziel. Die
Abrüstung und die Verhinderung der Nachrüstung in Westdeutschland. Viele Straßen sind mir noch im Gedächtnis, auf denen ich
stand, Hand in Hand mit wildfremden Menschen, doch durch sie mit einer
langen Kette verbunden, die sich buchstäblich von Horizont zu Horizont
erstreckte. Viele schlammige Plätze würde ich vielleicht wiedererkennen,
auf denen ich belegte Brötchen aß. Sogar der Messplatz meiner
Heimatstadt ist mir im Gedächtnis, weil ich dort einem Konzert von
friedensbewegten Liedermachern zugehört habe. Um mich herum der Geruch
von Patschuli, Frauen in offenen Sandalen, Männer in Inka-Hemden oder
handgestrickten Pullovern, Kinder in Tragetüchern, Teetassen und
selbstgedrehte Zigaretten. Es war irgendwie ein neues Lebensgefühl, das
auch auf mich übergriff. Nimm es leicht, die Erde geht vielleicht bald
unter. Aber auch: wehre dich täglich und verteidige die wenigen
Freiräume, in denen du dich wirklich engagieren willst. Und lerne zu
erkennen, dass Autoritäten sich vom Sockel stoßen lassen, wenn du gut
vorbereitet bist. So ist die Organisation einer Veranstaltung mit einem
überlebenden KZ-Häftling und einem ehemaligen Wehrmachts-Offizier an
meiner Schule deswegen mir in so schlechter Erinnerung, weil die beiden
sich von vergangenen Veranstaltungen kannten, sich als freundliche
Zeitzeugen darstellten und überhaupt mehr nostalgische Erinnerungen
austauschten als über Politik zu sprechen. Mein Freund Richard und ich
waren die Diskussionsleiter, und wir hatten auf einmal keine Diskussion,
die wir leiten konnten. Ich litt auf dem Podium, ich litt unter dem
Gefühl, dass diese beiden alten Männer mir die wahren Streitpunkte
vorenthalten, dass sie sich gegenseitig so gerne haben, dass sie sich
nicht trauen, sich wirklich weh zu tun. Ich habe daraus gelernt,
nämlich, dass man manchmal zum Gewinn von Erfahrung Leute zwingen muss,
sich mit Problemen zu beschäftigen. Eine Art von Sezieren, das gebe ich
gerne zu. Und es gefällt auch nicht jedem. Aber es ist halt meine Art. Am Ende wurden die Raketen dann doch aufgestellt. Ich
glaube, da ist etwas in mir zerbrochen. Nicht etwa der Glaube an das
Gute, das wäre zu global. Aber der Glaube an die Beeinflussung der
Politik Deutschlands durch eine Bewegung aus dem Volke. Politiker haben
mit den Menschen, die sie vertreten sollen, nichts mehr zu tun. Und das
ist für einen Schüler keine angenehme Erkenntnis. Ein einziges anderes Mal hatte ich später das Gefühl, mich
in einer Bewegung zu befinden, die wirklich von der Bevölkerung
mitgetragen wird und auch Chancen hat, etwas zu erreichen. Die
Volkszählung zwang auf einmal ganz unterschiedliche Menschen an einen
Tisch. Da waren Widerstandskämpfer gegen Hitler neben überzeugten
Christen, Kommunisten neben Anarchisten, Schüler neben Beamten und
Auszubildende neben Rentnern. Wir haben die Volkszählung als Ereignis
nicht verhindern können. Aber wir haben uns mit allen Mitteln zur Wehr
gesetzt. Ich bin während der Zahlung umgezogen und hatte dann
„vergessen“, mich umzumelden. Auch wollte ich nicht mehr an die Tür
gehen, um damit den Erhalt des Bogens zu verhindern. Nun gut, ich gebe
gerne zu, dass das sehr sehr blauäugig war. Aber als dann der nette Herr
mit dem Bogen kam, da war ich gerade dabei im Flur Teppichboden zu
verlegen. Und damit ich in alle Ecken kam, war die Tür zum Treppenhaus
offen. Und da stand dann der freundliche Herr. Meiner Erfahrung aus den Vorbereitungssitzungen folgend
nahm ich den Bogen und ließ ihn nicht herein, um den Bogen mit mir
auszufüllen, sondern versprach baldige Rücksendung. Dies tat ich nicht,
der Bogen landete im Müll. Da gehörte er auch hin. Doch es kam das, was
keiner in unserer Initiative ernsthaft für möglich gehalten hatte. Die
Verwaltung machte ernst. Nach einigen Wochen kam eine „Erinnerung“, ich
habe doch versprochen meinen Bogen zuzusenden, und wo der denn bliebe.
Und außerdem war eine Mitteilung beigelegt, aus der ich dann ersehen
konnte, das man eine Strafe von einigen Tausend Mark zu erwarten hätte,
wenn der Bogen nicht beikäme. Den Bogen habe ich also ausgefüllt. Aber gebe Gott, wenn
alle so ausgefüllt haben wie ich! Völligen Dreck habe ich eingetragen,
völlig wirre Zahlen, die hoffentlich der auswertenden Körperschaft das
Gefühl vermittelt haben, ich würde am Hungertuch nagen und in einem
Kellerraum wohnen. War mir sehr recht so, ich habe von denen nie wieder
etwas gehört. Und wenn ich richtig informiert bin, dann sind die Daten
auch unverwendbar gewesen. Aber sollte jemand wieder versuchen, eine
Zählung durchzusetzen, dann werde ich wieder an einem Tisch sitzen und
dagegen sein. Nicht, weil wir die Zählung hätten verhindern können,
nein. Aber weil wir verhindert haben, dass die Zählung ein Ergebnis
hatte. Der mündige Bürger – und für einen halte ich mich – sollte
sich auch das Recht herausnehmen, gegen Aktionen des Staates zu
opponieren. Mir war klar geworden, dass der Staat kein abstraktes, gutes
Gebilde ist, sondern ein Konglomerat aus Menschen. Und diese haben nicht
immer das vor, was ich für mich als „das Beste“ bezeichnen würde. Und da
muss man sich eben wehren. Wer sich nicht wehrt, der lebt verkehrt.
Fragment III Hallo Salamander, der dritte (und letzte) Teil meines „eigenartigen“,
deutlich schon älteren Rückblicks. Dein Homo Magi Fragen Sie mich bitte nicht, was ich die letzten Tage
gemacht habe. Ich war hier, zu Hause. Ich bin jeden Morgen aufgestanden,
habe geduscht und mir die Haare gewaschen. Dann für uns zwei Frühstück
gemacht, und die Zeitung von unten hoch geholt. Den Müll dabei
rausgetragen oder das Altpapier, was eben gerade nötig war. Dann an die
Hochschule gefahren, und Unterlagen in der Bibliothek gesucht. Oder
gearbeitet. Oder gelesen. Oder Briefe geschrieben und Artikel
bearbeitet. Die letzten Tage habe ich sogar gearbeitet, so von richtig
morgens früh bis so richtig abends spät. Aber ich habe nicht daran
gedacht, zu schreiben. Es war mir so, als wäre die Zeit um mich herum gefroren,
als müsste ich mir jedes Wort aus der Feder zwingen beziehungsweise – um
im Bild unserer Zeit zu bleiben – so als müsste ich jeden einzelnen
Buchstaben mit einem glühenden Hammer auf einer riesigen Tastatur
anschlagen, bevor er auf dem Schirm erscheint. Und dann saß ich gestern Morgen im Zug. Ich war auf dem Weg
zur Arbeit, und hatte gerade ein paar Zeilen im von mir so geschätzten
Meyrink gelesen. Meyrink und Uhland, meine beiden Lieblinge. Schon eine
eigenartige Kombination, meinen sie nicht auch? Und auf einmal riss mir
eine Art Vorhang von Gesicht, ich konnte auf einmal auf die grüne
Landschaft so schauen, als hätte ich vorher immer einen Filter vor den
Augen gehabt. Alles war so klar, so deutlich und so doch so einfach
strukturiert. Zeit gibt es gar nicht in der Form, in der ich mich immer
vor ihr gefürchtet habe. Ich werde älter und ich werde sterben.
Sicherlich. Aber jetzt lebe ich, lebe in einer Hülle und Fülle, die man
sich kaum vorstellen kann. Die Intensität des Lebens war auf einmal in mich
zurückgekehrt. Es war, als wäre ich ein leeres Gefäß gewesen, bewegt vom
Sturm und ohne Sinn und Ziel. Doch jetzt hatte ich beides wieder
erhalten. Eine barmherzige Hand hatte mich angeleitet und mir just in
diesem Moment just diesen Text zu lesen gegeben. Zeit war doch gar nicht
wichtig, viel wichtiger war, was man tat. Ob jemand hundert Jahre alt
wird, und nur Scheiße macht, oder jemand zwanzig Jahre alt wird, und
alle Menschen um sich herum erfreut hat – das ist wichtig. Wichtig ist
nicht, was einer auf dem Konto hat. Natürlich ist es schön, alles kaufen
zu können, was man will. Aber macht es mich innerlich reich? Nein! Kann
ich etwas von dem, was ich erhalten habe, in den Tod mitnehmen? Nein.
Wenn ich sterbe, dann bin ich tot. Und sollte es eine Wiedergeburt
geben, dann kann ich sicherlich kein weltliches Gut mitnehmen.
Allerhöchstens meine Erinnerungen oder sogar nur einen Schatten derer. Und diese Erinnerungen heißt es zu schützen. Das Lachen von
Kindern, das Biegen von schlanken Blumen im Sturm. Der Blitz und der
Donner, die salzige Brandung und der gewundene Weg hinunter zum
Gletscher. Die aufgehende Sonne und der Lichtdom aus Wolken. Das sind
Reichtümer, dies sind die wahren Juwelen des Lebens. Ach, ihr aufgeblasenen Fatzkes, der ihr glaubt, die
Glückseligkeit kaufen oder erhandeln zu können. Ihr werdet sie in der
Welt nicht finden, wenn ihr sie nicht in euch selber gefunden habt. Und in euch selber werdet ihr nicht finden, weil ihr viel
zu sehr damit beschäftigt seid, eure Außenseiten braun und knusperig zu
halten. Und eure Muskelpakete anschwellen zu lassen, und eure kleinen
Bäuchlein zu verbergen oder zu vernichten. Ihr schätzt euch nach der
Verpackung ein. Lebende Mogelpackungen, die ihr seid. Und ich wurde ruhig. Und in meinem Hirn zerriss jener
unerträgliche Knoten, der mich am Schreiben gehindert hatte wie tausend
Höllenhunde mit feurigen Augen. Eines war mir klar geworden. Selbst wenn
ich nichts an Geld und Gut hinterlassen könnte, dann würde ich doch
wenigstens diese Seiten hinterlassen. Und wenn nur ein Exemplar gedruckt
würde, dann würde ich dies verschenken und damit aus den Händen geben. Wer weiß, vielleicht ist dieses Werk in hundert
Generationen Lesestoff für Schulkinder. Ich bezweifele es. Aber ich habe
es wenigstens versucht. Das zählt. Sonst nichts. Die letzten Tage fesselten mich aus demselben Grunde, wie
es auch schon die Tage vor dieser Lücke taten. Ich dachte nach. Okay,
ich war auch ein paar Tage weg. Aber meist dachte ich nach. Doch zurück zu meinem Leben. Vielleicht kann ich, wenn ich
über mein Leben schreibe, mehr von dem vermitteln, was ich mir „erdacht“
habe, als auf jedem anderen Weg. Mit 18 Jahren, schleppte mich mein Vater nach Amerika. Ich
fand den Aufenthalt dort eher anstrengend als interessant. Es war eine
Geschäftsreise, und ich fühlte mich oftmals als eine Mischung zwischen
störendem Gepäck und billigem Übersetzer, denn als wirklichem
Reisebegleiter. Und Amerika – genauer: die USA – haben es mir nicht
angetan. Mir ist alles viel zu groß und viel zu laut, ich vermisse den
Abstand zwischen den Menschen, der in Deutschland eingehalten wird. Und
ich vermisse eine gewisse Zurückhaltung gegenüber Gott und der Welt. In
Amerika schien mir alles machbar, unabhängig vom gesteckten Ziel. Ich war noch nicht volljährig, und ich hielt eigentlich
nicht alles für machbar. Eher im Gegenteil. Trotzdem hatte der
Aufenthalt seine schönen Seiten. Ich sah New York und war von der UN und
dem Empire State Building begeistert – wenn man einmal vom Fahrstuhl
absieht, der mir doch einige Schweißausbrüche beigebracht hat. Eine
Fahrt mit dem Boot zwischen den kalten 1000 Islands (es war tiefster
Winter!) überlebten mein Vater und sein amerikanischer Freund nur mit
Unmengen Alkohols, und umso betrunkener die beiden wurden (und später
auch ich), umso unglaubhafter wurde die Szenerie von drei Männern in
einem offenen Motorboot, gehüllt in Schals und Mützen. Draußen lag der
Schnee auf den Inseln und vereinzelt schwamm Eis auf dem Wasser. Auf
einmal bogen wir um eine Biegung des Flusses, und vor uns tauchte eine
kleine Insel mit einem schottischen Schloss vor uns auf. Ein skurriler
Reicher hatte sie in der Mitte des letzten Jahrhunderts hierher
transportieren lassen, und hier stand sie nun, völlig verloren, und
schien darauf zu warten, dass sie jemand aus ihrem Dornröschenschlaf
erwecken würde. Ich tat es nicht. Eine andere Episode blieb mir im Gedächtnis haften: Ich
besuchte eine amerikanische Oberschule. Der Unterricht war langweilig,
unter dem Niveau meines Gymnasiums. Aber eine Frage hat mich erschreckt.
Man fragte mich, woher ich käme, und ich antwortete pflichtschuldig
„West Germany“. Auf die Gegenfrage „Warum Westen?“ antwortete ich, dass
unser Land geteilt sei. Daraufhin wurde ich nach dem „Warum?“ befragt.
Ich konnte nur ein „Weil wir den Krieg gegen Euch verloren haben!“
antworten, aber ich glaube, sie haben nicht ganz verstanden, warum mich
ihre Ignoranz ärgerte. Dieses Jahr sollte auch noch aus einem anderen Grunde
wichtig werden. Ich besuchte das zweite Mal ein wirklich großes Treffen
von Fans der Science Fiction Literatur. Wirklich groß heißt, dass sich
im Schwarzwald so um die hundertvierzig Leute getroffen haben dürften.
Im Jahr vorher war ich noch einfacher Besucher gewesen, doch nun durfte
ich mich „Mitveranstalter“ schimpfen. Daher musste ich stundenlang an
der Kasse stehen und Eintrittskarten überprüfen, oder irgendwelche Räume
säubern und Stühle stellen. Die Schwester des Veranstalters, der in den
folgenden Jahren zu einem sehr guten Freund werden sollte, war zwar ganz
nett, aber die Veranstaltung war trotzdem eine Plage. Ich weiß nicht,
warum das Gebäude einige Wochen später abgerissen worden ist. An der
Ordnung und Sauberkeit lag es nicht, denn wir haben uns große Mühe
gegeben, die Räumlichkeiten in angemessenem Zustand zu hinterlassen. Ich fühlte mich eine Zeit lang wie im Himmel. Die Leute
erkannten einen wieder; viele standen mit mir in Briefkontakt oder
hatten von mir oder über mich gelesen. Man unterhielt sich wirklich noch
über Bücher, die man gelesen hatte, und diskutierte die weitere
Entwicklung von Serien und Reihen. Es gefiel mir so gut, dass ich einige
Wochen später auf eine andere Veranstaltung nach Nürnberg fuhr. Bekannte
hatten mich mitgenommen, und ich war ganz froh, dass ich dort nicht
alleine war, weil hier für meinen Geschmack etwas die Wahnsinnigen die
Oberhand über die Normalen zu behalten schienen. Hier war mein erster
Kontakt zu den vielen vielen Raumschiff Enterprise Fans, die in ihren
Star Trek-Uniformen herumliefen. Für mich sehen sie heute noch aus wie
eine Mischung zwischen Schützenverein und Wehrsportgruppe. Da ich mit
einem natürlichen Widerwillen gegen alles ausgestattet bin, was
Uniformen trägt, habe ich mich mit diesen Leuten nie anfreunden können.
Vielleicht war das auch ganz gut so, weil in dieser Szene scheint die
Zahl von absoluten Nulldübeln sehr stark zu überwiegen. Auf dieser Veranstaltung wurde ich auf jeden Fall für einen
Fantasy-Verein geworben. Dieser sei schon sehr alt und stark an
Mitgliedern, doch würde man sich trotzdem freuen, junge Leute
aufzunehmen. Alle schienen ganz angetan, und meine Faszination war
geweckt. Die Veranstaltung im Sommer sollte zwar sieben Tage dauern,
aber es würde auch völlig genügen, wenn ich nur für das Wochenende
kommen würde. Das tat ich dann auch. Inzwischen war ich ja volljährig,
und von meinen Eltern in meiner Urlaubsplanung nicht mehr so stark
abhängig wie noch in den Jahren zuvor. Ich plante also meine Fahrt nach
Passau generalstabsmäßig durch, und es funktionierte – eigentlich wider
Erwarten – gut. Und das überraschende Wort, dass ich mich dort wirklich
gut aufgenommen fühlte. Ich hatte die paar Stunden, die ich wirklich
wach und aktiv dort war, viel Spaß. Es gab eine Menge Leute, die ich
interessant fand, und die Leute, die ich nicht interessant fand, ließen
mich in Frieden. Und was mir auch sehr gut gefiel, war der Versuch dieser
Leute, eine Phantasiewelt zu simulieren. Viele trugen farbenprächtige
Gewänder, die sie liebevoll „Gewandungen“ nannten, und redeten sich mit
eigenartigen Phantasienamen an. Man trug Wappen und andere heraldische
Zeichen, die die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Land oder einer
bestimmten Gruppierung anzeigten. Irgendwie war es eine Mischung aus
ständischer Bürgerversammlung und mittelalterlichem Markt. Ich fühlte
mich schon in meiner normalen Umgebung als etwas ausgefallen, doch hier
wurde ich völlig akzeptiert. Nun, ich beschloss also, in Zukunft in
diesem Rahmen etwas aktiver zu werden. Da dieser Verein sich
praktischerweise jeden Sommer seit vielen Jahren für eine Woche traf,
plante ich die Sommer der nächsten Dekaden durch. Erst in der Oberstufe lernte ich meine Mitschüler erst
richtig kennen und eigentlich auch gern haben (lieben zu sagen wäre nun
wirklich zu viel gesagt). Ich hatte zwei Leistungsfächer, Englisch und
Gesellschaftskunde. Das erstere wählte ich eigentlich aus einer Mischung
aus Liebe und Trotz. Liebe deswegen, weil ich die Musik verstehen
wollte, die ich mochte. Den Beat, den Rock’n’Roll, den Blues, den Rock –
alles gesungen auf Englisch. Und Trotz deswegen, weil die Frau, die mir
in der Förderstufe und in den ersten Jahren des Gymnasiums
Englischunterricht erteilt hatte, mein Englisch für ausgesprochen
schlecht hielt. Also wählte ich, und sei es nur, um ihr etwas zu
beweisen, Englisch zum Leistungsfach. Und später dann meinen
Englischlehrer zum Tutor, also einer Art Klassenlehrer. Er ist dann
einige Jahre später an AIDS gestorben. Der erste AIDS-Tote, der mich
selber getroffen hat. Okay, ich wusste, dass der Mann mit der tollen
Stimme, Klaus Nomi, an AIDS gestorben war. Aber es ist doch irgendwie
was anderes, über einen Toten zu lesen und sich ihm irgendwie vage
vertraut zu fühlen, oder bei einem Toten immer an einen Bären von Mann
zu denken, der mit seiner freundlichen und humorvollen Art eine gewisse
Art widerwillig erzeugten Respekt erzeugt hat. Nun ja, er ist leider
tot. Gemeinschaftskunde oder Gesellschaftskunde, ich weiß bis heute
nicht genau, für was die Abkürzung „GEK“ eigentlich stand. Es war ein
obskurer Mischmasch aus Geographie, Geschichte, Sozialkunde und vielem
anderen. Unser Lehrer war ein übriggebliebener überzeugter Kommunist,
und der Unterricht war immer sehr unterhaltsam. Und sei es nur, weil der
einzige konservative im Kurs immer mindestens eine „ausreichend“
erhielt, damit er dafür belohnt wurde, eine aussichtslose politische
Position zu vertreten. War schon irgendwie eigenartig. Mein Abitur habe ich mir dann zusammen geschummelt. Es gab
in der Oberstufe die Möglichkeit, die Kurse selber zu wählen. Damit
nicht jeder in die „Sahneschnittchen“ eilte, die durch die Kombination
aus netten Lehrer und einfachen Themen gebildet wurde, erhielt man eine
Zahl von Punkten, die man pro Halbjahr auf die Kurse setzen konnte. Die
mit den meisten Punkten in einem Kurs blieben dort, die anderen mussten
in einen Parallelkurs mit anderem Lehrer und/oder anderem Thema. Alle
legten eine bestimmte Zahl Punkte auf die Kurse. Nur nicht mein Freund
und ich. Er hatte nämlich herausbekommen, dass der schuleigene Computer
die Punkte zwar auswertet, aber nicht zusammenzählt. Und wo alle anderen
nur zwanzig Punkte setzten, setzten wir an die fünfundsiebzig. Mit
durchschlagendem Erfolg. Die andere gute Idee war die Erkenntnis, dass
die andauernde Neureformierung der Oberstufe auch zu einigen Fehlern
geführt hatte. Ein Fehler war ein fehlendes Komma, welches mir die
Möglichkeit gab, evangelische und katholische Religion als getrennte
Fächer angerechnet zu bekommen. Ich ging mit meiner Auslegung bis zum
Schulleiter, und der musste sie mir erst bestätigen. Dann stellte ich
meine Liste zusammen. Englisch und GEK als Leistungsfächer, dazu
Mathematik und evangelische Religion als Prüfungsfächer. Zwei
zusätzliche freie Grundkurse für GEK, zwei zusätzliche freie Grundkurse
für evangelische Religion – zusätzlich zu denen, die man wegen der
Prüfungsfächer bzw. Leistungsfächer machen musste. Und dann fügte ich
noch fünf Kurse katholische Religion ein. Damit wurden die
Naturwissenschaften praktisch auf das Prüfungsfach Mathematik reduziert,
die Sprachen auf einen Kurs Deutsch und Englisch, Sport fand nur
marginal statt und ich hatte am Ende im Abizeugnis einen Anteil für GEK
und Religion von über vierzig Prozent. Ich sage ganz ehrlich, an diese
Art von Abitur konnte ich mich gewöhnen. Meine Schulzeit endete dann eher unspektakulär. Wir machten
noch eine Abschlussfahrt. In der Oberstufe gibt es ja keine Klassen
mehr, jeder hat zwei Leistungskurse. Und ich fand es schon bezeichnend,
als keiner meiner beiden Leistungskurse es auf die Reihe brachte, zu
verreisen. Also wurde unserem Englisch-Kurs „gnadenhalber“ von den
beiden Parallelkursen angeboten, dass wir doch mit ihnen verreisen
könnten. Nun, ich – und einige andere – nahmen das Angebot an. Aber es
war doch nicht dasselbe wir eine gemeinsame Fahrt, wir blieben nur ein
Anhängsel. Trotzdem fand ich es sehr angenehm, mal wieder nach England
zu fahren. Ich hatte dort schon einige Sommeraufenthalte mit
Sprachkursen hinter mich gebracht, und auch ein Wochenende samt
Hotelbrand. Aber jetzt war ich in einem Alter, in dem ich mit England
wirklich etwas anfangen konnte, und ich wollte es mir so richtig gut
ergehen lassen. Salisbury war unser Ziel, und diese Stadt ist
mittelalterlich genug, um charmant zu sein, und modern genug, um
angenehm zu sein. Aber auch kulturelle kam ich auf meine Kosten –
Shakespears Geburtshaus, die Kathedrale in allen Positionen, der kalte
englische Strand, Old Sarum, eine Art ehemalige Altstadt von Salisbury
und als krönender Abschluss Stonehenge. Schon damals war die Anlage
nicht mehr offen zugänglich, weil irgendwelche total verblödeten
Neonazis die Steine mit Hakenkreuzen und ähnlichem beschmiert hatten –
vielleicht konnten sie nicht verwinden, dass dieses monumentale Bauwerk
vor ihren heißgeliebten blaublond Ariern in England war. Vielleicht
waren sie auch einfach nur doof. Auf jeden Fall musste man die Straße in
einem Tunnel unterqueren, und um die Steine herum erstreckten sich tolle
Stacheldrahtzäune. Wunderschön. Aber die Steine haben es mir angetan,
sie sind wirklich einmalig. Heute gerade darüber nachgedacht, ob die Reizüberflutung
durch Fernsehen und Radio den Menschen vielleicht die Formulierungskraft
raubt. Komische Überlegungen. Schreibe ich also gegen den Verlust der
Sprache an? Ich beschließe, dieser Überlegung nicht weiter zu folgen,
weil sie mich in Täler bringt, die ich nicht erforschen will. Ich war jetzt neunzehn Jahre alt, immer noch ohne Brille
und eigentlich ganz gutaussehend. Zumindest hatte ich mich inzwischen
dazu durchgerungen, dieses Selbstbild zu akzeptieren. Lange Kämpfe habe
ich dafür mit mir selber austragen müssen. Ein wichtiges Prüffeld war
für mich immer der Bereich der Fans der phantastischen Literatur (oder
sagen wir weniger verschämt ruhig Fantasy und Science Fiction, auch wenn
diese Begriffe beinahe etwas verpönt sind). Die sind nämlich meist
ungepflegt und hässlich, so wie man sich überraschenderweise heute die
typischen Computer-Wahnsinnigen vorstellt. Nun, auch passionierte
Spieler sehen so aus, und wahrscheinlich die meisten Leute an den
Biertischen in Sportvereinen. Aber ich muss sagen, dass ich doch
überrascht war, dass jemand wie ich, der sich hässlich fand, auf einmal
so herausstach. Irgendwie war mir also der Umkehrschluss von der
völligen Verschlossenheit samt Unterschätzung zur Überschätzung
gelungen. Ich hielt mich für toll, wurde von meinen Freunden sogar darin
bestätigt, und viel ein paarmal ziemlich blutig auf die Fresse. Auch
eine Erfahrung. Auf jeden Fall gönnte ich mir mit neunzehn Jahren noch
einige Urlaube, denn im Sommer war meine schöne Schulzeit zu Ende. Und
während andere Leute sich schon nach dem Abitur in der Sonne aalten,
durfte ich etwa zehnmal versuchen, mich operieren zu lassen. Meine Nase hatte ich mir als Kind gebrochen (eine lange
Geschichte, die etwas mit meiner Großmutter, einem Spediteur und einer
Kiste voller Zwiebelmusterkannen zu tun hat), und jetzt – endlich –
konnte das Ding gerichtet werden, weil ich ausgewachsen war. So dachte
ich zumindest. Die Nase war also verschiedenen Fachärzten vorgeführt und
für operabel befunden worden. Dann stellte ich mich in der Klinik an.
Nun, drei- oder viermal musste ich wieder heim, weil kein Bett frei war.
Einmal hatten sich mich schon betäubt in den OP geschoben, da brach der
Chefarzt wegen eines Pickels (!) auf meiner Nase ab. Ich bin dann in
halb betäubtem Zustand heimgelaufen, wo meine Mutter mich erblickte und
sofort im Krankenhaus anrief, ob ich denen davongelaufen war. War ich
nicht. Aber einmal gelang es mir dann doch, mit absoluter
Treffsicherheit den heißesten Tag des Jahres herauszupicken und mit
bandagierter Nase aufzuwachen. Es war ziemlich widerlich, denn ich hatte
Watte (sogenannte Tampons) in der Nase und total zugeschwollene Augen.
Außerdem überall Klebestreifen im Gesicht. Würg. Aber ich habe es
irgendwie hinter mich gebracht. Und scheinbar hatte ich es auch
geschafft, dem Arzt vorher eindeutig klar zu machen, dass ich nein,
danke, überhaupt nicht eine Schönheitsoperation wollte. Nur wieder durch
die Nase atmen zu können war mein Traum. Nicht länger Erstickungsanfälle
im Schwimmbad, nicht länger Nasentropfen bei jedem kleinen Schnupfen,
nicht länger Schwierigkeiten beim Riechen. Nun ja, man kann nicht alles
haben, aber die meisten Sachen davon sind in Ordnung gekommen. Und die
fehlende Schönheitsoperation brachte mir eine eigentlich ganz hübsche
Nase, die nur später ein wenig Schwierigkeiten brachte, als ich eine
Brille darauf klemmen wollte.
Traditionen Lieber Salamander, wenn alle Asatru sich Teil der religiösen Traditionen der
germanischen Völker sind, aber nicht alle Teile der religiösen Traditionen der
germanischen Völker Asatru sind, und wenn alle Vanatru Teil der religiösen Traditionen der
germanischen Völker sind, aber nicht alle Teile der religiösen Traditionen der
germanischen Völker Vanatru und nicht alle Vanatru Asatru, aber alle Asatru Vanatru, sind dann jene, die nicht Vanatru oder Asatru oder Vanatru
und Asatru sind, aber Teil der religiösen Traditionen der germanischen
Völker, keine Heiden? Wenn aber alle Teile der religiösen Traditionen der
germanischen Völker Heiden sind, aber nicht alle Heiden Teil der religiösen Traditionen der
germanischen Völker, sind dann jene besser, die mehr nicht sind als jene, die mehr nicht nicht sind? Oder ist jener, der gleich nicht wie nicht nicht ist, nicht exakt das, was alle Heiden sein wollen, nämlich nicht und nicht-nicht, aber auf gar keinen Fall Monotheist – das nicht, um keinen Preis, niemals! Das nicht-wollen negiert das nicht-sollen und verbirgt das
nicht-können nicht. Dein Homo Magi
Wachs
Hallo Salamander,
kürzlich konnte ich auf einer Veranstaltung einen alten Mann beobachten,
der völlig glücklich mit einer Kerze spielte. Er hatte die Finger in das
auslaufende Wachs getaucht und spielte mit dem fließenden Wachs herum.
Mit einer aufgebogenen Büroklammer zog er kleine Furchen in das warme
Wachs und beobachtete neugierig, wie sich immer neue Flüsse von Wachs
über das langsam erkaltende Wachs am Stumpf der Kerze ergossen.
Es war ein alter Mann mit eisgrauem Haar, dicker Brille, gebeugtem Kopf,
altersfleckigen Händen. Seine Hände waren beeindruckend. Er hatte jene
wächsernen Fingernägel mit perfekten Monden, die nur junge Frauen und
alte Männer haben.
Das Licht, die Wärme, sie beide hatten ihn in ihrem Zauber gefangen. Er
hatte die Welt um sich herum vergessen, spielte nur mit den beiden
Dingen, die schon Kleinkinder faszinierend finden: Wärme und Licht. Wie
eine Rückkehr in den Mutterleib, der alte Mann, der kindlich fasziniert
wieder zu Spielen beginnt.
Ich weiß nicht, wie lange ich zugesehen habe. Zwei Minuten, zwanzig
Minuten – egal. Es wiederholte sich nichts, aber trotzdem war ich nicht
gelangweilt von dem Bild. Es war so ruhig, wie gemalt von einem „alten
Meister“. Es war schön und entspannt und irgendwie richtig.
Wenn das nächste Mal die Sorgen des Tages mich zu überwinden drohen,
werde ich an den alten Mann denken und an das Bild, dass das Schicksal
der Welt nur Wachs in meinen Händen ist …
Dein Homo Magi
Dolchstoß
Hallo Salamander,
manchmal höre ich im Auto
Arbeiterlieder. Das hat was mit meiner Sozialisation zu tun … und zum
Teil sind da wundervolle Lieder dabei. Das allererste Mal hörte ich wohl
jetzt aufmerksam hin, weil die Landstraße langweilig war und ich
mitsingen konnte. Und dann fiel mir auf, was ich eigentlich mitsang:
„Wie war doch der feige Gesang
der Generale, die den Krieg verloren
und nach verlorenem Waffengang
bei Thor und Baldur und Wotan schworen:
»Wir sind nicht besiegt von französischen Flinten.
Die Heimat hat uns erdolcht – von hinten!«„
Thor, Baldur und Wotan in einem
Arbeiterlied? Es handelte sich um Ernst Busch, der hier die
„Dolchstoß-Legende“ sang. Im Stück geht es weniger um nordische Götter,
denn um die angebliche Niederlage im 1. Weltkrieg durch einen
„Dolchstoß“ an der Heimatfront. Die restlichen Strophen lauten:
„Wo war denn das geile Getier,
das nach dem Stahlbad des Krieges geschrieen?
Bei Orgien im sicheren Hauptquartier
muss niemand vor Kugeln und Giftgasen fliehen.
Man kämpft gegen Hasen im Forst von Rominten
als »kaiserlicher« Jast – janz hinten.
Dann kam die Zeit ganz ohne Orden.
Da hat es die Vaterlandsliebe geboten
die Führer der Arbeiterklasse zu morden.
Es blitzten die Dolche, es fielen die Toten.
Wer hörte sie nicht die verlogenen Finten:
Erschossen auf der Flucht – von hinten.
Einst kommt der Tag, die Verbrechen zu sühnen.
Dann wird wohl den Mördern das Lachen vergehen,
denn diesmal bekommen sie, was sie verdienen
und wenn sie auch feige um Gnade flehen:
für dieses Getier keine ehrlichen Flinten,
den Strick und einen Tritt – von hinten.“
Ernst Busch war mir als Interpret
von Arbeiterliedern wegen seiner markanten Stimme schon länger ein
Begriff. Dazu kommt, dass er in einer deutschen Phantastik-Buchserie mal
einen netten Nebenauftritt absolvieren durfte. Aber wer war dieser Ernst
Busch und warum singt er hier von nordischen Göttern? Wikipedia hilft:
„Busch war Sohn des Maurers Friedrich Busch und dessen
Ehefrau Emma. Er absolvierte von 1915 bis 1920 eine Ausbildung zum
Werkzeugmechaniker und arbeitete anschließend als Werftarbeiter. Er trat
1916 der Sozialistischen Arbeiterjugend bei, 1918 der SPD. Unter dem
Eindruck des Kieler Matrosenaufstandes 1918 ließ er sein Parteibuch
Anfang 1919 auf die USPD umschreiben.
1920 nahm Busch Schauspiel- und Gesangsunterricht und
wurde von 1921 bis 1924 am Stadttheater Kiel, danach bis 1926 in
Frankfurt (Oder) und anschließend an der Pommerschen Landesbühne
engagiert. 1927 zog er nach Berlin (…). Ab 1928 trat er in Berlin an der
Volksbühne, dem Theater der Arbeiter und der Piscator-Bühne in Stücken
von Friedrich Wolf, Bertolt Brecht und Ernst Toller auf. In der
Verfilmung der Dreigroschenoper von Georg Wilhelm Pabst spielte er den
Moritatensänger (mit dem Mackie-Messer-Song).
Von 1929 bis 1933 wirkte er in einem Dutzend Filme mit,
nicht in allen war er vor der Kamera zu sehen, meist aber als Sänger zu
hören, u.a. spielte er die Hauptrolle in Slatan Dudows Film Kuhle
Wampe.
Busch sollte nach dem Beginn der »Machtergreifung« der
NSDAP von der SA verhaftet werden. Durch glückliche Umstände entging er
einer der ersten Razzien (…). Busch flüchtete daraufhin mit seiner
Ehefrau (…) zunächst nach Holland. Von dort aus folgten weitere
Stationen: Belgien, Zürich, Paris, Wien und schließlich die Sowjetunion.
1935 wirkte er in der UdSSR in Gustav von Wangenheims
Film Kämpfer mit. 1937 reiste Busch mit der Journalistin Maria
Osten nach Spanien und trat als Sänger bei den Internationalen Brigaden
auf. Mit seinen Liedern Die Thälmann-Kolonne, No pasaran,
Bandiera Rossa äußerte er sich
offen gegen den Faschismus. (…) Mitte 1938 verließ Busch den
Kriegsschauplatz und kehrte nach Belgien zurück. (…) 1940 wurde er in
Antwerpen verhaftet und nach Südfrankreich deportiert. Er war bis 1943
interniert, dann gelang ihm die Flucht bis zur Schweizer Grenze. Er
wurde abermals verhaftet, der Gestapo ausgeliefert und in der
Haftanstalt Moabit in Einzelhaft genommen. Die Anklage gegen Busch
lautete „Vorbereitung zum Hochverrat“. Durch die Intervention von Gustaf
Gründgens entging er der Todesstrafe und erhielt eine vierjährige
Zuchthausstrafe. 1943 wurde er bei einem alliierten Luftangriff auf die
Haftanstalt schwer verletzt.
Am Ende des Zweiten Weltkrieges wurde er von der Roten
Armee aus dem Zuchthaus Brandenburg befreit. Im Mai 1945 zog er wieder
in das Wohnhaus in der Künstlerkolonie, in dem er bis 1933 gewohnt
hatte. 1949 siedelte er (…) nach Treptow im Ostteil Berlins über (…).
1945 trat er in die KPD ein und wurde 1946 durch die Zwangsvereinigung
von SPD und KPD automatisch Mitglied der SED.
Als Schauspieler war er am Berliner Ensemble, dem
Deutschen Theater und der Volksbühne tätig. Außer in seinen
Brecht-Rollen machte er sich noch in anderen Rollen um die Entwicklung
der Schauspielkunst verdient.
(…) Busch wurde auch als Interpret der Lieder von Hanns
Eisler und internationaler Arbeiter- bzw. sozialistischer
Propagandalieder bekannt. Daneben leitete er bis 1953 die
Schallplatten-GmbH Lied der Zeit, die erste und einzige
Schallplattenfirma der SBZ/DDR. Lied der Zeit war der Vorläufer des VEB
Deutsche Schallplatten mit den Sublabels Eterna und Amiga, die ebenfalls
unter Busch entstanden. 1956, 1966 und 1979 erhielt er den Nationalpreis
der DDR. Von 1963 bis 1975 spielte er in der Schallplattenreihe
Aurora der Deutschen Akademie der Künste etwa 200 seiner Lieder ein.
Er war Mitglied der Akademie.
1961 zog er sich aus gesundheitlichen Gründen von der
Bühne zurück.
Busch übte keine öffentliche Kritik an der Politik der
SED, hatte aber diverse Streitereien mit Funktionären, darunter Erich
Honecker. Seit 1952 war er faktisch kein Parteimitglied mehr, weil er
sich beim Überprüfungsverfahren nicht kooperativ gezeigt hatte. Erst zu
Beginn der 70er Jahre trug ihm die SED ein neues Parteibuch an, das
Busch dann auch annahm.
Die letzten Jahre verbrachte Busch – zusehends an
Demenz leidend – in der Psychiatrie in Bernburg am Ende in der
geschlossenen Abteilung, von wo aus er mehrfach (vergeblich) zu fliehen
versuchte, wo er starb.“
Wow, was für ein Leben! So jemand
konnte wohl auch einen Text singen, in dem die nordischen Götter zitiert
wurden.
Aber er war „nur“ der Interpret,
nicht der Verfasser. Dies waren Julian Arend (Text) und Otto Stranzky
(Musik). Außer diversen Verweisen auf weitere Lieder der Beiden (die ich
zum großen Teil kenne, Überraschung …) fand ich nichts Biographisches
über die Beiden im Netz.
Mist. Da hat man einmal eine
(pseudo-)heidnische Quelle gefunden; das die nordischen Heiden sie
ignorieren, war fast zu erwarten (deren Geschichtswahrnehmung endet vor
Lindisfarne und beginnt wieder in den 1980ern), aber das auch der
sogenannte „Mainstream“ die beiden linken „Liedermacher“ vergaß … macht
mir Sorge.
Ein weites Forschungsfeld tut sich
hier auf, das aber (leider) keiner zu beackern scheint.
Dein Homo Magi
Der Rodensteiner Lieber Salamander, es gibt eine Sage, die man mir als kleines Kind erzählt
hat. Es war meine Großmutter, die im biblischen Alter von über 100
Jahren vor nicht allzu langer Zeit gestorben ist. Im Nachhinein muss ich
zugeben, dass meine Großmutter dazu neigte, den westfälischen
Lokalkolorit – denn von dort kommt sie eigentlich – in den Odenwald zu
übertragen. Eigentlich ist das egal, denn die Geschichte passt auch in
den Odenwald gut. Als Kind hatte ich ein Zimmer unter dem Dach im Reihenhaus
meiner Eltern. Wenn es stürmte oder hagelte, dann prasselte es auf das
ganze Dach und der Wind schob sich unter die Ziegeln und machte einen
riesigen Lärm. Natürlich konnte ich nicht einschlafen. Und so bewegte
sich meine damals schon betagte Großmutter die Treppe hinauf und setzte
sich zu mir ans Bett, um mich zu beruhigen. Es war die Zeit nach Weihnachten, das, was man „zwischen
den Jahren“ nennt. Meine Großmutter erzählte mir nun, dass das da
draußen kein normaler Sturm sei, sondern der Rodensteiner. Er sei wegen
seines sündigen Lebens verflucht, in diesen Raunächten umherzuziehen. So
ritt der Rodensteiner mit seiner Rotte räudiger Ritter runter ins Tal,
um Angst und Schrecken zu verbreiten. Aber das sei nicht schlimm, meinte meine Großmutter. Denn
er würde nur eine Nacht aus den Toren der Hölle entlassen, um mit seinem
Tross zu randalieren. Ihre Pferde würden über die Wolken ziehen, ihre
Hufe würden Flammen schlagen an den Gipfeln des Odenwaldes – ich war
noch klein, da glaubt man daran, dass die Gipfel des Odenwaldes die
Wolken berühren – und verdammt bis in alle Ewigkeit würden sie diese
eine Nacht der Freiheit nützen, um Lärm zu machen, es blitzen, toben und
hageln zu lassen. Nur eine Nacht wären sie unterwegs, nur eine einzige Nacht
– wenn alles gut liefe. Denn wenn ein Krieg bevorstünde, dann würden sie
drei Nächte reiten. Und so lauschen alle Menschen nicht in der ersten
Nacht angstvoll hinaus, sondern in der zweiten. Denn sie leben in Angst,
dass der Rodensteiner eine zweite Nacht reiten könnte, um von Krieg und
Vernichtung zu künden. Meine Großmutter sagte, dass er auch vor dem großen
Weltenbrand – das waren ihre Worte für den 1. Weltkrieg – und vor dem 2.
Weltkrieg drei Nächte lang geritten sei. So hätten die Menschen gewusst,
dass ein Krieg kommt. Ich fragte sie, ob der Rodensteiner niemals erlöst würde.
Nein, meinte sie, er müsste so lange reiten, wie die Menschen Krieg
führen würden – also für ewig. Das machte mir irgendwie mehr Angst als die Vorstellung von
skelettierten Pferden und verrotteten Ritter, die durch den Sturmwind
stoben. Meine Großmutter war damals für mich die absolute Messlatte der
moralischen Instanz, wie konnte ich also daran glauben, dass Menschen
irgendwann keinen Krieg führen würden, wenn sie nicht daran glaubte? Ich gebe es zu – ich habe Glück gehabt. Meine Großmutter,
die in beiden Weltkriegen Verwandte und Freunde verloren hat, beneidete
mich dafür, dass ich in der längsten Friedensperiode der deutschen
Geschichte groß geworden bin. Damit hat sie eigentlich recht. Doch heute noch, wenn im Winter der Sturm heult und der
Wind bläst und der Hagel gegen die Fenster prasselt, denke ich zuerst an
meine Großmutter. Ich hoffe darauf, dass sie irgendwo jenseitig
glücklich sitzt, ihr Strickzeug in der Hand und Pullover strickt. So wie
ich sie kenne, strickt sie wahrscheinlich sogar für den Rodensteiner,
damit der in seiner rostigen Rüstung nicht so frieren muss in Sturm und
Eis. Und der Rodensteiner? Ich höre immer noch hin, ob er nicht
ein zweites Mal reitet in jenen Nächten zwischen den Jahren. Ich
lausche, ob ich nicht das Schnauben seiner gerüsteten Rosse im Wind
hören kann, das Blitzen seiner Augen sehe durch die Wetterwolken voll
Schnee, sein Schwert erblicke, wie es Blitze schlägt in die Nacht. Und
dann erwische ich mich dabei, dass ich nach oben schaue und den
Sternenhimmel anschaue, ob seine Silhouette nicht am Horizont den Himmel
verdunkelt, so dass er gleich mächtig randalierend herüberreitet, um
Krieg und Vernichtung zu künden. Dein Homo Magi
Die Europäische Union Hallo Salamander, kürzlich blätterte ich in einem englischsprachigen Buch und
schaute mir ein Paar Bildtafeln zum Mittelalter an. Es war ein schöner
Moment, als ich auf dem Rücken des Buches folgenden Satz erspähen
durfte: „Mit Aufzeichnungen auf Deutsch über den Farbtafeln.“ Das Buch
war „Knights at Tournament“ von Christopher Gravett (Text) und Angus
McBride (Illustrationen) von 1988. Dann kam ich ins Denken. Wäre das heute noch möglich? Klar,
Deutsch ist eine schwierige Sprache und man neigt dazu, deutsche Sätze
als richtig einzustufen, weil sie sich irgendwie richtig anhören, aber
grammatikalisch führen diese Versuche oft in die Hölle. So ist es wohl
auch bei diesem Satz. Aber heute … ist Europa trotzdem näher
zusammengerückt. 1988, das sind 23 Jahre. Die „Europäische Union“
durchdringt unser Leben auf vielen Bereichen, die Grenzen sind offen,
das babylonische Sprachenwirrwarr auf den Geldscheinen und Münzen
verwirrt niemanden wirklich, die verschiedenen europäischen Kommissionen
gehen ihren Aufgaben nach, man weiß sogar inzwischen einige Namen von
wichtigen Persönlichkeiten Europas und hat gelernt, dass man von Polen
bis Spanien ohne Pass mit dem Auto fahren kann. Eine zweite Ebene tat sich auf. In „Knights at Tournament“
wurde auf vielen Seiten aufwändig erklärt, welche Farben mit welchen
Figuren in welchen Feldern eines Wappens man tragen durfte/musste, um
sich eindeutig legitimieren zu können. Das ist viel einfacher geworden.
Es gibt Autokennzeichnungen, die international sind, und anhand von zwei
oder drei Buchstaben kann ich das Auto in Europa verorten (eigentlich
ver-land-en). Dann kommt noch ein netter Aufkleber hinzu, der eine
Provinz oder eine Stadt identifiziert oder der Schildrahmen macht
Werbung für einen Autohändler in Prag, Warschau, Lübeck oder Madrid. Die Welt ist nicht kleiner geworden, Europa wurde nicht
balkanisiert. Aber wir sind in einer polyglotten Kultur gelandet, die
mehrsprachig, mehr-kulturell (um das missbrauchte Wort „multikulturell“
zu überspringen) und mehr-staatlich geworden ist. Ich bin dankbar dafür, dass der Franzose nicht mehr der
Erbfeind, die polnische Grenze nicht mehr bewacht und unsere Armee
reduziert ist. Das musste mal gesagt werden. Dein Homo Magi
Perlenvorhänge Hallo Salamander, es gibt so manche Dinge, die sind verschwunden, und man
weiß eigentlich gar nicht, wohin und warum. Früher gab es vor Toiletten in Restaurants immer diese
eigenartigen Perlenvorhänge, die ein wenig so aussahen, als hätte ein
Kind Plastikperlen auf eine Schnur gebunden und seine stolzen Eltern,
die zufällig auch eine Eisdiele oder Pizzeria besitzen, haben diese
Schnüre im Eingangsbereich der Toiletten aufgehängt. Ich muss in meinem Leben schon Tonnen von diesen Vorhängen
durchschritten haben. Sie waren vor 40 Jahren da, als ich das erste Mal
eine Toilette im Restaurant wahrnahm, und sie waren bis vor 10 oder 15
Jahren immer noch da. Und dann? Dann waren sie von einem Tag auf den
nächsten weg. Verschwunden. Futschikato. Sind sie auf einmal unhygienisch? Ne, das glaube ich nicht.
Sie waren schon immer hässlich, aber das stört Chinesen auch nicht, vor
ihren Restaurants Löwen aus Plaste und Elaste aufzustellen. Den Umsatz
scheint es in keinem von diesen Fällen geschmälert zu haben. Sind sie recycelt worden? Ich habe sie weder als Röcke im
Karneval noch als Vermummung auf heidnischen Treffen wahrgenommen, wobei
letzterer Gedanke zumindest sehr zu meiner Erheiterung beitragen würde. Wo sind sie hin? Entweder sie lagern auf diversen Dachböden
bis sie wieder in Mode kommen. Unwahrscheinlich, aber nicht ganz von der
Hand zu weisen (liegen sie da neben den Hula-Hoop-Reifen?). Oder sie
sind Stück für Stück in gelbe Säcke verschwunden und werden nun als
Plastikmüll recycelt. Vielleicht ist die Tastatur, auf der ich gerade
tippe, in ihrem früheren Leben ein Plastikvorhang gewesen? Ich weiß es
nicht. Aber es hat mich doch eine Weile lang beschäftigt, diesen
Gedankengang zu verfolgen. Eigenartig, wohin einen die Erinnerung
manchmal treibt. Dein Homo Magi
Meine EC-Karte
Lieber Salamander,
ich habe in den letzten Monaten Schwierigkeiten mit meiner EC-Karte.
Immer mal wieder gelingt es mir nicht, Auszüge zu ziehen oder gar
(Bonusversuch!) Geld zu holen. Nein, spare dir deine hämischen
Kommentare – ich hole nur Geld, wenn auch Geld drauf ist. Aber es
klappte nicht, die Karten waren entweder „nicht lesbar“ oder der Automat
tat so, als hätte ich nie nie nie eine Karte in seinen Schlitz
geschoben.
Ich habe Zugang zu drei Konten. Ich habe in den letzten vier Monaten
sechs neue EC-Karten bekommen, immer mal wieder für ein anderes Konto.
Am Kundenschalter „meiner Bank“ sagte man mir immer wieder, dass es an
mir liegen müsse (an wem auch sonst, Banken machen keine Fehler …). Am
Ende zeigte ich dann eine der drei Karten vor, dich ich nur für das
Konto einer Veranstaltung benütze. Die Karte war in der stabilen
Plastikhülle, in der sie geliefert worden war, dazu in einer
Klarsichtfolie. Keine Chance auf „mechanische Verletzungen“. Man nahm
meine Eingabe zerknirscht entgegen und schickte mir wieder eine neue
Karte. Mit der letzten Kartenlieferung kam auch ein Begleitbrief, von
dem ich dir einen Auszug nicht vorenthalten will:
„Es besteht die Möglichkeit, dass der Magnetstreifen durch
Fremdeinflüsse beschädigt wurde. Da über diesen Magnetstreifen die
Kartendaten gelesen werden, hat dies zur Folge, dass die Karte nicht
akzeptiert wird.
Mögliche Gründe für die Zerstörung des Magnetstreifens
können, neben offensichtlicher Beschädigung, auch starke Magnetfelder
sein:
·
Geldbörse mit
Magnetverschluss
·
Ablage auf dem
Fernseher oder auf den Lautsprechern
·
Karte wurde im Handel
auf der Tresen-Unterlage für das Warensicherungssystem abgelegt
·
Röntgenstrahlen“
Es fällt mir schwer, das zu kommentieren. „Fremdeinflüsse“ in meinem
Geldbeutel sind auszuschließen; wer meine Karte beschädigen will,
stiehlt sie eher. Den Magnetverschlussgeldbeutel muss mir jemand
vorführen, ich glaube nicht daran, dass es so etwas gibt. Wer Muße hat,
seinen Geldbeutel auf der Stereoanlage abzustellen – okay, nette
Freizeitbeschäftigung, aber sinnlos. Das mit der Tresen-Unterlage
erscheint mir immerhin noch realistisch als Möglichkeit, kann ich nicht
einmal ausschließen, dass das mal in meinem Leben passiert ist. Aber
nicht so oft, wie es in den letzten Monaten „schief ging“ – und nicht
mit der Karte in der Plastikhülle! Bleiben nur die Röntgenstrahlen!
Also: Ich werde nicht geröntgt, zumindest nicht beim Arzt. Wer beschießt
mich dann mit Röntgenstrahlen? Vor über 20 Jahren wäre das noch ein
östlicher Geheimdienst gewesen, aber heute? Feindliche heidnische
Verbände? Sinistere Satanisten?
Ich werde jetzt ein Anti-Röntgen-Ritual entwickeln (kurz ARR). Wenn das
gelingt, werde ich es zu Geld machen & es Menschen anbieten, deren
Geldkarten auch „fernvernichtet“ werden. Dann geht meine Karte zwar
immer noch nicht, aber dann ist es mir egal, weil ich reich bin.
Dein Homo Magi
Meine EC-Karte II Hallo Salamander, dank tatkräftiger Chemiker-Hilfe konnte ich immerhin einen
Teil der Probleme enträtseln, die sich mir und meiner EC-Karte
beziehungsweise meinen EC-Karten in den letzten Monaten gestellt haben.
Die längere, fachkundige Aussage lässt sich so zusammenfassen, dass das
Aufbewahren von EC-Karten in Schutzhüllen so ziemlich das dümmste ist,
was man tun kann. Warum? Es gibt zwei Arten von Plastikschutzhüllen, eine aus
weichem Plastik, eine aus hartem Plastik. Die aus weichem Plastik
enthält Weichmacher, die früher oder später auf die EC-Karte einwirken
und diese zwar nicht zerstören, aber doch funktionsunfähig machen .Die
harte Plastikhülle lädt sich durch Reibung und so weiter statisch auf,
die Krümel und Staubteilchen wirken wie eine Feile beim Herein- und
Herausziehen der EC-Karte aus der Schutzhülle und zerkratzen die
Oberfläche schnell, so dass die Karte nicht mehr lesbar ist. Angeblich sei das den Banken bekannt, weswegen nicht mehr
einfach so Schutzhüllen bei neuen Karten mit ausgegeben werden. Hey da draußen? Wer geht so mit Wörtern um? „Schutzhülle“,
das impliziert die Worte „Schutz“ und „Hülle“ gemeinsam in einem
Begriff, also eine Hülle, die Schutz gibt. Aber im Gegenteil scheint es
so zu sein, dass die Schutzhülle den Inhalt erst zerstört. Was wird jetzt aus Schutzmännern, Schutzhütten und
Schutzkleidung? Sind die auch genau das Gegenteil von dem, was ihre
Bezeichnung vorgaukelt. Muss ich jetzt Schutzhütten meiden, Schutzmänner
fliehen und Schutzkleidung verweigern? Alles nur wegen meiner lausigen EC-Karte … Dein Homo Magi
Nebelflecken
Lieber Salamander,
manchmal recherchiere ich im Netz
auch SF-Autoren, weil ich die Angaben für irgendwelche Artikel brauche.
Die meisten Namen suche ich klüger in einem Buch nach, das in einem
meiner Regale steht; in den letzten Jahren werden aber die Daten online
immer besser, so dass eine Online-Suche oft Ergebnisse bringt, die man
aktueller kaum wünschen kann.
So war ich dann mal auch nach der
Suche nach Alexei Panshin, dessen Anthony Villiers-Romane ich
antiquarisch gekauft habe und gerade verschlinge. Was durfte ich
einleitend unter dem ersten sinnvollen Hit lesen:
„Alexei Adams Panshin (getragen 14. August, 1940) ist
Amerikanisch Autor und Zukunftsromane Kritiker (SF). Er hat einige
kritische Arbeiten und einige Romane, einschließlich geschrieben 1968
Nebelfleck-Preis- gewinnender Roman
Rite des Durchgangs.[8]„
Getragen? „Born“ als „getragen“ ist
schon ziemlich tapfer als Übersetzung, aber den Nebula-Award[9]
als Nebelfleck-Preis … großartig! Der restliche Text verweist dann klar
darauf, dass hier ein Automat am Übersetzen ist:
„Panshin wird auch für die Kult Lieblingsanthony
Villiers Reihe gemerkt, die aus drei Büchern besteht
Stern-Brunnen
Die Thurb Revolution
Maske-Welt
(…) [Stern-Brunnen] ist eine Galerie der Spieler, der
Duelle und der Doppelkreuze, des Menuetts von Weise und der
zerfleischten Weise; die Maschinerie des Universums wird auf spekuliert;
Oberinspektoren kommen an, um es zu kontrollieren. Und Anthony Villiers,
Herr par excellence, Schläge durch es alle, einen Swash oder zwei
wölbend und pfuschen ein Paar von anderen.[10]„
Das ist doch schon Phantastik an
sich. „Einen Swash oder zwei wölbend und pfuschen“ wäre eine wundervolle
Eröffnung für eine Geschichte. Aber es geht noch weiter:
„Seine allgemeine kritische Arbeit SF im Maß
(1976) wurde auch mit Cory Panshin Co-geschrieben, wie ein langatmiges
theoretisch-kritisches Buch, Die Welt über dem Hügel hinaus
(1989), das gewann Hugo Preis für Nichterfindung 1990. Seine Arbeiten
schließen auch eine kurze Geschichteansammlung ein, Abschied zu von
gestern Morgen.[11]„
Ich will auch den „Hugo Preis für
Nichterfindung“[12]
gewinnen! Ich will, ich will, ich will. Aber es wird noch besser:
„(…)
einen Hugo Preis für beste Ventilatortätigkeit gewinnend (…)“
Das dauert eine Weile, aber auf
Englisch heißt „Fächer“ auch „Fan“, von daher ist die „Fantätigkeit“
hier die Arbeit als Ventilator. Das ist auch der Grund, warum Fans
früher „Beanies“ (also Propeller) auf dem Kopf getragen haben.
Langsam verlässt einen die Geduld
beim Lesen … verwunderlich ist das alles nicht, steht doch oben auf der
Seite „Mehrsprachiges Archiv“ und „Angetrieben durch WorldLingo“.
Angetrieben … und bei einigem Wühlen im Netz stellt man dann fest, dass
der Artikel Eins zu Eins aus dem englischen Wikipedia-Eintrag übernommen
ist.[13]
Fazit: Manchmal sind Bücher doch
unschlagbar als Quelle.
Dein Homo Magi
Buchstabensalat Hallo Salamander, mein Tischkalender auf der Arbeit („Mysterien und Rätsel
2011“) gab mir am Aschermittwoch einen „Buchstabensalat“ zum Lösen vor.
Eigentlich löse ich die nicht, lese lieber die geschichtlichen Rätsel
oder mache die Sachen, wo man malen kann. Aber dieses Mal war es einfach großartig. Die Aufgabe war:
„Finden Sie in diesem Rätsel acht Begriffe zum Thema Götter der
Wikinger“. Zu finden waren „Asgard, Freya, Hel, Hugin, Munin, Odin,
Thor, Walkuere“. Nun, das ist auf einem Feld von 12 x 6 Buchstaben nicht
übermäßig schwierig, aber ich fand es trotzdem sehr unterhaltsam, wie
weit heidnische (und nordische) Themen schon wieder in das Bewusstsein
vorgedrungen sind, so dass man mit diesen (sicherlich einfach zu
erkennenden) Begriffen schon einen Tageskalender illustrieren kann. Wow. Dein Homo Magi
Kartenspiele und
Atomschmelze
Hallo Salamander,
irgendwie war mir klar, dass es sicher bald eigenartige esoterische
Erklärungen für die Ereignisse im japanischen Reaktor geben würde. Als
alter Karten- und Brettspieler war ich dann doch überrascht, dass jetzt
wohl Kartenspieler Teil der Verschwörung sind.
Warum? Im Netz fand ich folgenden Hinweis:
„Das Kartenspiel der Illuminaten aus dem Jahre – 1995 – und
die japanische Nuklearkatastrophe
Iluminati ist ein komplexes Kartenspiel, das im englischen
Original von Steve Jackson Games verlegt wird. Dieses Spiel ist im
Gegensatz zu (vom selben Herausgeber)[14]
kein Sammelkartenspiel. Dieses
wurde – 1995 – publiziert und enthält in der Rückschau unglaubliche
Informationen. In diesem Kartenspiel kommen seltsame Karten vor. So wird
auf einer Karte sehr deutlich die Katastrophe von – 9/11 dargestellt,
das Haarp–Projekt, Bevölkerungsreduktion und viele andere –
„Verschwörungstheorien” – !!![15]
Ob das Haarp-Projekt wirklich böse ist, wage ich nicht zu beurteilen.
Die Einschätzung auf Wikipedia klingt nicht nach einer
Superduperbösewichtewaffe, aber auch Wikipedia gehört sicherlich zu den
Seiten, die von Echsenmenschen bzw. den Illuminaten kontrolliert werden.
Aber dort (auf Wikipedia, nicht bei den Illuminaten) steht: „Das
HAARP (engl.
High Frequency Active Auroral Research Program)
ist ein US-amerikanisches ziviles und militärisches Forschungsprogramm,
bei dem hochfrequente elektromagnetische Wellen zur Untersuchung der
oberen Atmosphäre (insbesondere Ionosphäre) eingesetzt werden.“[16]
Zurück zu unseren Freunden von den Illuminaten-Kartenlesern und deren
Artikel im Internet. Etwas weiter unten sieht man dann die
Kartenkombination „Japan“, „Tidal Wave“, „Nuclear Accident“ und „Combined
Disasters“ abgebildet. Auf letzterer Karte ist ein Glockenturm samt
Uhrzeit zu sehen, der angeblich identisch ist mit dem „Wako-Glockenturm
in Tokio“. Weiter geht es im Text:
„Ein geheimer Bericht aber sagt, dass der Angriff mit der Erdbebenwaffe
auf die Millionenstadt – ” – Tokio ”[17]
– direkt zielte, aber durch bestimmte Gegenmaßnahmen durch wen auch
immer veranlasst abgelenkt werden konnte. Die Uhrzeit auf der Spielkarte
des Glockenturms und die Uhrzeit auf dem – ” Wako –
Glockenturm ” – von Tokio zeigen exakt und identisch die Uhrzeiten
an, als die Katastrophe in Japan ihren Anfang nahm – Welch ein Zufall
aber auch !!!“[18]
Nun, das Originalspiel „Illuminati“ hat 110 Karten[19],
dazu kommen zwei Erweiterungssätze mit 125 bzw. 100 Karten.[20]
Das macht zusammen 335 Karten. Die obige Kombination zu Japan verwendet
vier Motive, ohne zu erklären, ob sie aus dem Grund- oder dem
Ausbauspiel kommen. Für das Grundspiel gibt es schon 100 * 99 * 98 * 97
Kombinationen für vier Karten, also lächerliche 94.109.400
Kombinationsmöglichkeiten. Bei 335 Karten sind es für vier Karten 335 *
334 * 333 * 332 Kombinationsmöglichkeiten, also etwa 12 Milliarden. Da
sollte nicht nur für jeden Menschen der Erde eine eigene Kombination
dabei sein, sondern auch für jede Katastrophe der letzten (und nächsten)
2.000 Jahre.
Nebenbei: Mit Tarot-Karten geht das sicher auch, das ist in den letzten
paar Jahrhunderten bewiesen worden. Aber das ist nicht halb so
beeindruckend, wie die „Entdeckung“, dass eine US-Firma über geheime
Informationen verfügt und diese auf Spielkarten herausgibt.
Dein Homo Magi
Alte Hallen Hallo Salamander, vor ein paar Wochen stand ich wieder einmal an einer
Stelle, von der ich einmal glaubte, nie wieder an ihr zu stehen. Vor
vielen Jahren und bei einem heidnischen Verein, dessen Name nicht
genannt werden soll, kam es in dieser Halle zu einem größeren
„Massaker“. Unschöner Verlauf, unschöne Kommentare, unschönes Verhalten.
Ergebnis war, dass eine Menge Leute, die daran teilgenommen haben,
heilige Eide schworen, nie wieder auf so ein Treffen zu kommen. Man
spritzte Gift, man beleidigte sich gegenseitig, man weinte. Es war nicht
schön. Es hat ein Jahrzehnt gedauert, um den Ort, einen
heidnischen Verein und einige der damals Anwesenden wieder an diesen
Platz zu kriegen. Es war viel Arbeit, aber ich habe sie nicht bereut. Es
waren „nur“ 17 Leute (meiner Zählung nach) in der Menge, die „damals“
dabei waren. Ich habe mich über jeden Einzelnen gefreut. Und meine
größte Freude war, dass einige der alten Ärgernisse aus der Welt
geschafft werden konnten. Die Zeit heilt nicht alle Wunden, aber einige
dann doch. Wenn man guten Willens ist, dann geht so etwas. Zur Eröffnung des Abends hatte ich ein paar Zeilen
geschrieben. Und ich gebe gerne zu, dass ich selten solche
Schwierigkeiten hatte, meine Gefühle in Worte zu fassen. Hier mein
Gedicht für diesen Abend:
„Ich stand schon einmal vor den Massen,
hier in diesen Säulenhallen, und
obwohl die Schlacht verloren
sind die Verlierer nicht gefallen.
Weder Geister noch Gespenster
zogen viele Jahre sie
durch die Weiten aller Welten,
zogen fort, verharrten nie. Nur
der Freunde stetes Rufen,
lockt sie aus der Ferne fort, und
so sammeln sich die Geister
wieder hier, an diesem Ort.
Unser Dank sei nun euch allen, da
ihr Zauber möglich macht, und
das Feuer, das fast Asche,
voller Flammen habt entfacht.“ Dem ist wenig hinzuzufügen. Dein Homo Magi
In arte voluptas Hallo Salamander, vor einigen Monaten war ich zum Erwerb der internen Thor
Steinar „Festfibel“ in einem entsprechenden Laden. Die Marke dürfte
bekannt sein:
„Thor Steinar ist eine Bekleidungsmarke der MediaTex GmbH. Der
Brandenburger Verfassungsschutz, einige zivilgesellschaftliche
Organisationen und Antifa-Gruppen sowie die meisten Medienberichte sehen
in Thor Steinar ein Erkennungsmerkmal der neonazistischen Szene. In der
Öffentlichkeit wird Thor Steinar meist in diesem Zusammenhang
thematisiert. Das Tragen von Thor-Steinar-Kleidung ist unter anderem im
Deutschen Bundestag, im Landtag Mecklenburg-Vorpommern, an der
Universität Greifswald, sowie in zahlreichen Fußballstadien verboten.“[21] Zur Festfibel selbst braucht man wenig sagen, die
Jubeltexte im Internet sind deutlich genug:
„Das durchgehend bebilderte Buch gibt dabei auch Hinweise auf mögliche,
zeitgerechte Formen des Feierns mit Freunden und Familie. »Ein Buch
voller Geheimnisse«, heißt es hierzu im aktuellen Katalog von Thor
Steinar. Tatsächlich werden interessante Sichtweisen und historische
Besonderheiten präsentiert, die so den meisten Lesern noch nicht bekannt
sein dürften. Denn nicht nur Feste und Feiern werden in der Festfibel
vorgestellt, sondern auch die Geschichte der Kelten und Germanen, die
der rätselhaften »Katharer«, die Hexenverfolgung, Luzifer und der
Werdegang des »Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation« sind Themen
des Werkes. Eine besondere Position nehmen dabei auch die Betrachtungen
zur Sonne und zum Mond ein. Beide sind schließlich die Grundlagen der
Sonnen- und Mondfeste Mittel- und Nordeuropas.“[22] Ich habe es verrissen, wie keinen verwundern dürfte:
„Die Festfibel – Ein Ratgeber für alle Jahreszeiten
Zeesen, 2009
Formal besteht das 200 Seiten starke Buch, das sich auf dem Umschlag nur
»Festfibel« bzw. auf dem Rücken »TSB 1« (wohl für »Thor Steinar Buch 1«)
nennt, aus mehreren Kapiteln, in denen der heidnische Jahreskreis
beschrieben wird. Es
gibt keine Autorenangabe, nur das Vorwort hat die Unterschrift »Rainer
Schmidt«[23],
ansonsten stammt das Buch von »verschiedenen Autoren«[24]. Das
Buch ist nicht über den Buchhandel erhältlich: »Es ist als Manuskript
gedruckt und dient als Treuegabe für unsere Mitarbeiter und Stammkunden.
Es ist unverkäuflich und dient nicht kommerziellen Zwecken. Bei Abgabe
an Dritte wird lediglich eine Schutzgebühr erhoben.«[25] Also
muss man in einen Laden, wenn man das Buch erwerben will. Nun gut, damit
kann man leben.
Nach einer Einleitung, die unter anderen Literatur, Kalender und
Neuheidentum abhandelt, folgten Kapitel über Sonne, Mond, Ostern, Hohe
Maien, Sommersonnenwende, Schnitterfest, Erntedankfest, Totengedenken,
Julfest/Weihnachten/Wintersonnenwende und
Fastnacht/Karneval/Winteraustreibung samt einem »Schluß«. Das
Ganze ist eher keltisch denn germanisch-heidnisch angehaucht, sehr üppig
illustriert und eigentlich unterhaltsam zu lesen. Lustig sind die
Untertitel der Bilder; Hinweise wie »Erzengel Michael, ist er auch der
deutsche Michel? Eine nicht belegte These.«[26]
sind maximal unterhaltsam, aber eben ohne Beleg nutz- und sinnlos.
Autoren werden keine genannt; an Hinweisen auf Verlage und heidnische
Autoren finden sich nur Geza von Nemenyi, Arun und der Kersken-Canbanz-Verlag.[27]
Über von Nemenyi heißt es: »Ehemaliger Politiker der Partei „Die Grünen“
und Autor von Büchern zum Thema Heidentum, Runen und Feste. Geza von
Nemenyi ernannte sich selbst zum „Allsherjargoden“, dem obersten
Priester des Altheidentums.«[28]
Das im Text folgende von Nemenyi-Zitat ist dann ohne Quelle – nur mit
»[s]o meint der Oberdruide«[29]
kommentiert.
Verwiesen wird mehrmals im Buch auf Otto Rahn[30] –
gut zu lesen, aber politisch nicht mein Ding; immerhin war Rahn im III.
Reich Mitarbeiter im »Rasse- und Siedlungshauptamt« (RuSHA) der SS. Das
Buch ist in der »richtigen Schreibweise«[31],
offensichtlich der (alten) Rechtschreibung, gehalten. Auch das kann man
dem Verlag nicht verübeln; selbst der obligate Hinweis darauf, dass die
weibliche Form immer mit gemeint sein könnte, fehlt – man verweigert
sich also allen Regeln des »Establishments«, was meiner Ansicht nach der
Lesbarkeit nicht zugutekommt. Aber auch nach der alten Rechtschreibung
ist »beweißt«[32]
ein Schreibfehler …
Zitate sind oft Glückssache, so heißt der Elchspruch aus dem »moderne[n]
Volksmund« nicht »Die größten Feinde der Elche waren früher selber
welche«[33],
sondern er ist von Bernstein und lautet »Die schärfsten Kritiker der
Elche / waren früher selber welche«[34].
Und für »Bunt sind schon die Wälder« keinen Autoren zu benennen[35],
wo man doch mit zehn Sekunden im Internet finden kann, dass es sich um
das »Herbstlied« (1782) von
Johann Gaudenz Freiherr von Salis-Seewis[36]
handelt, ist Faulheit, sonst nix. Der »Child Herold«[37]
von Heinrich Heine ist in Wirklichkeit der »Childe Harold«[38]
und Quellenhinweise wie »Onlineausgabe, nicht mehr abrufbar« zu »Meyers
Lexikon«[39]
machen Quellenkritik sehr schwer.
Es ist auch nicht angegeben, welche Bibelausgabe zu
Rate gezogen wird. Auf derselben Seite wird von »EU« und »LUT«
gesprochen[40],
aber ob damit wirklich die »Einheitsübersetzung« und die »Lutherbibel«
gemeint sind, bleibt ungeklärt.
Einige Male scheint der fremdsprachliche Font nicht zu funktionieren, so
dass der Teufel »von griechisch ÄeÜaieio«[41]
abgeleitet wird und »bemalte Eier« auf Ukrainisch »Ienaiee« heißen[42].
Wenn man sich schon bei einer Lektorin bedankt, die »das Schlimmste
verhindern konnte«[43],
dann überlegt man schon, was »das Schlimmste« gewesen wäre. Oft
sind die Texte ein wenig naiv: »Lange bevor sich die heute bekannten
großen Religionen verbreiteten, lebten die Menschen in unseren
Breitengraden im Rhythmus der Natur, wie es dieses Bauernlied
beschreibt.«[44] Das
wird dann mit dem Liedtext von »Im Märzen der Bauer« dekoriert. Fragen
wie »Und erkennen wir nicht auch in der Maske des Narrs den schalkhaften
und listenreichen Loki, der Baldur tötete?«[45]
müsste ich ehrlich mit »Nein« beantworten.
Politisch ist das Buch einige Male obskur – »Vielleicht eine Andeutung
auf die kindsmordende Hexe, in der man die heute abtreibende Mutter
sehen könnte?«[46]
Da ist die Gesellschaft doch einen Schritt weiter, was (begründete)
Abtreibungen betrifft.
Aber das Buch ist eben nicht erkennbar faschistisch oder
rechtsradikal. Es ist schludrig lektoriert, die Quellen sind inkomplett,
die Beiträge sind oberflächlich, dennoch aber nett zu lesen, die
Schlussfolgerungen sind eigenartig und so weiter. Wenn nicht »Thor
Steinar« drin stehen würde, hätte ich es mir nie gekauft … auch eine
Art, Geld zu verdienen. Wie
heißt es im »Ausblick«: »Was bleibt, ist das Bewußtsein, auf eine lange,
kulturelle Entwicklung zurückblicken zu können und auf dieser Basis
etwas Neues bauen zu können. Was, wie schon gesagt, jeder selbst tun
kann. Ob dies dann tragfähig ist und bleibt, wird sich zeigen.«[47]
Richtig. Das könnte aber unter jedem Buch über Religion, das Allgäu,
Politik, Mythologie oder Fahrzeugmechanik stehen.“ Soviel dazu. Verwundert war ich damals, dass die beiden
blonden Mitarbeiter zwar rausgingen, um nach meinem Auto zu schauen,
ihnen aber an meinem Skoda nix auffiel, dass sie zum Nachdenken hätte
bringen können. Inzwischen bin ich der Ansicht, dass mein
Schlaraffen-Aufkleber „In arte voluptas“, das Motto der Schlaraffia[48],
an allem schuld ist. Die Übersetzung ist eigentlich einfach:
„Die Schlaraffia ist eine
am 10. Oktober 1859 in Prag gegründete, weltweite deutschsprachige
Vereinigung zur Pflege von Freundschaft, Kunst und Humor. (…) Der
Wahlspruch der Vereinigung lautet »In arte voluptas« (etwa: in der Kunst
liegt Vergnügen).“[49] Ich denke, dass die Blondlinge „arte“ lasen und glaubten,
das wäre eine obskure Umschreibung zu einer Nähe zur Artgemeinschaft
oder eine Bekenntnis zu Blut und Boden und Rasse und Raum. Auch wenn die
Erklärung nicht stimmt, so ist sie doch lustig genug, dass ich sie hier
wiedergebe. Dein Homo Magi
Parkplatz-Nazis Hallo Salamander, es war an des „Führers Geburtstag“ (20.04.). Ich hatte
morgens schon überlegt, in welcher Stadt heute eine Demonstration
verhindert, ein Aufmarsch unterbunden würde. Ich hatte mich vorbereitet
auf die Fotos von glatzköpfigen Gurkennasen, die gegen Demokratie und
Ausländer und diverse andere Dinge demonstrierten. Nichts. Dafür durfte ich morgens beim Besuch meiner Mutter zwei
Parkplatz-Nazis gegenübertreten. Ein paar Worte der Erklärung sind
angebracht. Seit über 25 Jahren parke ich auf dem großen Parkplatz des
Nachbarhauses, wenn ich meine Mutter besuche. Eigentlich tun das alle
anderen Besucher auch (und nicht nur die meiner Mutter!). Der Parkplatz
war in den über 25 Jahren ein einziges Mal fast voll, das war vor vielen
Jahren an Weihnachten während einer Schneekatastrophe. Davor und danach
war der Parkplatz nie mehr als zur Hälfte gefüllt. Seit einigen Jahren sind einige Stellplätze an einen
Pflegedienst vermietet, aber immer noch sind immer mindestens zehn
Stellplätze frei, wenn ich auf den Parkplatz fahre. Dazu kommt, dass ich
mir – nachdem es vor einigen Jahren mal Ärger mit Nachbarn gab – eine
Vollmacht der vermietenden Firma besorgt habe, dass ich als Besucher
unbehelligt auf dem Parkplatz stehen darf. Damals hatte ein wütender
Nachbar mich zugeparkt, beschimpft und mir angedroht, die Polizei zu
rufen. Die habe dann ich gerufen und ihn wegen Nötigung angezeigt (und
drangekriegt). Auf jeden Fall fahre ich einigen Familienangehörigen im
Auto zu des Führers Geburtstag (kein Zusammenhang!) auf den Parkplatz,
parke ein und lasse meine Familie aussteigen. Sofort kommt ein
schimpfendes Ehepaar von ihrem Auto herüber gerannt, droht sogleich mit
„Polizei“ und „Abschleppdienst“ und behelligt mich mit einigen
Formulierungen, die mir nicht gefallen haben. Also blieb ich ganz ruhig und bat das Männchen (als Mann
kann man den Schimpansen einer Herde auch nicht bezeichnen) mit
einladender Geste, doch einen Blick auf meine Windschutzscheibe zu
werfen. Dort läge eine Vollmacht, dass ich hier parken dürfte. „Von wem?“ „Vom Vermieter“, antwortete ich. „Welchem Vermieter?“ Ich gab den Namen der vermietenden Organisation an. Er warf
überhaupt keinen Blick auf den Zettel, beschimpfte mich noch ein wenig,
zog sich aber mit seinem Weibchen zurück. Hätten sie Keulen gehabt, sie
hätten sie geschwungen. Ich ging zu meiner Mutter Kaffee trinken. Als ich später wieder zum Auto ging, hatte das Pärchen
weitere Nachbarn mobilisiert, die mit zusammengezogenen Augenbrauen
zuschauten, wie ich den Parkplatz verließ. Wahrscheinlich gehe ich in
ihre Gespräche am Lagerfeuer ein als „Er-der-parken-darf“ oder als „Der
große Chromgott von außerhalb“. In mein Leben gehen sie ein als „Möchtegernnazis
aus dem Nachbarhaus“ oder „Parkplatz-Blockwarte“. Führers Geburtstag. Wann sonst? Dein Homo Magi
Man redet nicht über
Lohn
Werter Salamander,
ist dir eigentlich schon einmal aufgefallen, dass wir uns über intime
Dinge weniger unterhalten als über unseren Lohn? Wir reden im vertrauten
Kreis über Krankheiten, über Sex (und wenn auch nur im Zusammenhang
Männer-Männer oder Frauen-Frauen), wir sprechen über Anschaffungen und
Kollegen, über gute Bücher, Filme oder Musik. Aber wir reden nicht über
Lohn.
Schon über Geld, denn wir vergleichen die Anschaffungspreise für DVDs
oder Bücher, reden über Übernachtungskosten, ein gutes Essen oder Flüge.
Aber wir reden nicht darüber, wie viel Prozent unseres Einkommens
benutzt werden, um diesen Standard zu halten.
Ich habe es in den letzten Monaten ein paar Mal versucht, über Geld zu
reden. Einfach, weil ich bestimmte Dinge nicht zahlen wollte oder konnte
und nicht einsehe, warum ein großer Teil meiner Einnahmen für Dinge
draufgeht, die ich nicht für wichtig halte (sondern nur für den
Status-fördernd …). Also bot ich an, dass wir über Gehalt reden. Das
ging überhaupt nicht. In zwei Fällen schaffte ich es, einen Austausch
über Gehalt so hinzukriegen, dass wir beide (es waren immer
Männer-Männer-Paarungen, da geht es für mich irgendwie besser) unser
Einkommen auf einen Zettel schrieben und gleichzeitig dem anderen über
den Tisch schoben. Das scheint die Bereitschaft zu mindern, das eigene
Einkommen zu übertreiben, um den anderen zu übertreffen.
Das Tabu, das dahinter zu liegen scheint, verwirrt mich. Es scheint kein
gesellschaftliches Tabu zu sein, denn bei Streikaufrufen liest man schon
von erwarteten oder erkämpften (Mindest-)Löhnen, aber das sind
Gruppenvergütungen, die nicht so einfach auf einen einzelnen Menschen
heruntergebrochen werden können.
Ich denke, es halt sich um eine erworbene Eigenschaft, ein anerzogenes
Tabu. Wenn wir alle glauben, dass wir genug verdienen, um zum
Mittelstand zu gehören, glauben wir alle, dass wir mit der
Gesellschaftsform zufrieden sein müssten. Wir glauben, dass wir
akzeptabel verdienen, uns alles leisten können und verkaufen dafür
unseren Willen, gegen das „System“ Widerwillen zu spüren.
Eine eigenartige Vorstellung, ich weiß, aber ich glaube, das sie richtig
ist. Es gibt ein Lohn-Tabu, das uns klein hält – und jene groß, die
nicht von Lohn (oder Arbeitslosengeld) leben müssen. Geld ist ohne
Wichtigkeit für die spirituelle Entwicklung, Geld ist ohne Wichtigkeit
für das nächste Leben, Geld ist ohne Wichtigkeit für das Seelenheil. Und
Lohn ist Geld, nicht mehr und nicht weniger.
Ich werde da wohl noch ein wenig nachdenken müssen.
Dein Homo Magi
Das Geschenk der Akasha-Chronik Hallo Salamander, ich glaube eigentlich nicht daran, dass es irgendwo im
Universum eine Chronik gibt, in der alles aufgezeichnet ist. Erstens
bräuchte eine Speicherbank, der in der alles gespeichert ist, wegen der
vergehenden Zeit und der Datenmenge, um den Kosmos in allen Zuständen
abzubilden, mehr Platz als der Kosmos, den sie speichern will, außerdem
wäre die Zukunft sicher, denn alle Daten sind bereits gespeichert. Das
ist ein Konzept, mit dem ich mich nicht anfreunden kann. Das Universum und das Göttliche offenbaren sich weder in
Kornkreisen, noch in Palmblättern noch in Chroniken im Herzen der
Milchstraße. Sollten sie das trotzdem tun, sind sie als Gottheiten für
mich nicht interessant – aber bis jetzt habe ich Hoffnung, dass dem
nicht so ist. Vor ein paar Tagen saß ich im Kino in „Die
Mondverschwörung“. Toller Film, da werden wirklich Esoteriker,
Alt-Faschisten, Reichsflugscheibensucher, Alt-Reich-Anhänger, wirre
Paranoiker und Antisemiten gezeigt, wie sie wirklich sind. Ohne Maske,
ohne Hirn. Einige tun einem leid, andere machen einem Angst, wieder
andere sind … völlig durch den Wind. Es war ein Regiegespräch, der Filmemacher war im Kino und
stellte nachher dem Publikum Fragen (ja, das war seine Vorbedingung, er
wollte die Reaktionen des Publikums testen). Der erste Einwand aus dem
Publikum war berechtigt – es ist kein Dokumentarfilm, sondern eher ein
Lustspiel. Nach einem kleineren Wortgefecht ging der Kritiker und der
Filmemacher stellte dem Publikum Fragen. Erst wollte ich Frage 1 und 2 nicht beantworten, aber
nachdem die so tolle Preise bekamen (eine Flasche Mondwasser
beziehungsweise ein Glas, das Wasser energetisch auflädt) habe ich mich
dann doch beteiligt. Frage Nummer 3 war „Wie heißt die uralte Chronik,
die …“ – da schrie ich schon „Akasha!“ Ich bekam meinen Preis, ein
Originalrequisit aus „Die Mondverschwörung“ gleich zum Mitnehmen vom
Regisseur selbst in die Hand gedrückt – ein doppelter Kerzenhalter mit
einem geflochtenen Mond am Ständer. Jetzt bin ich also der Akasha-Papst
meiner Heimatstadt, weil ich in Kinos Fragen beantworten kann, an die
sich sonst keiner herantraut. Mein Image sackt in den Keller, aber ich
habe einen Kerzenständer. Wow! Damit dürfte ich in meinem Bekanntenkreis der erste
Mensch sein, dem die Akasha-Chronik wirklich einen Gewinn gebracht hat! Dein Homo Magi
Eigenartige Meldungen Lieber Salamander, das Wochenende verbrachte ich damit, an einem großen
Brettspiel teilzunehmen. Es heißt „Das Ewige Spiel“ und spielt auf der
Fantasy-Welt „Magira“. Wikipedia hilft, um das Spiel kurz (na ja) zu
beschreiben:
„(…) Auf der Spielplatte werden Hauptstädte, Städte und Märkte
festgelegt, die gemeinsam als Handelszentren oder Rüstzentren bezeichnet
werden. Spielziel ist es, möglichst viele dieser Handelszentren zu
erobern. Das Land wird zu Spielbeginn entweder an die Spieler verteilt,
oder jeder erhält nur ein kleines Urreich, und die anderen
Handelszentren bilden Nicht-Spieler-Reiche, die erobert werden können.
Jeder Spieler erhält eine gleiche Zahl von Kriegern sowie Baueinheiten,
die in Kriegsgerät und Gebäude umgewandelt werden können. Zur Auswahl
stehen Tiere wie Pferde und Elefanten, Geräte wie Onager, Leitern,
Belagerungstürme, Schiffe wie Segel- oder Langschiffe, Bauwerke wie
Gräben, Mauern oder Türme. Die Magie kommt durch Fabelwesen und Zauberer
ins Spiel. In
einer Runde kommt jeder Spieler an die Reihe: Er zieht erst seine
Einheiten, dann können die Einheiten Handlungen ausführen und kämpfen.
Unterschieden werden Nah- und Fernkampf. Figuren- und
Geländeeigenschaften beeinflussen, welche Mindestwerte der Wurf mit drei
Würfeln haben muss, damit ein bestimmtes Ergebnis erzielt wird: Sieg
oder Überleben eines Kriegers, Untergang eines Schiffes, Zerstörung
eines Turmes usw. Der
Kampf bildet die taktische Ebene. Die strategische Ebene besteht darin,
dass die Spieler frei Bündnisse miteinander schließen können. Wenn man
möchte, kann das taktische Kampfsystem in eine Weltsimulation
eingebettet werden, das Regeln für ein Friedensspiel vorgibt. Jeder
Spieler denkt sich für sein Reich eine Kultur aus, die an fantastische
oder historische Vorbilder angelehnt sein kann oder völlig frei erfunden
ist. Da die Spielregeln darauf ausgelegt sind, einen dauerhaften Sieg
eines Spielers zu erschweren, dauert das Spiel leicht viele Spielabende,
so dass zwischen den Spielen diese Kulturen ausgebaut werden können.
Hierfür gibt es Erweiterungen der Regeln wie Großrunden,
Geheimaufstellungen, Spähen, Rüsten, Jahreszeiten. Das
Ewige Spiel auf Magira wird jedes Jahr auf dem Fest der
Fantasy weitergespielt, auf inzwischen vier Spielplatten, und auch
nach vierzig Jahren ist ein Ende nicht in Sicht. Die Regeln des Ewigen
Spiels werden jedes Jahr weiterentwickelt, entsprechen im Wesentlichen
aber immer noch dem ursprünglichen Armageddon. (…)“ Die Welt „Magira“ hat sogar ebenfalls einen Wikipedia-Eintrag:
„Ursprünglich bestand Magira aus mehreren Kontinenten, die um ein
Binnenmeer herum angeordnet und vom Endlosen Ozean umgeben sind.
Die Welt enthielt viele verschiedene Länder und Kulturen, die
unterschiedlichen Vorbildern aus Antike und Mittelalter nachempfunden
sind. Dabei entspricht die geographische Anordnung der einzelnen Länder
auf dem Urkontinent Magira in groben Zügen der geographischen Anordnung
der Vorbildkulturen in der realen Welt. So liegt beispielsweise das dem
frühmittelalterlichen Britannien ähnliche Land Albyon im Nordwesten
Magiras, so wie das reale Britannien im Nordwesten der im Mittelalter
bekannten Welt liegt. Aufgrund der Vergrößerung des Vereines und immer
neuer Kulturen wurden im Laufe der Jahrzehnte mehrere weitere »Welten«
hinzugefügt, die über den »Endlosen Ozean« miteinander verbunden sind.
So gibt es die Yddia oder »Westliche Welt«, die Estliche sowie eine
kleinere aus vielen Inseln bestehende »Randwelt« und einen Pol. Die Nähe
zu realen irdischen Vorbildern wurde dabei immer mehr verlassen,
inzwischen existieren auf der Welt Magira auch Zwergenreiche,
Elfenwelten, geflügelte Humanoide, finstere Horden, Gestaltwandler
u.v.m.“[50] Das ist noch nicht das Thema meiner Geschichte, aber ein
Einstieg. Spieler 1 war verhindert, also musste Spieler 2 für ihn eine
Vertretung übernehmen. Spieler 1 war aber neugierig, wie es voranging,
und bat daher Spieler 2, ihn per Meldungen auf das Handy zu informieren.
Das Handy ist ein Teufelsinstrument, und wenn man die falsche Nummer
wählt und der Besitzer keinen Namen auf seiner Mailbox hat, dann wird es
eigenartig. Die Meldung auf die fremde Mailbox war nämlich: „Du, ich
habe Titica für dich erobert!“ Nun ist Titica eine Stadt auf dem
Kontinent Hondanan der alten Welt, aber ob das unanständige
Missverständnis, das sich bei dem Namen fast aufdrängt, dem Besitzer der
Mailbox entgeht, wage ich zu bezweifeln. Jetzt bleiben nur zwei
Hoffnungen: erstens keine Nummernübertragung, zweitens dass der Besitzer
der Handy-Nummer keine Schwester und keine zwölf waffenfähigen Freunde
hat. Und das alles nur wegen eines Simulationsspiels … Dein Homo Magi
Muttersprache
Hallo Salamander, ich gebe es zu, ich habe einige klare Ideen im Kopf, was
Wörter bedeuten mögen. Bei „Sommermärchen“ denke ich erst an Shakespeare
und seinen „Mittsommernachtstraum“, dann kommt irgendwann mal Fußball
gleichauf mit den Brüdern Grimm. Aber die Broschüre, die ich am Wochenende in der
„Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ fand, war zwar mit
„Sommermärchen“ überschrieben, titelte aber dann weiter: „Unterwegs zu
den führenden Resorts und Destinationen“. Denglisch-Alarm, sinnlose
Wörter, die englisch sind (oder sein könnten), aber Deutsch klingen
sollen. „Sommermärchen“, so ein wundervolles, unproblematisches
Wort ohne geheime Nebenbedeutungen, dann die „Resorts“ und
„Destinationen“. Immerhin ist „Re-Sort“ hier kein Pfandflaschensystem
und „Destin-Ation“ hat nichts mit Schicksal („destiny“) zu tun. So wäre
dann „Destin-Ation“ wohl Grabpflege … ist es aber nicht. Ich bin kein Verteidiger einer reinen Sprache; Sprache
verändert sich, adaptiert, mutiert. Ich verstehe aber nicht, warum der „Tolpatsch“
zwei „l“ haben muss, warum das gute alte „ß“ immer mehr verschwindet,
oder warum es „Destinationen“ geben muss („Ziele“ hat nicht mehr
gelangt, oder?). „Sommermärchen. Unterwegs zu den führenden Brain-Pains
und Badnames“ – das wäre zumindest ehrlich. Aber es gibt ja auch Magie und Magick (und Magic und Magik)
im deutschen Heidentum, auch hier schöpft man versuchsweise ein Wort
neu, um sich abzugrenzen – „Sommermagie – unterwegs zu den führenden
Resorts und Destinationen“ klingt aber schon nach einer Marketing-Idee.
Oder? Dein Homo Magi
Heidnische
Glücksspiele
Hallo Salamander,
kürzlich fiel mir bei einem Außentermin ein Hinweis auf ein Kuhroulette
in die Finger. Ich wollte es nicht glauben, war da irgendwie unbedarft.
Vielleicht fehlt mir die Nähe zum „Nährstand“, vielleicht ist es mein
Unwillen, den Sinn der Menschen nach sinnloser Unterhaltung einschätzen
zu wollen.
Aber ich habe meine Suche nicht weit führen müssen, denn schon der erste
Treffer bei Google (www.kuhroulette.com/) war eindeutig. Es geht um
Kuhfladen und den Abwurf derselben auf einem Feld. Da darf man vorher
Geld drauf setzen.
Cool und sicherlich zutiefst heidnisch. Keine Technik, kein Plastik,
kein moderner Schnickschnack. Sollte man auf einem Heidentreffen mal als
Pflichtprogramm einführen – neben Schweinepoker, Hühner Mah-Jongg und
Pferde-Skat. Wird sicher ein Renner.
Und tief in mir drinnen regt sich eine Stimme, die sich fragt, wer sich
so etwas ausdenkt. Wahrscheinlich dieselben Gehirne, die bei
Wettbewerben Schweine werfen lassen oder Hähne in eine Kampfarena
stecken. Ich esse Fleisch, bin also für eine Tier-Kuschler-Fraktion
nicht zu gewinnen und glaube weiterhin, dass Veganer von der Vega
kommen, aber das geht irgendwie zu weit. Schluss mit dem Kuhroulette!
Gebt den Kühen ihre Ehre wieder!
Lang lebe Klarabella Kuh![51]
Sie sei unser gemeinsames Zeichen für Widerstand gegen die Entweihung
der Kühe!
Dein Homo Magi
Amazing Grace
Hallo Salamander,
in den letzten Jahren bin ich zwei Mal gefragt worden, was
ein Verstorbener zur Beerdigung gespielt haben möchte. Okay, ich bin da
ein gebranntes Kind, seit vor vielen Jahren ein Freund aus dem Fantasy-Fandom
für die Trauerfeier von seiner Witwe alles rausgestrichen bekam, was
nach Fantasy klingt. Im Lebenslauf war kein Wort davon zu hören, im
Nachruf war kein Wort davon zu hören … aber die Musik aus dem „Herr der
Ringe“-Film, die hat sie wohl nicht erkannt. Und so weinten nur die 15
anwesenden Fantasy-Fans, als die Musik kam … der Rest der Kirche wusste
nicht, was gerade geschah. Schrecklich. Als mein Vater starb, konnte ich meine Mutter irgendwie
nicht überzeugen, ein Stück aus „Die Blume von Hawaii“ zu spielen, am
besten „Bin nur ein Jonny“. Hätte gepasst, aber … so sangen wir
Tersteegen und Schubert. Als jetzt ein guter Freund starb und mich die
Familie fragte, entschied ich mich für „Von guten Mächten“ mit dem Text
von Bonhoeffer. Aber das nächste Mal, wenn ich gefragt werde, was jemand
zur Beerdigung hören wollte – und wenn dann wieder alle glauben, dass
sich es wissen müsste, weil der Verstorbene mir doch bestimmt gesagt
hat, was … dann sage ich wie aus der Pistole geschossen „Amazing Grace“,
und natürlich wollte der Verstorbene, dass es ein Dudelsackspieler mit
Schottenrock am offenen Grab spielt. Ehrlich. Also: Vorsicht! Wenn ihr mit mir an einem Grab steht und es
läuft „Amazing Grace“ dann schaut nicht rüber, weil ich nicht weiß, ob
ich meine Gesichtszüge kontrollieren kann und nicht vielleicht doch in
mich hinein lächele. Dein Homo Magi
Geruch des Todes
Hallo Salamander,
vor einigen Wochen verstarb ein enger Freund. Das Herz gab auf. Da er
nicht zur Arbeit erschien, musste man seine Wohnung aufbrechen lassen.
Da hatte er aber schon drei Tage tot in der Wohnung gelegen.
Nun liest man immer wieder von Leichengeruch, von Wohnungen, in denen
Tote über Wochen gelesen haben. Das war hier nicht so. Der Tod trat an
einem Sonntag ein, Dienstag kamen tagsüber Notarzt und Polizei. Diese
nahmen die sterblichen Überreste mit. Mittwoch war ich dann in der
Wohnung.
Vom Kopf her war ich auf alles vorbereitet. Ich hatte mir vorher
ausgemalt, wie das werden würde. Was mich erwarten würde. Wie ich damit
umgehen könne. Aber dann war doch alles anders. Der Geruch nach Tod –
nicht nach süßer Verwesung, nicht nach Krankheit, es ist ein anderer
Geruch, schwer zu beschreiben, weil man ihn sofort vergisst und nie
vorher kannte und doch immer wieder weiß, was es war – ist wie ein
Schlag in den Nacken. So, als würde das Großhirn kurz überbrückt und das
Kleinhirn würde sofort umschalten und Bilder blitzen. „Aas“, „Tod“,
„unrein“ oder so ähnlich könnten die Bilder lauten, die mein Kleinhirn
an mein Großhirn funkte.
Alles rationale Denken wir in der Wirbelsäule wie abgeschnitten, im Kopf
kamen nur noch Bilder an.
Fluchtreflex. Ekel. Abscheu.
Durchatmen.
Ekel. Abscheu.
Durchatmen.
Ekel.
Nicht darüber nachdenken, dass der Geruch alles ist, was von deinem
Freund geblieben ist. Dann wird es langsam besser. Sehr langsam, aber es
geht.
Wir haben unser Sterben in Kliniken verbannt, unseren Tod aus den
Wohnungen geholt. Wir haben uns die Chance genommen, uns darauf
vorzubereiten. Jetzt, wenn der Sensenmann in unser Leben tritt, kommt er
unvermittelt und wir sind unvorbereitet.
Es sind nicht die großen Katastrophen, die unser Leben bedrohen. Es sind
die kleinen Katastrophen, gegen die wir uns sichern wollen und gegen die
wir uns daher nicht durch Erfahrung „impfen“. Umso schlimmer kommt es
dann, wenn sie dennoch zuschlagen.
Dein Homo Magi
Bücher
Lieber Salamander,
kürzlich las ich mal wieder ein Buch. Mich von einer eigenartigen Seite
aus nähernd kam ich in den Besitz von Martin P. Starrs „The Unknown God
– W.T. Smith and the Thelemites“[52]
(okay, es war ein Geschenk). Smith war ein Crowley-Schüler in den USA;
die Beschreibung seines Lebens fand ich schon ausgesprochen interessant.
Aber viel interessanter fand ich folgenden Satz: „Books were essential
magical weapons.“[53]
– „Bücher sind unverzichtbare magische Waffen.“ Dem kann ich mich
anschließen.
Ich habe zwar einen Ritualdolch (das erste Werk eines sehr guten
Messermachers, der mir einen Kirschholzgriff besorgte), eine Schale
(wenn ich ein wenig wühle, finde ich sie auch), einen Umhang (der aber
aussieht, als wäre ich Teil einer Laienaufführung eines beliebigen
Shakespeare-Stückes), Rauchgut und Räucherkohle, aber wenn ich Magie
wirken will, dann nehme ich Gegenstände nur wegen der Optik und halte
mich an das „Magie nur mit den Händen“-Prinzip. Dieser Ansatz, liebevoll
von den Lippen Vincent Prices gestohlen, hat mir die ganzen Jahre immer
genützt.
Und diese Magie nur mit den Händen ist nur wirksam, wenn man vorher
Geist und Hände mit Bildern, Worten und Gesten füllt. Bilder aus
Büchern, aus Liedern, aus dem Theater, aus Gedichten, aus eigenen
Erlebnissen und am Lagerfeuer erzählten Geschichten. „Bücher verlängern
die gefühlte Lebenszeit“, so heißt der Spruch. Mir geht es genauso. Ich
kann in Büchern versinken, sie fressen, in ihnen aufgehen – und sie sind
magische Waffen. Erstens vermitteln sie gekonnt jedem Besucher das
Gefühl, ich sei ein belesener Mensch. Und da die ganzen Nicht-Leser
„belesen“ mit „weise“ gleichsetzen, komme ich damit ganz gut klar.
Zweitens haben sie über die Jahrzehnte hinweg meinen Sprachschatz
verbessert. Ich kann mich besser ausdrücken, habe einen größeren
Wortschatz und wirke damit intelligenter. Der Zusammenhang „intelligent“
mit „weise“ kann aus obigem Punkt gefolgert werden. Drittens verlängern
sie subjektiv die Lebenszeit. Da „älter“ und „weise“ … wir verstehen
uns. Viertens kann man sie hervorragend werfen, wenn einen jemand nervt.
Kein Zusammenhang mit „weise“, aber der „weise Narr“ ist eine wichtige
magische Figur, die man durch solche Handlungen zumindest in der
Wahrnehmung der Umwelt erreicht.
Also: Vier Gründe für Bücher als magische Waffen. Ich darf also weiter
lesen.
Dein Homo Magi
Kommunikation auf Fahrrädern Lieber Salamander, immer, wenn man glaubt, dass man alles gesehen hat, fällt
dem Schicksal etwas Neues ein. Gestern sah ich eine junge Frau auf einem
Fahrrad, die ein Handy in der rechten Hand hielt und auf dem Handy eine
SMS tippte. Wenn ich schon mitteilen möchte, dass ich das telefonieren
beim Fahrrad fahren für die Verkehrssicherheit abträglich finde (wie –
nebenbei – auch beim Auto fahren), so ist das eine Steigerung der
Möglichkeiten. Mit einer Hand am Lenker, die Augen auf dem Display – und
dann kann man schon froh sein, wenn sie nicht zwei Stöpsel im Ohr hat
und zusätzlich zur Blockierung der Augen nicht auch noch das Gehör
blockiert. Werde ich jetzt alt und spießig? Ist das der erste Schritt
hin zu einem gekeiften „Früher gab es so etwas nicht?“ Seit einigen Jahren erwische ich mich dabei, dass ich (wenn
auch netterweise leicht abgewandelt) Sätze zum Besten gebe, die meine
Eltern früher mir mitgegeben haben. Nur ist der alte Satz von „Wir
hatten ja nichts. Wir sind morgens mit Holzschuhen im Schneesturm über
eine Stunde zur Schule gelaufen.“ abgewandelt worden in „Wir hatten ja
nichts. In der Schule mussten wir ohne Computer lernen, es gab nur drei
Fernsehprogramme und diese erst ab nachmittags und wir mussten unsere
Freunde besuchen, wenn wir mit ihnen reden wollten.“ Der Kern bleibt
derselbe, das Leiden jeder älteren Generation ist in keinster Weise mit
dem Ringen der Nachkommenden zu vergleichen, weil bei einem selbst alles
viel härter war. So ist es wohl auch mit den Fahrradfahrern und dem Handy.
Ich finde es Verkehrsgefährdung, richtig. Aber weniger clever war es
auch, wie wir vor über zwanzig Jahren auf einem Ostblock-Moped ohne
Helme, aber mit einem geschlossenen Kanister Federweißer hinter dem
Rücken über die Landstraßen gerast sind – bis der Federweißer-Kanister
explodierte, uns beide völlig zusaute und mit Karacho in die Böschung
haute (weil mein Fahrer bei dem Knall den Lenker verriss). Jeder Generation ihre eigenen Fehler. Vielleicht macht man
das einfach in einem bestimmten Alter. Warum auch immer, es wächst sich
hoffentlich aus. Und ja, ich werde älter. Aber hoffentlich nicht allzu
spießig. Dein alter, weiser Homo Magi
Getrennte
Geschlechter
Hallo Salamander,
die Trennung zwischen zwei Geschlechtern halte ich weiterhin für
schwierig. Solange es Formen uneindeutiger männlicher oder weiblicher
Sexualität gibt, diskutiert man abweichende Sexualität eigentlich
darüber, dass das Abweichungen von einer Norm sind.
Nur glaube ich nicht an die Norm. Ich glaube nicht daran, dass wir von
Gott geschieden zwei Geschlechter sind, die sich sauber trennen lassen.
Es gibt Mischformen, Überschneidungen, unklare Zuordnungen, Männer in
Frauenkörpern, Hermaphroditen, Geschlechtslose … zu viele Formen, zu
viele Arten, als dass eine 1:1-Trennung in Männer und Frauen realistisch
wäre.
Sicherlich gibt es in diesem Bereich auch eine sehr hohe Dunkelziffer.
Wer schaut schon jedem in die Hose, um seine primären Geschlechtsorgane
mit der in der Gesellschaft gespielten Geschlechterrolle in Einklang zu
bringen?
Es gab ein viktorianisches Partypiel, bei dem man beweisen sollte, zu
welchem Geschlecht man gehört (möglichst, ohne sich komplett zu
entkleiden). Für Männer war es schwierig, weil Nicht-Brüste sich
schwerer dokumentieren lassen als Brüste. Bis einem Mann dann auffiel,
dass der Adamsapfel (wenn er ausgeprägt genug ist) unproblematisch als
sekundäres Geschlechtsmerkmal gelten kann.
Ich glaube, dass die operative Geschlechtsumwandlung vielen Menschen
geholfen hat, in eine Rolle zu geraten, die ihnen ihre Seele vorgibt,
aber ihr Körper nicht möglich gemacht hat. Die Frage ist, ob eine
liberalere Gesellschaft mit solchen „Problemen“ (extra in
Anführungsstrichen) nicht so umgehen könnte, dass die Operation an sich
überflüssig ist. Diese Frage kann ich nicht beantworten.
Feststellen kann ich aber, dass die Trennung in zwei Geschlechter mit
der Möglichkeit des Geschlechterwechsels dazu führt, dass einige Dinge
eigenartig sind. Ich nehme sie mal als Anzeichen dafür, dass das
zugrunde liegende System falsch ist. Eine einfache Frage: Frauen gehen 5
Jahre früher in Rente als Männer. Wenn ich also als Mann eine
Geschlechtsumwandlung mache – sinkt dann mein Rentenalter um 5 Jahre?
Wahrscheinlich schon.
Wäre doch mal ein Plan für die Bundesregierung – wir senken die Quote
der älteren Arbeitslosen ab 57 dadurch, dass die alle eine bezahlte
Geschlechtsumwandlung erhalten, so dass sie ab jetzt statt Arbeitslosen
Rentner sind. Brillanter Plan.
Aber die Idee alleine wirft für mich ein eigenartiges Licht auf die
darunter liegende Struktur.
Dein Homo Magi
Oger tötet 7 Menschen
Hallo Salamander,
„Oger tötet 7 Menschen“ könnte die Schlagzeile lauten, die heute durch
Radio unter Internet geisterte:
„Chicago – Der Flüchtige stand unter dem Verdacht, sieben
Menschen getötet zu haben: Nach einer Verfolgungsjagd mit der Polizei
hat sich ein Mann im US-Bundesstaat Michigan selbst das Leben genommen.
Zuvor hatte er sich mit drei Geiseln in einem Haus in der Stadt Grand
Rapids verschanzt. Der Mann habe sich selbst erschossen, während
Polizisten mit ihm am Telefon verhandelten, sagte der örtliche
Polizeichef Kevin Belk.“[54]
Wie komme ich auf den Oger? Nun, ein Mensch war der Mörder nicht. Denn
natürlich hat er nicht 7 Menschen getötet, sondern 8 – sich selbst
zuletzt. Aber das war dann kein Töten mehr, oder? Das ist aber
unwahrscheinlich, denn wer erschossen ist (sogar von sich selbst) ist
getötet worden. Also war es kein Töten. Dann stimmt die Zählung nur,
wenn man davon ausgeht, dass der achte Tote kein Mensch war – daher
heißt es dann „tötet 7 Menschen“.
Aber ein Mensch war der Mörder nicht, also bleiben wenig Alternativen.
Wer ist dafür bekannt, dass er Menschen tötet? Der Oger. Also war es ein
Oger, der in Chicago 7 Menschen getötet hat.
Im Zeitalter von Harry Potter & Konsorten wäre das eine Schlagzeile, die
untergehen würde, weil es viele solcher Schlagzeilen über Fantasyromane
und Fantasy-Rollenspiele gibt. Dafür stand gestern im örtlichen „Oxfam“
der Fantasy-Roman „Die Elfen“ unter historische Romane einsortiert. Die
Grenzen zwischen den Welten scheinen also zu verschwimmen …
Dein Homo Magi
Magier im Netz
Hallo Salamander,
natürlich ist das Internet ein schöner Platz, um Netzwerke zu erstellen.
Selbst wenn der Begriff „social network“ mehr und mehr im Zusammenhang
mit dem Internet gebraucht wird, so ist das nicht wahr. Ein
Internet-Netzwerk kann ein reales „social network“ mit echten Menschen
nur abzubilden versuchen, aber niemals selbst eines sein. Selbst wenn es
einen Kontakt zwischen zwei echten Menschen initiiert, so wird das
Netzwerk erst dadurch zum Netz,
dass man es bei einem persönlichen Treffen schließt.
Eine Begriffsverwirrung, die uns Menschen eher zu trennen als zu
verbinden scheint. Natürlich bin ich vereinsamt, wenn ich auf einem
Polsterstuhl sitze, jeden Tag 18 Stunden online bin, aber arbeitslos und
von Hartz IV bedroht. Ein noch so großes digitales „social network“
verhindert nicht, dass ich dann trotzdem allein bin. Noch mehr allein,
als ich es unter Menschen wäre, umgeben von der reinen Illusion von
Gesellschaft. Solange ich nicht sicher bin, ob jeder digitale Avatar ein
echter Mensch ist, brauche ich nicht darüber nachzudenken, ob hier
Freundschaften möglich sind. Viele tun es trotzdem und machen ihre
Computerbekanntschaften zu Freunden – wir lachen, wenn Kinder von
irrealen Freunden sprechen, die für uns unsichtbar bleiben oder sich mit
ihren Stoffpuppen unterhalten … eine Wahrnehmung und Reaktion, die wir
ärgerlicherweise nur gegenüber Kindern einsetzen.
Das von mir selbst angegebene Profil im Internet schildert und spiegelt
doch nur meine Selbsteinschätzung, die durch keine Umwelt
abgefedert/korrigiert wird. Auf einmal bin ich ein toller Hecht im
Karpfenteich, wo meine Freunde mir mitteilen müssten, dass ich
eigentlich nur ein Karpfen bin. Was ist so schlimm an Karpfen? Man kann
auch ein netter Karpfen sein, eine Freundin/Frau finden, eine Arbeit
haben, die einen ausfüllt, einen Bekanntenkreis, der einen mag, wie man
ist. Aber man wäre so gerne Hecht und wenn man sich oft genug als Hecht
ausgibt und nicht verbessert wird, dann glaubt man auch, ein Hecht zu
sein – nur lernen die echten Hechte schnell, dass man ein Karpfen ist,
und fressen einen. Oops.
Eigenartige Parabel, ich weiß. Aber wer meine Hecht-Karpfen-Geschichte
nicht mag, aber glaubt, dass „social networks“ primär binär abgewickelt
werden, der hat einen an der Klapse. Nicht mehr und nicht weniger.
Dein Homo Magi
Bauchredner für Jesus
Hallo Salamander,
auf einer von mir immer wieder gerne besuchten Website
http://clockworker.de fand sich am
20.07.2011 ein Eintrag namens „Puppenspieler vergangener Zeiten“. Der
Link führte zu
http://gotopublicschool.com/photography-things/vaudeville-ventriloquist-dummy-portraits,
wo mich dann folgendes Meisterwerk anlächelte:
Mein Englisch ist eigentlich gut, aber ich musste
mich dann doch durch die Website
http://godisgood.net
lesen, um ein paar wichtige Fakten zu finden. „I love him dearly, and I
love hurting people”[55],
also „Ich liebe ihn [Gott] innig und ich liebe es, Menschen weh zu tun?“
Nein, hier stimmt etwas nicht.
Die Bauchrednerpuppe bleibt nebenbei für den Rest der Geschichte
verschwunden. Wer also sie sucht, sollte hier mit dem Lesen abbrechen.
Herr Bishop (sein Titel ist „Bro.“[56],
cool, oder?) erkrankte 1995 und verlor sein Gedächtnis.
„I had even forgot that were married or even what marriage was, but once
I found out what it was, I sure did like it!“[57]
Ein Mann, der sein Gedächtnis verliert (und seine Bauchrednerpuppe) … da
kann ich schon verstehen, dass man dann Prediger wird.
Bleibt nur die Frage, warum er Menschen gerne wehtut.
Also musste ich wieder ein wenig
auf der Homepage wühlen, aber man findet ja alles, wenn man heftig genug
sucht: „I want to help the broken-hearted and hurting people of this
world to see God’s goodness and righteousness, helping others (…). God
may not always choose to heal, but He will never fail to help His
children! „[58]
Er tut Menschen nicht gerne weh, zumindest wollte er das nicht aussagen.
Er will Menschen helfen, die Schmerzen haben. Damit kann ich umgehen.
Und die Puppe? Ich bleibe dran.
Dein Homo Magi
Amerikas Grenzen
Lieber Salamander,
kürzlich hatte ich eine Unterhaltung mit einer gewiss nicht doofen
amerikanischen Hexe. Wir saßen im Kreis, es war schon düster, wir
unterhielten uns auf Englisch. Im Kreis verstanden die meisten Menschen
gut Englisch, das Reden in Englisch fiel einigen von uns schwer, aber
wir haben trotzdem verstanden, was sie uns sagen wollte.
Es ging um Amerika. Um die deutsch-amerikanische Freundschaft, die in
den letzten zehn Jahren immer mehr und mehr den Bach runter geht. Um das
Ende des Re-Education-Programms. Um die amerikanische Angst vor
islamistischen Attacken in Deutschland. Um das Abriegeln der
amerikanischen Kasernen nach den Anschlägen vom 11. September. Um viele
Dinge. Sie wusste sehr wenig davon.
Sie wusste nichts von den Einreisehemmnissen in die USA. Sie wusste
nichts von der Abriegelung der Kasernen in Deutschland. Sie wusste
nichts von der Fragepolitik bei der Einreise. Sie wusste wenig von den
UN-Einsätzen, sie wusste nichts von der deutschen Politik zu
Kriegseinsätzen, sie wusste nichts …
Eine aufgeklärte, intelligente, charmante und politisch interessierte
Hexe meines Alters. Eine Frau, die ich als persönlich integer und
intelligent werte. Es geht nicht darum, dass sie doof ist. Überhaupt
nicht, das absolute Gegenteil ist der Fall. Es geht darum, dass die USA
scheinbar mehr und mehr zu einer Informations-Diktatur wird. Ein
sterbendes Imperium, das sich aus den Kriegsschauplätzen zurückzieht und
seine Truppen daheim einsetzt. Ein Land auf dem Wege in eine Diktatur.
Es war erschreckend.
Dein Homo Magi
Bauchredner für Jesus
II
Hallo Salamander,
ich habe mir große Mühe gegeben, um etwas mehr über Timmy und seinen
bauchrednerischen Prediger (oder war es umgekehrt?) herauszubekommen.
Mein Liebling ist der Hinweis auf eine ehebrecherische Beziehung
zwischen Frau Bishop und der Puppe (http://houseofnonsense.tumblr.com/post/327096416/evangelist-john-bishop-was-remediated-to-a)
– samt dem Hinweis auf die zerhackten Holz-Überreste von Timmy.
Auch schön finde ich die immer wieder in Foren gestellte Frage, wer von
den Dreien denn die Handpuppe ist – ob es die Frau mit den zu vielen
Zähnen und der Betonfrisur ist, oder der Herr mit dem schiefen Lächeln.
Aber ansonsten … keine Hinweise. Timmy könnte also auch ein
Außerirdischer sein, der über die Familie Bishop versucht, unsere
Zivilisation zu übernehmen. Natürlich, es gibt keinen einzigen Hinweis
dafür – aber auch keinen dagegen, was an sich schon gefährlich genug
ist.
Aber jetzt lasse ich das Thema auch ruhen (außer jemand erfährt, was aus
Timmy geworden ist!).
Dein Homo Magi
Etaoin Shrdlu
Hallo Salamander,
mein Englisch ist eigentlich gut. Aber als ich kürzlich in einem Buch
über einen Reporter las, er sei ein „Etaoin Shrdlu at heart“ gewesen,
musste ich doch nachlesen.
Großartig! Was sich wie ein sumerischer Fluch spricht und wie eine
griechische Beschwörung liest, ist viel mächtiger, viel kraftvoller viel
unterhaltsamer als beide Theorien. Bei Qwertzu, wie konnte mir das
entgehen!
Ich zitiere mal aus Wikipedia, dem Abgrund des Wissens:
„ETAOIN SHRDLU sind die zwölf am häufigsten genutzten
Buchstaben der englischen Sprache. Dies ist leicht verschieden
von der
Buchstabenhäufigkeit
in Wörterbucheinträgen. Die gesamte Sequenz ist
ETAOIN SHRDLU CMFWYP VBGKQJ XZ
ETAOIN SHRDLU waren die ersten beiden vertikalen
Tastenreihen der
Linotype-Setzmaschine,
die nach der Buchstabenhäufigkeit der englischen Sprache angeordnet
worden waren. Die Buchstabensetzer haben manchmal den Finger entlang der
Tastenreihe gefahren, um eine Zeile, die bereits einen Fehler enthielt,
mit Buchstaben zu füllen. Dieses Auffüllen war schneller und einfacher
als eine fehlerhafte Zeile per Hand zu korrigieren. Diese Zeile mit
Unsinn wurde dann beim Korrekturlesen entfernt. Manchmal erschienen
diese Buchstaben auch versehentlich im Druckerzeugnis.
Dies passierte zumindest so häufig, dass die beiden
Sechserfolgen als Worteintrag im
Oxford English Dictionary
erschienen, ebenso wie im Random House Webster’s Unabridged Dictionary.
Scherzhaft wird die Sequenz auch wie zwei normale Worte Etaoin Shrdlu
ausgesprochen.“
Die Schreibmaschine, der Computer – sie sind heute viel mächtiger als
die Erinnerung an die sumerischen Götter, viel stärker als griechische
Beschwörungen. Endlich gibt es einen Fluch, der einem die verbürgte
Macht gibt, in die Tiefen von ASCII und Festplatte vorzudringen,
Programme zu beeinflussen, Daten zu verändern: Etaoin Shrdlu über dich,
du Widerling!
Bei Qwertzu, wir werden siegen!
Dein Homo Magi
High Noon an der
Essensausgabe
Hallo Salamander,
gestern hatte ich einen Außentermin, der mich auf dem Rückweg zwischen
10 vor 12 und 2 vor 12 an zwei Restaurants vorbeikommen ließ.
Das erste Restaurant trägt einen bürgerlichen Namen und liegt
verkehrsgünstig an einer Straßenbahnhaltestelle. Trotzdem hat es vor
Jahren schließen müssen, so wie in der Umgebung Laden nach Laden
schließen musste und es keine Laufkundschaft mehr gab. Jetzt ist es für
die „Tafel“ vermietet worden; mittags werden hier Essen und
Nahrungsmittel an Bedürftige ausgegeben.
An der Straßenbahnhaltestelle ist eine Ampel. Ich stand einige Minuten
und konnte mir anschauen, wer vor der Tür stand. Menschen aus allen
Altersgruppen, die darauf warteten, dass die Uhr um 12.00 Uhr geöffnet
wird. Sie hatten schäbige Taschen dabei, trugen ältere Kleidungsstücke.
Die Haare der Frauen waren noch frisiert, die Hände der Männer sauber.
Aber meinem Blick wichen sie aus, stellten sich mit dem Gesicht zur
Wand, um von der Straße aus nicht erkannt zu werden. Eine Scham, die aus
Armut gespeist wird.
Zwei Ecken weiter musste ich an einer Fußgängerampel stehen bleiben. Ein
weiteres Restaurant, das erst um 12.00 Uhr öffnet. Blümchen im Fenster,
ein Schickimicki-Schild in der Tür. Davor Mitarbeiter eines Amts mit
Plastikerkennungsschildern an Brust oder Gürtel. Frauen im Kostüm,
Männer im Anzug. Blitzende Zähne, gut sitzende Frisuren, teure Uhren und
teure Ringe. Eine Arroganz, die aus Reichtum gespeist wird.
High Noon in meiner Heimatstadt. Gebe Gott, dass ich nie
dazwischenstehe, wenn die erste Gruppe auf die zweite Gruppe trifft und
die erste Gruppe sich darüber klar ist, dass ihre Armut auch am
Wegschauen und der inneren Distanz der zweiten Gruppe liegt.
Dein Homo Magi
Zwei Dutzend Jahre
später
Hallo Salamander,
auf unserem Fantasy-Sommerfest hatte ich ein Erlebnis der dritten Art.
Ich muss ein wenig ausholen, um das zu erklären; du wirst mir verzeihen
müssen.
Auf dieses Fantasy-Sommerfest fahre ich mit wenigen Unterbrechungen seit
fast 30 Jahren jeden Sommer. Und es gibt eine Kerngruppe von Leuten, die
ich dort auch jedes Jahr wiedertreffe. Dabei sind – verstreut, aber
auffindbar – auch Heiden aller Couleur. Das ist nicht ungewöhnlich – auf
den „Science Fiction WorldCons“ gibt es immer wieder offiziell im
Programm „pagan meetings“, beide Szenen (Heidentum und Phantastik)
überschneiden sich schon länger und immer signifikant.
Also: Vor 24 Jahren wurde ich damals als Veranstalter des Sommerfestes
eingeladen, an einem Ritual teilzunehmen. Ich war damals sozusagen der
„Hausherr“ und die Höflichkeit gebot, mich auch einzuladen. Ich war
begeistert, fasziniert, im Innersten berührt. Ich fragte am nächsten
Morgen gleich nach der Möglichkeit einer „magischen“ Ausbildung. Die
bekam ich, fast 12 Jahre lang lief alles gut. Ich durchlief alle (Wicca-)Grade,
lernte über Magie, lernte über mich selbst und veränderte in vielen
kleinen Schritten mein Leben.
Dann: Peng. Ein „fehlgelaufenes“ Ritual, der Vorwurf der Besessenheit
durch Dämonen (nein, das ist kein Witz), privater Ärger und die
Kündigung aller Freundschaften mit mir im „Kreis“. Ich war verdattert,
hilflos, verletzt, fast unfähig, alleine weiter zu machen. Dann begannen
die Jahre, die ich „versteckt in meinem Keller“ das deutsche
(organisierte) Heidentum nur beobachtet habe; zu verletzt, um aus
eigener Kraft wieder Kontakt aufzunehmen. Es waren andere, die mich da
raus holten.
Es dauerte Jahre, bis ich mit meinem ehemaligen „Kreis“ wieder ins
Gespräch kam – über ein „Guten Tag“ hinaus, wenn ich das mal so zaghaft
umschreiben darf. Ich hatte den Eindruck, dass sich langsam aber sicher
die Ansicht durchsetzte, dass ich vielleicht nicht von Dämonen
übernommen worden war und auch nicht an „allem“ schuld war, was im Kreis
schiefgelaufen war. Andere traf ebenso Schuld (nein, ich vergebe hier
keine Wertungen), viele hatten nach meinem Weggang (der unfreiwillig
war, wenn ich das mal betonen darf) auch Schaden genommen. Großen
Schaden.
24 Jahre später stehe ich also wieder auf dem Sommerfest und will am
Abend einen Nachruf auf meinen verstorbenen Freund organisieren. Zwei
Freunde erklären mir, dass sie dann später kämen, weil sie noch zu dem
Ritual gehen würden. Mir war das klar, kein Problem, mit beiden hatte
ich schon relativ früh Frieden geschlossen. Aber dann kam von meiner
ehemaligen Ausbilderin der Satz, dass man den Termin ja auch verschieben
könne, wenn ich am Ritual teilnehmen wolle … Hey, da musste ich über
zwölf Jahre drauf warten, es war zwar keine Einladung, sondern eher eine
Einladung im Nebensatz, aber … einem geschenkten Ritual schaut man nicht
ins Maul oder so ähnlich sagt der ältere Magier.
Man verschob, ich nahm Teil. Es war ein schönes Ritual, das will ich
überhaupt nicht leugnen. Wir standen im Wald und ich schloss die Augen.
Ließ die Namen an mir vorbeiziehen, die in den letzten 24 Jahren Teil
dieses Kreises gewesen waren. Dachte an einen toten Freund, an eine
verschollene Freundin, an viele gemeinsam verbrachte Tage, an Feiern
unter dem Sternenlicht, in Burgmauern oder im Wald. Ich hörte Stimmen,
die Texte sprachen, die ich schon vor 24 Jahren gehört hatte (und zum
Teil noch mitsprechen konnte – das Gedächtnis des Menschen ist ein
Verräter!).
Aber es war irgendwie … anders. Ich fühlte mich wie auf einem
(magischen) Klassentreffen, hatte Freude, Teil der Gruppe zu sein, aber
ich war nicht mehr Teil der Gemeinschaft. Mir war klar, dass das hier
ein Abschied war. Ein Wiederkehren, um zu zeigen, dass die Wunden
verheilt, aber vernarbt sind. Ich musste lange warten, bis man mir die
Gelegenheit gab, wieder Teil der Runde zu sein – und wir brauchten
diesen Moment, um zu begreifen, dass nicht alles heilbar ist. In den
Jahren haben sich unsere Wege getrennt, sind unsere Pfade auseinander
gelaufen. Ich bin weiter gelaufen, sie auch. Wir hätten gemeinsam gehen
können oder uns immer wieder austauschen können, wie unsere Pfade
aussehen. Haben wir aber nicht. Ich konnte nicht, sie wollten nicht.
Nicht alles löst sich in Liebe und Freude auf. Das war sicherlich die
härteste Lektion in 24 Jahren Ausbildung. Aber da im Wald … da spürte
ich in meinen Händen die Hände von Freunden, die mir in meinem Leben
viel bedeutet haben und zum Teil noch viel bedeuten. Dafür: Danke.
Dein/Euer Homo Magi
In 80 Sitzungen um
die Psyche
Hallo Salamander,
dir kann man es ja erzählen … ich habe jetzt heroisch mein Kontingent
erfüllt und die 80 Sitzungen, die einem die Krankenkasse verschreibt,
ohne dass man zugeben muss, einen größeren Dachschaden zu haben,
abgeleistet. Auslöser waren vielen Dinge … ein wenig Stress, ein wenig
Trauer, ein wenig Dinge, die man halt so mit sich herumschleppt.
Nun, es war schwierig genug eine Therapeutin zu finden, die mich nicht
in eine Schwitzhütte schleppen oder mit Kristallen heilen wollte. Aber
diese Ecke kenne ich, vielen Dank, es gibt Dinge, dafür sind diese
Ansätze ganz toll … aber bei Problemen, die weltlich sind und nur
weltlich, suche ich gerne nach einer weltlichen Lösung.
Und die habe ich gefunden. Einige Dinge haben sich klären lassen, andere
nicht. Hey, ich bin aber wohl zu alt um noch darauf zu hoffen, dass mein
Charakter völlig umgebaut und neu hergestellt wird. „Improved me“ oder
so, „Homo Magi 2.0“. Alles unrealistisch. Man hat sich doch zu viele
Kleinigkeiten angewöhnt, die bei näherer Betrachtung einfach schwer
abzulegen sind. Immerhin ist der eigene Charakter ein wenig auch die
Summe der eigenartigen Angewohnheiten.
Also: Ich habe es erledigt. Und im Prozess festgestellt, wie viele
Menschen (gerade auch Männer) es gibt, die in meiner Altersgruppe so
etwas schon hinter sich gebracht haben. Der Tod der Elterngeneration und
die neue Rolle sind da Themen. Das habe ich also durch. Zumindest
soweit, dass mir klar ist, wo meine Lücken sind.
Trotzdem glaube ich, dass die esoterische Heilung ihren Platz hat in
meinem Leben. Aber eben für Aufgaben, bei denen sie etwas nützt. Ich
würde nicht wegen Krebs oder einem Schnupfen zu einem Heiler gehen,
sondern zum Arzt. Aber diese Gemengelage der Angebote macht das Leben
doch interessanter und bunter, oder?
Dein Homo Magi
23 Jahre
Hallo Salamander,
kürzlich musste ich ein wenig nachrechnen, aber es stellte sich dann
doch heraus, dass mein erster Schätzwert richtig war. Ich bin heute 46,
der Autounfall, der mein Leben verändert hat, war mit 23.
Abgesehen von der tieferen Bedeutung der Zahl 23 (ich verweise nur
ungern Nichtwissende auf die geheime Illuminaten-Verbindung und „23
skidoo“[59],
da ich damit ein großes Geheimnis verrate) und meines somit nicht mehr
geheimen Lebensalters ist es doch erstaunlich, dass ich jetzt die Hälfte
meines Lebens damit lebe, ab und an mal einen Stock zum Gehen zu
bemühen, obskure Medikamente in mich hineinzufressen und eigentlich
einen Status zu haben, dass ich tot sein müsste, es aber – sehr zum
Ärger oder der Verwunderung diverser Mediziner – nicht bin.
Zurück auf Feld 1. Mit 23 war ich Beifahrer bei einer Pizza-Abholung,
die dazu führte, dass ich unter anderem einen unterhaltsamen Autounfall
verpasst habe (der Schock hat das Gedächtnis gelöscht), ich danach für
arbeitsunfähig gehalten wurde (und zwar erst einmal lebenslang) und dass
ich – wie Zeugen sagen – am Telefon den unsterblichen Satz gesagt habe:
„Ihr müsst die Pizza selber holen, die wird sonst kalt.“ Ich kann mich
an nix erinnern, in Anbetracht der Schäden um mich herum und an mir auch
kaum verwunderlich.
Nun, die nächsten 23 Jahre waren ein langer Weg zurück zur Gesundheit.
Dass ich bei einem Unfall durch eine genetische Disposition zu den
gefährdetsten Opfern gehören würde, das war mir klar. Kam ja auch so.
Dass es so lange dauern würde, bis ich wieder laufen und am normalen
Leben teilnehmen könnte … war mir nicht klar.
Jetzt ist also die zweite Hälfte durchlebt. Wenn ich mit 69 auf drei
Drittel zurückschaue, hoffe ich sagen zu können, dass der Zustand im
dritten Drittel nicht arg unterschiedlich von dem eines „normalen“
Mannes meines Alters war, was die Gesundheit betrifft. Auch wenn mich
Ärzte immer wieder verwirrt anschauen, wenn sie meine Blutwerte mit
meiner Krankengeschichte vergleichen. Wenn ich gefragt werde, wie ich
das mache, gibt es zwei Möglichkeiten (je nach Laune). Entweder ich
antworte, was Robert Bloch zu seinem 60. Geburtstag gesagt hat, als man
ihn fragte, warum er so jung aussieht: „Ich habe das Herz eines
Zwanzigjährigen! Es steht in einem Marmeladenglas auf der Anrichte.“
Oder ich sage, dass ich einfach damals beschlossen habe, nicht daran zu
sterben. Und mein Dickkopf war schon immer mein Markenzeichen.
Dein Homo Magi
Draculas Fluch
Hallo Salamander,
früher war die Welt der Literatur noch einfacher, Klischees waren
Klischees und böse Monster noch böse Monster. Wie anders ist folgende
(klassische) Ankündigung eines Vampir-Taschenbuches zu verstehen:
„Gegen Dracula hatte Craig Weldon keine Chance. Er musste
tun, was der Blutgraf von ihm verlangte. Und als er einen schmutzigen
Trick besuchte, bezahlte er – bis zum letzten Blutstropfen. Professor
Harmon, Cameron Sanchez und die geheimnisvolle Ktara waren mit von der
Partie, als der Kampf gegen die Mafia-Gangster entbrannte …
Doch unversehens geht es um größere Dinge: Die Uralten
haben ihre finsteren Machtansprüche über die Erde noch nicht aufgegeben
– und so stellen sie sich gegen Ka-Zadok, den Zauberer, der mächtiger
ist als die Mafia, aber auch erbarmungsloser …“
Alles wahr – das ist die von mir liebevoll abgetippte Ankündigung für
Robert Lorys „Draculas Fluch“, angekündigt als „Vampir-Taschenbuch 53“
(und so auch erschienen), abgedruckt in „Das Haus des Grauens“ alias
„Vampir-Taschenbuch 52“, Gruselstories von Robert E. Howard (1977).
Mafia-Gangster, Lovecrafts Uralte, ein Blutgraf, Ka-Zadok und Ktara, das
klingt doch packend. Im englischen Original sind neun Bände erschienen,
der neunte bietet sogar einen Wikinger auf dem Cover.[60]
Auf Deutsch sind nur fünf Romane erschienen – bis „Draculas
Todestrommeln“.[61]
Irgendwie wundert es mich nicht, dass es hier dann keinen Kundenstamm
für die fehlenden Romane gab. Uff.
Alles Grundlagen der Magie, die mir entgangen sind. Aber ein
jugendlicher Leser, der damals (Ende der 70er Jahre) im praktischen
Lesealter 14 bis 16 war, der ist immer noch in meiner Altersgruppe
(sagen wir mal höflich: Alters-Korridor), geprägt von Romanen wie
diesen, Filmen a la „Dracula jagt Minimädchen“ (ja, den gibt es
wirklich) und frühen Hammer-Horror-Heulern. Kein Wunder, dass diese
Menschen heute ein völlig anderes Verständnis von Magie und Esoterik
haben als ich (und einige meiner Mit-Menschen). Während sie noch mit
Ka-Zadok ringen und versuchen, willige Weiber den Fängen der Mafia zu
entziehen, lese ich weiter die Art von Büchern, die mit der von ihnen
gelesenen Art von Büchern ab und zu Überschneidungen hat … reicht ja
auch, oder?
Dein Homo Magi
Gerüche
Hallo Salamander,
es ist auf jedem Fantasy- oder Heidentreffen dasselbe. Man sitzt abends
lange am Feuer, es wird viel geraucht, getrunken und geredet. All das
wäre kein Problem – wenn die körperliche Hygiene der entsprechenden
Zielgruppen der meinigen entspräche. Tut sie aber nicht. Daher weiß man
noch Tage später anhand von Bart (soweit vorhanden), Umhang und Hemd des
Nachbar, was der vorgestern zum Abendessen hatte, was für einen Tabak er
raucht und was für ein Holz in dem Feuer verbrannt ist, an dem er bis
2.26 Uhr morgens saß.
Nun gut, es mag Menschen geben, die das anziehend (gar „sexy“) finden.
Ich nicht. Ich glaube, dass morgendliches Duschen – gerade als
Teilnehmer in Gruppen, die viel aufeinander hängen – von Vorteil ist, um
die eigenen sozialen Kontakte nicht zu verschrecken. Und ich glaube
auch, dass Hygiene etwas mit Krankheitsübertragungen, Hautproblemen und
der Chance auf Fortpflanzung zu tun hat. Es mag sein, dass ich damit
alleine stehe (aber Gespräche, gerade mit Frauen, haben mir gezeigt,
dass ich damit nicht alleine stehe, ich bin nur besonders „pienzig“).
Auf diesen Veranstaltungen gibt es dann immer ein großes „event“ als
Höhepunkt – eine Zeremonie, ein Ritual, eine Aufführung. An diesem Tag
geht es dann abends um die Anrufung der Götter, um Magie, um gemeinsame
Rituale. Und auf einmal ist morgens der Duschraum voll mit Herren, die
sich rasieren und ein wenig waschen (nein, ich kann den Zustand im
Damenwaschraum morgens nicht beurteilen). Eine oberflächliche Sauberkeit
wird hergestellt und dann kommt der unvermeidliche Griff in den
Kulturbeutel – das Deo ist angesagt. Vor dem Ritual wird der
Körpergeruch noch einmal schnell mit einem oder zwei Sprühern Chemie
übertüncht, damit man abends den Götter wohlriechend entgegentreten kann
– ein klassisches „in excelsis Deo“, denn in den Höhen der Götter lässt
man sich nur mit Chemiegeruch blicken.
Puuuh.
Dein Homo Magi
Schnipsel
Hallo Salamander,
heute Nacht träumte ich von meiner Großmutter. Wir saßen in der Küche
meiner Großtante, die scheinbar kurz vorher verstorben war, und
unterhielten uns über die Jugend meiner Großmutter. Dann meinte meine
Großmutter unvermittelt, dass sie wegen der geplanten Hochzeit mit
meinem Großvater in der Familie Schwierigkeiten bekommen hätte, weil es
ja mit ihr und meinem Großvater gewesen sei „wie mit Odin und dem
Wasser“.
Dann lächelte sie mich liebevoll an. Aus ihrem Blick wurde mir klar, wie
sehr sie meinen Großvater geliebt haben muss. Ich wachte mit einem
angenehmen Gefühl im Magen auf und hatte klar das Bild meiner Großmutter
und der Küche meiner Großtante vor Augen – so klar wie schon seit Jahren
nicht mehr.
Dann fiel mir auf, dass ich keine Ahnung habe, was meine Großmutter mit
„wie mit Odin und dem Wasser“ gemeint haben könnte. Dazu kommt, dass sie
als überzeugte Christin nie nie nie den Namen „Odin“ in den Mund
genommen hätte.
Rätsel über Rätsel.
Dein Homo Magi
Bahn
Hallo Salamander,
ich glaube ja, dass nicht alle Mitarbeiter bei der Bahn irre sind. Aber
es hilft bestimmt, wenn man wahnsinnig ist, bevor man dort anfängt.
Zur Geschichte. Ich wollte zu einem Kongress reisen. Die Online-Buchung
versprach mir eine Umstiegszeit von elf Minuten. Das klang total
machbar, von daher buchte ich. Aber natürlich war mein ICE schon bei der
Abfahrt zu spät. Im Zug versprach man uns aber, dass der Anschluss-ICE
warten würde, sogar am Gleis gegenüber.
Ich sprang – wie so viele andere – aus dem Zug und rannte über den
Bahnsteig. Die Schaffner riefen immer nur, dass wir uns beeilen sollten.
Also konnte ich nicht mehr schauen, wo mein Zielwaggon war, sondern
sprang einfach in den Zug, der auch wenige Sekunden später abfuhr.
„Wagen 13“. Das hätte mir zu denken geben soll; eigentlich glaube ich
nicht an Zahlenmystik, aber … Mein Platz war in Wagen 2. Also machte ich
mich – wieder in Begleitung von weiteren marodierenden Reisenden – auf
die ausgesprochen lange Odyssee, quer mit dem Gepäck durch gefüllte
Wagen hin zu Wagen 2. Es ging nur langsam voran, aber irgendwann hatte
ich Wagen 3 erreicht. Und prallte gegen die Glaswand. Denn Wagen 3 war
versiegelt – die Glastüren waren versperrt und drinnen war kein Mensch
zu sehen.
Also sprangen wir am ersten Halt raus und wollten in Wagen 3 – aber die
Versiegelung war rundherum, der Wagen war auch vom Bahnsteig her nicht
erreichbar. Wir rannten alle mit dem ganzen Gepäck am Wagen vorbei und
stiegen endlich in Wagen 2. Aber die Konsequenzen waren für den Rest der
mehrstündigen Fahrt klar: kein Kaffeebringdienst, kein Durchkommen zum
Restaurant, aber dafür auch kein Schaffner und keine Horden von Leuten,
die durch unseren Wagen hin- und herliefen, weil sie mal schnell in die
Cafeteria wollten. Aber der Verlust an Nerven hat den Gewinn an Ruhe
nicht aufgewogen … über den mangelnden Nachschub an Kaffee nicht zu
reden, oder?
Eigenartige Arten zu reisen; Abenteuer auf deutschen Strecken. Wow!
Dein Homo Magi
E-Mail-Sicherheit
Hallo Salamander,
heute Morgen bekam ich eine wunderschöne E-Mail:
„Sehr geehrtes Mitglied ClickandBuy,
Aufgrund der Online-Betrug, erhöhter ClickandBuy Sicherheitssysteme für
alle Benutzer. So
aktualisieren Sie Ihr Konto mit der neuen Sicherheitsmaßnahmen laden Sie
bitte das beigefügte Formular aus und befolgen Sie alle Schritte.
Wichtig: Wenn Sie nicht ausfüllen des Formulars, wird Ihr Konto
eingeschränkt werden.
Danke für Ihr Verständnis,
Copyright 2011 ClickandBuy. Alle Rechte vorbehalten.“
Warum schreibe ich solche Dinge nicht zum vermarkten von magischen
Lehrbüchern? Scheinbar ist das doch ein Erfolgskonzept, welches in
Deutschland Geld macht (anders ist nicht zu erklären, dass subsaharische
Ex-Minister immer noch versuchen, ihre Millionen über mich zu waschen).
Also frisch ans Werk:
„Sehr geehrtes Leser Homomagi,
Aufgrund der magischen Bedrohung durch Mayas 2012, erhöhter magischer
Schutz für alle Anwender. So
aktualisieren Sie Ihre Schutzkreise mit der neuen Zaubern, Sie können
aufladen Ihre magische Kordel und Messer für das Ritual.
Befolgen Sie alle Schritte und überweisen Sie Geld auf mein Konto.
Wichtig: Wenn Sie nicht Überweisen auf mein Konto, wird Ihr magische
Sicherheit eingeschränkt werden.
Danke für Ihr Verständnis,
Copyright 2011 HomoMagi. Alle Rechte vorbehalten.“
Bin mal gespannt.
Dein Homo Magi
Arbeitnehmerdatenschutz
Hallo Salamander,
kürzlich las ich in einem Fachbuch über „Arbeitnehmerdatenschutz“[62]
folgenden Absatz in einem Kapitel über Genomanalyse:
„Als besondere Problematik kommt für den Betroffenen (…)
zudem die Tatsache zum Tragen, dass die durch die Analyse frühzeitig
erkannten Krankheiten zumeist nicht heilbar sind und der Betroffene ggf.
unfreiwillig einen Blick in die entfernte Zukunft werfen muss, der seine
Lebensdispositionen und -hoffnungen in Frage stellen kann, wobei darauf
hinzuweisen ist, dass das Recht auf informationelle Selbstbestimmung
auch ein Recht auf »Nichtwissen« gewährt: Zum Kernbereich des
Persönlichkeitsrechts gehört die Freiheit, selbst darüber zu
entscheiden, ob man in die eigene Zukunft schauen oder auf derartige
Erkenntnisse verzichten will.“[63]
Wow, besser hätte ich das über Magie und den Blick in die Zukunft nicht
formulieren können. Deshalb lasse ich es mal so stehen. Einfach so.
Dein Homo Magi
Noch einmal
Arbeitsrecht
Hallo Salamander,
man kann nur erstaunt sein, wie viel esoterische Momente ihren Weg in
das Arbeitsrecht gefunden haben. Weitere Blicke in das „Handbuch zum
Arbeitnehmerdatenschutz“[64]
erbrachten folgenden Absatz:
„Es steht dem Arbeitgeber frei, sofern er sich hiervon
Erfolg verspricht, die Einstellungsentscheidung von dem Ergebnis einer
Kristallkugelbefragung oder von einer astrologischen Begutachtung des
Bewerbers abhängig zu machen.“[65]
Keine Fragen.
Dein Homo Magi
Lemuria singt
Hallo Salamander,
manche Artikel sind so unglaublich, dass man sich kurz überlegt, ob man
sie gerade halluziniert hat. Aber es lässt sich leugnen, dass der
Artikel „Heilung mit Lemurischen Matrix-Klangcodes“ in der Zeitschrift „newsage
5/2011“ erschienen ist.
Die Klangcode-Macherin (ihr Name bleibe das Geheimnis des Magazins und
meines) gründete nicht nur ein „Galacticnetwork“, sondern sie channelt
auch den „kosmischen Klangmeister Oano“. Durch ihn hat sie wohl gelernt,
dass man Menschen in den „Gleichklang des heiligen Ur-Tons“ bringen
kann, wenn man sie „rück-schwingt“. Ich zitiere:
„Matrix-Klangcodes sind Tonabfolgen, die eine immense Kraft
und damit eine Informationscodierung auf die Seelenmatrix und die
Zellintelligenz des Menschen ausüben.“
Seelenmatrix und Zellintelligenz, so so, aha. Meine Seele und meine
Zellen summen also leise mit, wenn die Matrix die richtige Melodie im
richtigen Klang pfeift, wahrscheinlich spüre ich dann erst die immense
Kraft.
Immense Kraft, aha. Und damit diese nicht nur bei Menschen gezeigt
werden kann, reist sie (ja sie, die Schülerin des kosmischen
Klangmeister Oano) 2011 zum Tafelberg in Südafrika, der in Wirklichkeit
eine „gigantische Festplatte“ ist, die „in den spätatlantischen Zeiten
mit vielen Informationen dunkler Manipulationen angereichert wurde“. War
mir irgendwie klar. Irgendwie. Jetzt reist sie (wir erinnern uns: die
Oano-Schülerin) zwei Wochen dort hin, um ihn zu „entstören“. Vorher war
sie schon in Machu Picchu, auf Hawai und in Australien – wahrscheinlich
auch, um hier spätatlantische Informationen zu entstören.
Wie nannte man eigentlich heilige Orte, bevor man den Begriff der
Festplatte hatte? Und was sagte man, bevor man wusste, dass man
bestimmte Geräte entstören muss? Oder sind wir jetzt endlich auf einem
Niveau der Technik, das es uns erlaubt, spätatlantische Technologie
adäquat zu bezeichnen? Ich weiß es nicht. Die Hoffnung stirbt zuletzt.
Summ. Zwitscher. Pfeif. Trüdelü.
Dein spätatlantischer Homo Magi
Retz auf der Venus
Hallo Salamander,
„die Frau von der Venus“ alias Omnec Onec war schon vor einigen
Jahrzehnten in der Eso-Szene ein Reißer. Ich habe das immer nur aus der
Ferne beobachtet, aber auf der diesjährigen Buchmesse durfte ich „sie“
dann endlich live sehen.
Großartig.
Also habe ich (wieder) ein wenig zu ihr gelesen, denn im wunderbaren „Newsage
5/2011“ gibt es auch ein tolles Interview mit Omnec Onec. Ihr Leben
liest sich schon interessant (schon gar, wenn man überlegt, dass das
Interview nicht einmal zwei Seiten lang ist!).
Sie stammt von der Venus, deren Bewohner auf eine andere, feinere
Schwingungsebene gehoben worden sind. Aber die venusische Stadt Retz
existiert „sowohl auf der physischen als auch auf der astralen Ebene“
und diente ihr als Ausgangsbasis. Ihr Onkel Odin (!) flog sie samt
physischem Körper in einem Raumschiff zur Erde. Kann man sich gut
vorstellen – der alte Odin mit Wanderstab und Kutte fliegt seine Nichte
Omnec aus Retz auf die Erde. Klar …
Da Omnec noch Aufgaben aus früheren Leben abzuarbeiten hatte, tauschte
sie mit der amerikanischen Sheila Plätze. „Zunächst ging es nach Tibet.
Dort gibt es eine Übergangsstation für Raumfahrer, die schon seit
Jahrtausenden für die Akklimatisierung außerirdischer Besucher genutzt
wird.“ Aha.
Ihre Bücher („Ich kam von der Venus“, „Engel weinen nicht“ und „Meine
Botschaft“) sind jetzt wieder erhältlich; die Neuausgabe führt dann wohl
dazu, dass ich in den nächsten Monaten wieder mehr über Omnec Onec lesen
darf. Vielleicht erfahre ich dann, ob Odin beim Steuern des Raumschiffes
auch einen physischen Körper hatte, ob Retz noch Partnerstädte hat (ich
schlage Rotz auf dem Mars und Ratz auf dem Merkur vor) und wer die
Übergangsstation in Tibet betreibt (Gelbkappenmönche?).
Wundervoll.
Dein Homo Magi
Unglaubliches aus
Japan
Lieber Salamander,
manche Dinge sind unfassbar. Folgendes entstammt einer „Lehrrede“ von
„Meister Ryuho Okawa“:
„Der vorletzte japanische Premierminister (…) besuchte
Happy Science vor kurzer Zeit. (…) Er kam, um meine führenden Anhänger
zu sehen, nicht mich. Er konnte mich nicht treffen, weil ich ein Großer
Meister bin – die Position eines Großen Meisters ist höher als die eines
japanischen Premierministers. Durch meine Anhänger gab ich ihm für
ungefähr eine Stunde Rat. Ich lieferte ihm eine Strategie, wie er
japanischer Premierminister werden kann. Er lernte viel und wurde
Premierminister und reiste nach New York, um eine Rede vor der
Vollversammlung der Vereinten Nationen zu halten. Die Rede basiert genau
auf dem, was ich ihm gesagt hatte. Ich bin also einer der Königmacher
Japans. Ich kann einen japanischen Premierminister aussuchen und ihn
nach einem Monat wieder zurücktreten lassen. Das ist ein verstecktes
Geheimnis Japans. Der amerikanische CIA ist rückläufig, geschwächt, er
kennt nicht die gegenwärtige Bedeutung von Happy Science. Doch Happy
Science ist die einflussreichste Macht Japans. Wenn der amerikanische
Präsident also eine gewisse diplomatische Politik nicht realisieren
kann, braucht er nur mich zu fragen und ich kann es für ihn innerhalb
einer Woche oder so erledigen. Das ist ein Geheimnis. In Japan haben
Religionen mehr Macht als Politik.“
Erhalten habe ich das Heftlein auf der Buchmesse, wo ein Stand von
„Happy Science“ dieses Magazin „für Ihr spirituelles Wohlbefinden und
Glück“ vertreibt.
Ich zitiere weiter:
Okawa erzielte die „Große Erleuchtung und erwachte zum
versteckten Teil seines Bewusstseins, El Cantare, dessen Mission ist es,
der gesamten Menschheit Segen zu bringen.“
Dazu dann die Anzeige für einen Manga-Film, laut der Buddha nach 2500
Jahren „in einem Land im Osten“ wiedergeboren wird. Welches Land das
wohl sein mag. Denn:
„Wenn die Welt in der Dunkelheit versinkt … wird Buddha
wiedergeboren werden“.
Natürlich als El Cantare, wenn ich mal aus dem Zusammenhang folgern
darf.
Aaah. Jetzt kann ich erst einmal nicht mehr Dean Martin hören, ohne an
„Happy Science“ zu denken:
„Volare, oh oh
Cantare, oh oh oh oh
Let’s fly way up to the clouds
Away from the maddening crowds”
Dein Homo Magi
Aus Pfuhlen tönen Unkenrufe Aus Pfuhlen tönen Unkenrufe dunkle, alte, düst’re Kunde. Nachts träum’ ich des Sleipnirs Hufe, schau’ verwirrt in düst’re Runde – einäugig und stolz erhaben, starken Stock in seiner Hand, seh’ die Banner, kenn’ die Farben, doch nie betritt mein Fuß dies Land. Asgards hohe, hehre Wälle funkeln hell im Sternenschein, draußen rauschen Wasserfälle in das tiefe Nichts hinein. Reifes Glitzern auf den Schilden, neblig tropft das Wort vom Mund, frostgeborene Gebilde tröpfeln, tut man Worte kund. Verlegen schau’ ich in die Reihen, stumm neigt sich so manches Haupt, scheinen mir gleich zu verzeihen, dass mein Traum mich hier erlaubt. Sehe drauß’ den Kreis der Wachen, Wächterfeuer in der Nacht, von ferne perlt ein leises Lachen, Helden steh’n hier auf der Wacht. Schweigend steht die ganze Runde, da beginnt der Sonnenlauf. Doch ich weiß die schweigend’ Kunde als ich wach zuhause auf. Denn ich weiß, dass sie dort standen, weiß, das was ich sah wird sein. Ich sterb’ tapfer – jenen Landen will ich meine Kampfhand leih’n.
Die Dunkelheit mit klammen Fingern Die Dunkelheit mit klammen Fingern hält fest das Eis, tagaus, tagein, die Sonne gibt nur Stippvisiten und lugt nur ein paar Stunden rein. Der Schnee liegt wie ein kaltes Laken auf tief gefror’nem Erdengrund, selbst der Riese Surtur zittert tief in der klammen Gletscher Schlund. Umwunden mit eiskalten Ketten der Krokus träumt in dem Verlies, das ihn die Schreckensmacht des Winters für Monate beziehen ließ. Doch weiß sogar der mächt’ge Winter, dass seine Herrschaft ist auf Zeit, denn in der Nacht ganz ohne Sonne ist Sommerluft nicht wirklich weit. Drei Mal rollt der Mond den Himmel, dann ist der Winter schon passe! Drei Mal rollt die weiße Scheibe, und kein Mensch denkt mehr an Schnee. Drei Mal rollt lunares Leuchten, und das Grün weicht bunter Pracht. Drei Mal noch die runde Kugel – der Krokus träumt in kalter Nacht.
Reduzierungen Wer Götter ständig reduziert auf „Deutsch“ oder „Germanen“, reduziert das Göttliche herab auf lauter Namen. Wer Altes dumm rekonstruiert, und Edda-Silben zählet, der leider statt Lebendigem das Tote nur erwählet. Wer Titel häuft auf seinem Haupt aus ungebroch’nen Reihen, der verwechselt Titel mit des Götterodems Weihen. Wer Wikinger tief rezipiert – auch gerne deren Jugend – für den ist Ehre Treue noch und Gehorsam Tugend. Die Götter selbst bleiben nicht steh’n, sie leben durch die Zeiten. Denn nur ein Gott, der heute ist, der darf mich jetzt begleiten.
Wenn schneeige Massen Wenn schneeige Massen auf Straßen, den nassen, Verkehrskavalkaden im Gestöber abladen. Wenn Wasser gefroren an Nasen und Ohren, wenn rutschige Gassen den Verkehr stehen lassen. Wenn Nebelwogen durch Täler gezogen, wenn grimmige Winde ich überall finde. Die nordischen Recken tu neu ich entdecken, denn ich steh den Sippen viel näher als Krippen.
Wenn von Atlantis
weisen Scharen Wenn von Atlantis’ weisen Scharen, die Herrscher in der Vorzeit waren, die Recken landeten am Strand und brachten Wissenschaft dem Land, um Geist und Seele aufzuklaren; Wenn von Atlantis’ klugen Weisen, die endlos durch die Urzeit reisen, das Wissen leuchtet wie ein Stern (gepriesen wird es heut noch gern) und uns’re Träume darum kreisen – Atlantis, Reich der Hochmagie, der Traum von dir, er endet nie. So mancher als dein Sohn erkoren zurzeit darum wiedergeboren – hier ist oft Wissen Phantasie. Denn oftmals ist’s nicht das Blut das weckt in manchen Seelen Mut. Es ist nur ein marmorner Traum aus ‘nem erfund’nen Weltentraum, weder Asche hier, noch Glut. Was malt des Künstlers bunter Pinsel von jener Unterwasserinsel – in Farben, welche jeder kennt und man zu Recht phantastisch nennt – ist selten Fluss und oft Gerinsel.
Wilde Jagd Es braust vom Berg ein Donnersausen, und harter Hufe Funkenschlag, mit Blitzen aus der Wetterwolke – die wilde Jagd, nur einen Tag. Die wilde Jagd, nur einen Tag kündet der Raunächt’ Ende an. Erst, wenn ihr Ritt durch’s Nächt’ge brandet, das neue Jahr beginnen kann. Das neue Jahr beginnen kann, wenn die wilde Rotte ritt. Mit auf ihren Geisterpferden reitet meine Hoffnung mit. Reitet meine Hoffnung mit für ein friedensvolles Jahr, weiß, dass nun kein Krieg beginnt, weil der Ritt einnächtig war. Weil der Ritt einnächtig war Verbring’ ich eine Nacht im Grausen – und hör’s das nächste Jahr erneut – es braust vom Berg ein Donnersausen! [4] http://www.buecher.de/shop/chakra/meisterarbeit-aus-lemurien/steiner-margit/products_products/detail/prod_id/20934931/session/ad092bb2f1da6b5aa90429a13afaa72e/ [12] Zum Hugo Award: http://de.wikipedia.org/wiki/Hugo_Award [14] Ja, das ist im Originaltext eine Lücke … [15] www.volksgewerkschaft.de/info/2011/03/18/das-projekt-haarp-eine-verschwoerungstheorie-oder-pure-wahrheit-teil-2/ [17] Ich vermute, in den Zeichen „ und – sind geheime Informationen verborgen, die mir hier im Satz entgehen. [18] www.volksgewerkschaft.de/info/2011/03/18/das-projekt-haarp-eine-verschwoerungstheorie-oder-pure-wahrheit-teil-2/ [23] S. 10; online findet sich folgender Hinweis, wobei ich darauf hinweisen möchte, dass „Rainer Schmidt“ kein wirklich seltener Name ist: „Diesen Vorwurf lässt Thor Steinar an sich abprallen. Rainer Schmidt, Leiter des Rechtsbüros bei Mediatex, sagte stern.de: »Wir können unseren Kunden nicht in die Köpfe gucken, und es interessiert uns auch nicht.«„ (http://www.stern.de/panorama/thor-steinar-versus-storch-heinar-rechter-angriff-auf-den-fuehrer-storch-1585270.html; 21.11.2010) [24] S. 20 [25] S. 2 [26] S. 34 [27] S. 19; letzterer heißt wohl eigentlich „Kersken-Canbaz, findet sich unter www.kc-verlag.de im Netz und vertreibt auf der Startseite von Nemenyis „Kommentar zu den Götterliedern der Edda“ (21.11.2010). [28] S. 172; der Text ist eine Kürzung des Textes des Wikipedia-Artikels (http://de.wikipedia.org/wiki/Germanische_Glaubens-Gemeinschaft_(Géza_von_Neményi) [24.11.2010]) [29] S. 174 [30] S. 30, S. 104 und S. 181 [31] S. 20 [32] S. 166 [33] S. 104 [35] S. 149 [36] http://ingeb.org/Lieder/buntsind.html (21.11.2010) [37] S. 150 [39] S. 158 [40] S. 189 [41] S. 33 [42] S. 89 [43] S. 20 [44] S. 11 [45] S. 184 [46] S. 98 [47] S. 198 [51] Habe ich nicht erfunden, vgl. www.duckipedia.de/index.php5?title=Klarabella_Kuh [52] Bolingbrook, Illinois, USA, 2003 [53] S. 138 [56] ebenda [57] ebenda [62] Peter Gola & Georg Wronka „Handbuch zum Arbeitnehmerdatenschutz“, 5. neu überarbeitete und erweiterte Auflage 2010 [63] Gola/Wronka, S. 171 [64] Peter Gola/Georg Wronka „Handbuch zum Arbeitnehmerdatenschutz“, 5. neu überarbeitete und erweiterte Auflage, 2010 [65] Gola/Wronka, S. 207
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