Homo Magi Archiv

Wöchentliche Ansichten eines Magiers über den Jahreslauf und die Welt

Teil 11

 

Walgesänge

 

Hallo Salamander,

 

es ist bestimmt 15 Jahre her, dass mein jüngerer Bruder mir zu irgendeiner Gesellschaft eine Cassette mit dem wundervollen Titel „Walgesänge“ schenkte. Es war ein Werk aus – wenn ich mich recht erinnere – dem reichen Fundus der Medien-Experimente von Werner Pieper[1], und das Ding ist eine Zeit lang in meinem Kassettenrecorder rauf und runter gelaufen.

Als ich vor einigen Jahren dann die wichtigsten 10 MCs digitalisieren lassen wollte, war diese dabei. Ich weiß nicht, warum. Drei oder vier der „zu rettenden“ MCs waren von mir selbst zusammengestellte Sammlungen, die ich einfach in der Form konservieren wollte. Mindestens zwei MCs waren Hits aus der ehemaligen DDR; das Land ist untergegangen, der Label „Amiga“ auch, von daher ist es schwer, diese Dinge heute noch aufzutreiben. Und ganz alleine stand am Ende die MC mit „Walgesänge“, die ich unbedingt auch retten wollte.

Ich habe Geld dafür ausgegeben und sie auf CD brennen lassen. Ich habe es nicht bereut. Denn in den letzten Tagen – es ist ja Herbst – hatte ich mal wieder Grund und Gelegenheit, die CD ins den CD-Player im Auto einzuschieben und die Fahrt durch die Dämmerung mit singenden Walen zu begleiten. Es war und ist weiterhin … unfassbar. Natürlich denkt man an den „Star Trek“-Film, wo die Erde durch singende Buckelwale gerettet wird, die man vorher in der Vergangenheit retten musste, aber man denkt auch an Jacques Cousteau, an blaues Licht auf dem Boden einer Lagune, man denkt an Walfang, an „Moby Dick“ und und und …

Es ist … anders. Jedes Mal, wenn ich diese Musik höre, ärgere ich mich vehement darüber, dass wir Menschen diese Spezies Wal ausrotten wollen, so als wären sie gefühls- und regungslos. Sie sind es nicht. Kein Wesen, das gefühls- oder regungslos wäre, könnte diese Gesänge erzeugen. Sie sind herzzerreißend, eigenartig, fremd … und doch wunderschön.

 

Ich fange wieder an, vor mich hin zu salbadern, werter Salamander. So viel lass dir gesagt sein: Wenn du in deinem Leben nicht einmal dem Gesang der Wale gelauscht hast, dann hast du niemals gehört, was das wahrscheinlich einzige intelligente Leben auf diesem Planeten außer uns Menschen zu sagen hat. Und ob der Mensch intelligentes Leben ist, sei dahingestellt.

 

Dein Homo Magi

 

Tesla Energy Watch

 

Hallo Salamander,

 

in einer esoterischen Zeitschrift (ja, ich war am Kiosk in einem Bahnhof und „Das Wesentliche“ als Zeitschriftentitel stach mir in die Augen und begeisterte mich so, dass ich bereit war, dafür Geld auszugeben) fand ich eine Anzeige für die „Tesla Energy Watch“ mit den drei wundervollen Werbesätzen „Die Urkraft des Universums am Handgelenk!“, „Tesla Chip Inside!“ und „Electrosmog-Protection“.

Erhältlich sind diese wunderbaren Dinge unter www.tesla.ch. Hier kann man für schlappe 245 Schweizer Franken und mehr wundervolle Dinge wie die „Tesla Energy Explorer III“ erwerben – mit integrierter Tesla-Spule und Energy-Chip! Wow. Denn: „Im Herzen der Tesla-Uhren wirken eine Teslaspule sowie der spezielle Tesla-Chip. Dieser erzeugt ein positives, energetisches Feld höherer Rangordnung, das in Resonanz zum Schumannsfeld steht. Das so erzeugte Feld stärkt das natürliche elektromagnetische Feld des menschlichen Körpers.

Damit schützt sich der Körper besser vor den negativen Auswirkungen tiefschwingender elektromagnetischer Felder (EMF), wie sie z.B. von Funk- und Mobiltelefonen, Computer (Elektrosmog).“[2]

Ja, dieser Satz kein Verb. Aber das ist auch egal, denn die Felder in Spule und Chip helfen einem, mit einer Uhr und ihrer „Urkraft“ (das hier kein Wortspiel stattgefunden hat, verwundert mich ein wenig) vor Electrosmog geschützt zu sein. Man kann aber auch 245 Schweizer Franken sparen und einfach kein Handy benützen. Ist billiger und viel ökologischer.

 

Dein Homo Magi

 

Rollenspiel und Ton der Schöpfung

 

Lieber Salamander,

 

vor vielen Jahren erschienen in den USA die ersten Rollenspiele. Lassen wir einfach einmal „Dungeons & Dragons“ den Urvater sein und nennen wir für die Entwicklung des Rollenspiels als Marktsegment (nicht als Spiel für kleine, isolierte Minderheiten) das Ende der 70er Jahre. Damals kamen die Spiele schon mit beeindruckenden Würfelsätzen daher. Es gab neben dem aus „Mensch ärgere dich nicht!“ bekannten sechseitigen Würfel (W6 genannt, also ein Würfel mit 6 Seiten) noch den W4 (eine Pyramide aus 4 Dreiecken), den W8, den W10, den W12 und den W20. Bis auf ein paar Spielereien (wie einen hundertseitigen Würfel) hat sich dieses Angebot im Spielesektor auch kaum verändert in den letzten über 20 Jahren.

Jetzt auf einmal hat der schnöde W12 es geschafft, endlich esoterische Weihen zu erlangen. Unter dem geometrisch korrekten Tarnnamen „Pentagondodekaeder“ (klingt deutlich cooler als W12) darf er „der heiligste der plantonischen Körper“ sein, er ist mit dem Christusgitter verbunden und war früher so geheim, dass er in den alten Mysterienschulen nicht erwähnt werden durfte.[3]

Dass die Mysterienschulen vor Christus bestanden … naja, die konnten halt ahnen, dass später einmal das Gitter nach ihm benannt wurde (vorher hieß es wahrscheinlich „Mithrasgitter“). Dass er geheim war – naja, Plato sprach auch nicht über Vanilleeis mit heißen Himbeeren, ist das also auch geheim und mysteriös und ganz wichtig? Und welche Verbindung hat Vanilleeis mit heißen Himbeeren mit meinem Fliegengitter?

Aber man kann die Verbindungen noch weiter ziehen – immerhin ist es schön, dass das Ganze irgendwie auch mit Lemurien verbunden ist.[4]

Und vergessen wir nie:

„In der Zeit vom 20.08. – 22.08. öffnen wir ein Zeittor

für die Energie um eine neues Christusgitter zu etablieren …

das die letzten Verknüpfungen in Mutter Erde herstellt

zu den Christusgittern oberhalb der Erde …

damit alle 144 Christusgitter in einem Ton schwingen können

und verbunden sind mit den Leylinien …“[5]

Ein neues Christusgitter, das mit den anderen Christusgittern und den Ley-Linien verknüpft ist? Lemuria? Paraguay?

Aber was machen die anderen Selbsten (jaja, siehe unten), wenn sie sich das vorstellen wollen – klar, ein Zwölfseiter:

„Ich Danke Dir für Deine Hilfe

Dein Hohes Selbst … in Verbindung mit viele Anderen Hohen Selbsten …

erzeugen eine Energie des Friedens …

eine Frequenz des Friedens …

 

Ein Ton des Frieden …

Eine Änderung in dem Bewusstsein der Welt …

 

Stellt Euch dafür einen Dodekaeder vor …“[6]

Und jetzt haben wir endlich auch noch die Erzengel drin (über Rechtschreibung wollen wir nicht streiten mit den anderen Selbsten):

„( Anmerkung von TA’Ia ...: einen der Platonischen Körper ...

Eine Kugel ... die aus 12 gleichgrossen 5 – Ecken besteht ...

Der Dodekaeder ist ein Symbol für den Äther ...

und wird gleichgesetzt mit dem goldenen Licht von Erzengel Metatron ... )“ [7]

 

Erzengel, Lemuria, Ley-Linien, Christusgitter … und alles auf den kleinen 12 Seiten meines Dodekaeders aus meiner schönen Rollenspiel-Box. Ja! Wow! Endlich!

Thesen, dass Rollenspiele nicht okkult wären, sind damit obsolet – ja, wir sind okkult! „Was hast du gewürfelt?“ „Erzengel.“ „Ist das mehr als mein Lemuria?“

 

Dein Homo Magi

 

Heilige weiße Teller

 

Hallo Salamander,

 

mein Nachbar ist Franzose, seine Frau ist Finnin. Wir unterhalten uns in Englisch, weil das die einzige Sprache ist, die wir alle Drei halbwegs beherrschen (im Gruppenangebot wären noch Latein, Deutsch, Italienisch und Spanisch … aber immer nur mit 1 oder 2 Sprechenden).

Letzte Woche wollten sich die beiden dafür entschuldigen, dass ihr Kind abends so in der Wohnung randaliert, so dass im Arbeitszimmer bei mir immer Lärm ist. Also brachte man uns leckeren Kuchen auf einem weißen Teller, ein kulinarisches Friedensangebot. Irgendwann war der Kuchen konsumiert, der Teller gereinigt – es ging an die Rückgabe. Leider waren die beiden Nachbarn gerade im Kino/Theater/Nachtclub und ihre Eltern passten auf die Wohnung auf. Ihre Eltern sind Finnen. F-I-N-N-E-N.

Finnisch gehört zum finnisch-ugrischen Sprachstamm (mit Ungarisch) und ist mit keiner anderen Sprache verwandt. Fremdsprachenkenntnisse der Beiden: Keine.

Also stand ein Deutscher vor der Tür, einen weißen leeren Teller in der Hand. Tür geht auf. Die beiden Großeltern und das Kind machen mir auf, das Kind erkennt mich und winkt. Ich winke mit dem Teller. Keine Reaktion. Ich versuche zu erklären, dass der Teller ihnen beziehungsweise in die Wohnung gehört. Keine Reaktion. Ich deute auf ihre Küche und auf den Teller. Keine Reaktion. Ich tanze meine Geschichte und sende Alphawellen, um sie mental zu überzeugen, dass ich ungefährlich bin. Keine Reaktion. Also zog ich mit meinem Teller wieder ab.

 

Was mögen die von mir gedacht haben? Uralte Bräuche in Deutschland, dass der Nachbar Kindernieren abholen darf, wenn er einen leeren, weißen Teller mitbringt? Das Einsammeln von Stuhlproben auf Keramik zur Reihenuntersuchung gegen Skorbut in deutschen Haushalten im Winter? Das Verschenken von weißen Tellern an der Haustür, damit verpflichtet man sich zu sexuellen Gegenleistungen im nächsten Jahr? Weiße Teller als Zeichen für außerirdische Untertassen, sozusagen Einweis-Teller analog zu den Kellen der Fluglotsen – der weiße Teller zeigt das Ende der Landebahn auf.

Keine Ahnung. Aber ich wüsste schon gerne, was die von mir gedacht haben …

 

Dein Homo Magi

 

Autos und Namen

 

Hallo Salamander,

 

ich stand ganz unschuldig in der Werkstatt, um meinen Wagen abzuholen. Nichts wirklich Schlimmes war passiert – auf dem Firmenparkplatz war mir bei Eis einer auf die Stoßstange gefahren und hatte diese angebrochen. Also durfte seine Versicherung einen Werkstattbesuch bezahlen, ich bekam zusätzlich eine neue Hecklackierung für mein Auto bezahlt.

Ich wollte den Wagen abholen und stand schon eine Weile bei der jungen Dame an, die das im Autohaus mehr oder weniger souverän unter Kontrolle hat. Endlich war ich dran und folgender Dialog entsprang zwischen uns beiden:

„Kennzeichen?“

Ich nannte das Autokennzeichen.

„Marke?“

Ich nannte die Automarke.

„Namen?“

„Ich habe meinem Auto keinen Namen gegeben, ich finde das zu persönlich. Normalerweise sage ich »Auto«, wenn ich mein Auto meine. Manchmal sage ich auch »Karre«, aber das ist eher selten.“

Die junge Frau schaute mich an. Man hätte kleine Münzen in ihren Mund schnippen können, der offen stand. Es lief kein Speichelfaden raus, aber sie sagte nur „Äh?“.

Also wiederholte ich, dass ich meinem Auto keinen Namen gegeben habe, sondern einfach „Auto“ zu ihm sagen würde. Ihre Kollegin stand hinter der jungen Dame und hatte schon Tränen in den Augen vor Lachen. Meine Gegenüber war noch immer in Schockstarre. Es dauerte einen langen Moment, dann konnte sie wieder sprechen.

„Ich … meinte ihren Namen.“

„Ach so, warum haben sie das nicht gleich gesagt.“ Ich nannte meinen Namen. „Aber ich bin vergeben.“

Weitere Kommunikation fand nicht statt, weil ihre Kollegin ein Einsehen hatte und mir die Mappe mit der Rechnung und dem Autoschlüssel reichte. Ich ging, ohne mich umzuschauen.

Aber ich kann dich beruhigen: Als ich zwei Wochen später wegen Reifen dort war, stand sie nicht mehr sprachlos herum. Aber sie mied es, mich zu bedienen. Dafür bekam ich dann die Kollegin gesandt, die ihre Sache ganz gut machte. Und sie fragte nicht nach meinem Namen, den hatte sie sich wohl aus irgendwelchen Gründen schon gemerkt.

 

Dein Homo Magi

 

Fragment I

 

Lieber Salamander,

 

folgendes „Fragment“ ist weder als Biographie noch als Hagiographie geeignet; doch jetzt über zehn Jahre alt und unveröffentlicht wollte ich dir diesen „Splitter“ nicht vorenthalten. Ich hoffe, er passt zur nachdenklichen Zeit der Raunächte (nein, ich bin dir nicht böse, wenn du ihn überblätterst oder überliest, weil die Begriffe „Magie“ oder „Heidentum“ keine Rolle spielen!).

 

Dein Homo Magi

 

Das Leporello meiner Seele auszubreiten habe ich mir vorgenommen. Ein paar Splitter von Erinnerungen, ein paar Bilder meines Lebens, ein paar Standfotos aus drei Jahrzehnten Lebens. Zum Teil Testament für die, welche nach mir kommen werden. Zum Teil Rechtfertigung gegenüber jenen, die vor mir gekommen sind. Zum Teil jedoch ein Versuch, ein wenig von dem, was mir passiert ist, anderen Menschen anzuvertrauen. Ein Teil also ist für die Welt um mich herum.

 

Meine Erinnerung an meine Kindheit ist – wenn man es freundlich nennen will – lückenhaft. Ich kann mich vor der Zeit im Kindergarten an fast nichts erinnern. Viel kann ich mir anhand von den Geschichten meiner Verwandten zusammenreimen, doch bleiben trotzdem Lücken. Löcher, die nicht mehr zu stopfen sind. Ich wurde geboren, ohne gefragt zu werden. Meine Mutter behauptete einmal auf eine Frage von mir, wenn es ein Wunschkind gegeben habe, dann sei ich es gewesen. Für sie sicherlich. Ob die Welt das auch so sieht, wage ich zu bezweifeln.

Meine Eltern waren das, was man als gutbürgerlich bezeichnen würde. Meine Mutter und mein Vater kommen eigentlich – wenn man ihnen eine bestimmte Bandbreite durchgehen lässt – als normal aus. Keiner von beiden zieht nachts los und jagt mit dem Beil in der Hand arme Menschen durch den Wald, keiner versuchte irgendwelche geheimnisvollen Beweise mit meiner Zeugung und Geburt zu erreichen. Hoffe ich zu mindestens.

Die ersten Jahre meines Lebens waren also das, was man als nicht erinnerungswürdig bezeichnen würde. Meine Mutter gebar mich, als sie dem Rosenmontagszug im Fernsehen zusah. Ich weiß nicht, ob mich das Lachen auf den Fluren geprägt hat. Vermuten würde ich es, denn bis heute ist der Versuch, andere Menschen zum Lachen zu bringen oder sich auf ihre Kosten zu amüsieren tief in mein Gehirn eingegraben. Leute, passt auf, was Eure Kinder als erstes auf der Welt an Gefühlen entgegengebracht wird! Lasst es nicht Gelächter sein, denn wer lacht, wird von der Welt nicht ernstgenommen!

 

Meine Eltern waren ziemlich glücklich miteinander. Zumindest verkündet dies die Legende, die von allen Familienmitgliedern tradiert wird. Nach einigen Monaten wurde mein Bruder geboren, und nach einigen weiteren Monaten musste ich mich dem Kindergarten stellen.

Inzwischen waren wir auch in eine größere Wohnung gezogen, die es uns möglich machen sollte, für die Kinder und die Eltern genügend Platz zu haben. Das ganze lag ganz angenehm in einer neu entstandenen Siedlung, in der sich eine Reihe von Häusern hinter einer anderen Reihe von Häusern verstecken kann. Eine von diesen Siedlungen, wo man an der Straße Schilder aufstellen muss wie „Zu den Häusern 1 bis 13“, damit überhaupt irgendjemand dorthin findet. Verschlafene Vorortstraßen, wo man wahrscheinlich früher noch Sonnenbaden konnte, ohne dass man Gefahr lief, von irgendjemandem bemerkt zu werden.

Die ganze Reihenhaussiedlung war voll mit Ehepaaren um die 35. Dies führte zu dem ausgesprochen angenehmen Effekt, dass die Reihenhäuser voll waren mit frisch geborenen Kindern, als mein Bruder und ich dorthin zogen. In heimeliger Atmosphäre würden wir aufwachsen können, umgeben von Kindern, die in die Hose machten, wenn wir in die Hose machten, die ihre ersten Zähne bekamen, wenn wir unsere ersten Zähne bekamen und die anfingen Bart zu bekommen, wenn wir anfingen Bart zu bekommen. Zumindest der Punkt mit dem Bart hat sich für mich bis heute nicht bewahrheitet.

Zurück zu dem Kindergarten. Bis zu meinem ersten Tag dort mangelt es mir an Rahmendaten für die Rekonstruktion meiner frühen Erinnerung. Zwei Bilder kann ich bieten, mehr nicht. Das eine ist ein geheimnisvoller Turm irgendwo an Nord- oder Ostsee. Meine Mutter behauptet steif und fest, es wäre irgendwo in Belgien, und es wäre ein Denkmal für die U-Boote im zweiten Weltkrieg. Wenn man mich fragt, so war es einfach nur hässlich. Bedrohlich wirkten da eher die Krebse, die es laut der fundierten Aussage meines Vaters im Wasser beziehungsweise auf dem Strand geben sollte. Krebse, das waren für mein kindliches Gehirn Lebewesen, die zum großen Teil aus Scheren und Panzer bestanden. Eine Art mobiler Gefechtsstation also, die es auf kleine Kinderfüße abgesehen hatte. Sicherlich aus verständlichen Gründen zog ich es also vor, mich nicht in das Wasser zu begeben.

Das andere Bild ist verwaschen und ziemlich alt. Es hat etwas mit Licht zu tun, einem hellen Licht, das mir erscheint und mir irgendetwas erzählt. Bis heute kann ich nicht sicher sagen, was es war oder was mir da geschehen ist. War es irgendeine Tante, die mit einer Taschenlampe in der Hand kontrollieren wollte, ob meine Augen auch anfangen zu blinzeln? Hat man mich auf der Straße vor ein Flutlicht gesetzt? Viele Jahre später, als ich begann, mich quer durch die Bücherberge zu wühlen, stieß ich auf die lustige Idee, Leute mit solchen Erinnerungen wären von außerirdischen Flugobjekten entführt worden.

Diese Erklärung hat mich immer irgendwie wegen ihrer Dummheit fasziniert. Also, nehmen wir nur einmal für einen Moment an, es gäbe wirklich neben unserer Zivilisation irgendetwas im Universum, das sich als intelligentes Leben ausgeben könnte. Und nehmen wir weiterhin an, dass dieses Leben den Weg bis zur Erde findet. Der nächste Schritt ist dann doch hoffentlich entweder eine Untersuchung der Erde oder die Kontaktaufnahme mit den zuständigen Behörden. Das letztere führt unweigerlich zum beliebten „Take me to your leader!“ und endet hoffentlich nicht in der Kontaktaufnahme mit sabbernden Kleinkindern. Ersteres müsste doch eigentlich mit einem, nun vielleicht auch zwei Kleinkindern abgeschlossen sein. Warum sollte ich bei der geringen Wahrscheinlichkeit von maximal zwei zu ziemlich viele Kleinkinder ausgewählt worden sein? Ähnlich doof ist nur noch die Idee mit den Kornkreisen. Da kommen also Außerirdische auf die Erde und versuchen, mit uns Kontakt aufzunehmen. Und da sie davon ausgehen, dass wir Intelligenz besitzen, schreiben sie uns ein paar Zeilen – in ein Kornfeld! Wie muss eine Zivilisation aussehen, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, ihr Wissen in Kornfelder zu vermitteln? Man stelle sich das doch nur einmal vor. Riesige Scheunen, in denen riesengroße Schnellhefter stehen, in die diverse Kornfelder eingeheftet sind. Und wenn man dann mit Hilfe eines kleinen Krans umgeblättert hat, kann man ganz langsam die Geschichte dieser Zivilisation nachlesen.

Und als diese Zivilisation eines Tages gemerkt hat, dass es mit ihr abwärts geht, hat sie ein paar tapfere Männer, Frauen oder was auch immer in den Raum hinaus geschickt, um ihre Schriftzeichen in Kornfelder zu verewigen. Irgendwie etwas bizarr, oder?

 

Der Kindergarten war nicht weit von der Wohnung meiner Eltern entfernt. Später bin ich die Strecke sicherlich einige tausendmal gelaufen. Denn auf demselben Gelände, wo sich mein Kindergarten befand, war auch das Gemeindehaus samt Kirche. Und später wuchs ich wohlbehütet von Kindergarten an hinein in die Konfirmandenstunde und den Kindergottesdienst, in die Jugendclubs und in die Arbeit im sogenannten offenen Haus. Irgendwann war man dann selber Leiter in Kindergruppe und beschäftigte sich damit, Kindern religiöse Erfahrungen nahezubringen.

Doch zurück. Die Jahre im Kindergarten sind mir in guter Erinnerung. Der Kindergarten hatte einen großen Garten, in dem hölzerne Spielgeräte dazu aufzurufen schienen, sich auf sie drauf zu setzen. Einige waren nur grob bearbeitete Holzblöcke, doch andere sahen aus wie Lokomotiven oder Flugzeuge. Und mitten zwischen einigen kleinen Bäumchen stand ein Metallgeflecht aus großen, nur mit Mühe mit Kinderhänden zu umspannenden Metallstangen, auf denen man klettern konnte. An sonnigen Tagen waren wir oft draußen in diesem Garten. Die meisten Gruppenräume ließen sich zum Garten hin öffnen, und im Sommer war es also nur ein kleiner Schritt hinaus in die Sonne, den man tun musste. Ein kleiner Hang führte hinab auf jene Wiese, auf der die Spielgeräte standen. Und dieser Hang musste immer wieder herhalten für „Der Kaiser schickt seine Soldaten aus“ oder „Wer hat Angst vorm schwarzen Mann“. Unvermeidlich wurde „Plumpsack“ gespielt, bis wir nicht mehr konnten. Eine schöne Zeit.

Viele Jahre später wurde ich für einen kurzen, leicht vergänglichen Tag wieder zu jenem Kind, was damals den Kindergarten besucht hatte. Es war irgendein Jahrestag, irgendeine Feier zu irgendeinem runden Jubiläum. Der Kindergarten war für die Öffentlichkeit genauso geöffnet worden wie die anderen Räumlichkeiten der Gemeinde. Und so schlenderte ich über das Gelände, aß erst eine Wurst samt Brot und Senf, trank eine Kleinigkeit und schlenderte dann über den staubigen Fußweg zum Eingang des Kindergartens. In einem Raum hatten sich einige kleine Kinder auf dem Fußboden ein Streckennetz für die Holzeisenbahn zurechtgebastelt, und sie schienen schwer vertieft, Holzstück an Holzstück zu legen. Ich schaute ihnen eine Weile zu, bis sich auf einmal ein junger Mann in meinem Alter neben sich stellte. Ich schaute ihn fragend an und er lächelte schelmisch zurück. Ein Kindergartenfreund von mir, der mich nach einigen Jahren wieder erkannt hatte. Wir unterhielten uns eine Weile lang, und dann begannen wir, den Kindern beim Bauen zu helfen.

Anfangs waren es nur die Schienen im näheren Umkreis, die wir ihnen anreichten. Dann begannen wir unauffällig, in den Ecken des Zimmers nach weiteren Teilen zu suchen. Einige Stücke waren einfach zu finden, so die geraden Schienen und die großen Kurven. Doch andere Stücke waren seltener und daher schwerer zu finden. So gab es viel zu wenige Endpuffer, und viel zu wenige Schranken und Autos. Vom Mangel an Loks mit funktionierenden Kuppelstücken ganz zu schweigen. Ich weiß nicht mehr, wer von uns beiden zuerst auf die Idee kam, in einem der Nachbarzimmer nachschauen zu gehen. Aber bald waren wir damit beschäftigt, in leeren Waschmitteltrommeln die Teile aus den anderen Zimmern zu schmuggeln. Das war nicht so einfach, wie es klingt. Die Räumlichkeiten waren alle voll mit besichtigenden Elternteilen und ehemaligen Kindergartenkindern, die schnell mal vorbeigekommen waren. Und das Zimmer, welches wir uns herausgesucht hatten, lag gerade rechts neben dem Eingang. Die anderen Zimmer waren jedoch auf der anderen Seite vom Eingang, nämlich links einen Flur hinunter entlang angeordnet. Wir hatten also echte Schwierigkeiten mit dem Nachschub, da die zurückzulegende Strecke immer länger wurde. Aber irgendwie schafften wir zwei es, alle Zimmer der Reihe nach von den Teilen für die Holzeisenbahn zu entblößen.

Unsere beiden Vorzeigekinder hatten nach einer Weile den Raum verlassen, und wir schlossen uns einfach ein und schütteten Eimer nach Eimer mit Holzteilen auf den Fußboden. Dann begannen wir mit dem großen Werk, jener ultimaten Eisenbahnlinie, von der jedes Kind nur träumen kann.

Wir trennten erst die zerstörten von den unzerstörten Teilen ab und stapelten erstere in einer unzugänglichen Ecke des Raumes. Dann bauten wir aus allen übrigen Teilen ein zusammenhängendes Eisenbahnnetz, welches die Schränke und unteren Regale mit einschloss. Das ist wesentlich schwieriger, als es bei der Beschreibung klingen mag. Die einzelnen Stücke lassen sich nämlich nicht schräg aneinander stecken, so dass man mit jeweils zwei Teilen nur eine minimale Steigung überwinden kann. Sonst brechen die Holzknubbel ab, die an einem Ende der Teile in die entsprechende Aussparung am anderen Teil gesteckt werden. Ein echtes Problem, dem wir nur durch die Verwendung von vielen vielen Decken und Kissen begegnen konnten.

Wir schlossen dann irgendwann auf, als wir draußen keine Stimmen hörten, verabschiedeten uns voneinander und gingen unserer Wege. Ich stellte mich noch einmal für eine Wurst an und kam rechtzeitig wieder, um mitzuerleben, wie einige Mütter den Raum mit unserem Meisterwerk besichtigten und sich darüber ausließen, wie kreativ Kinder heutzutage sind. Ich enthielt mich jedes Kommentars.

Aber ansonsten war meine Zeit im Kindergarten ereignislos. Ich lernte dort einige Dinge, die ich für mein Leben gebraucht habe. Das Spielen von Kinderspielen auf der Wiese habe ich schon erwähnt. Außerdem kann ich Lampions bauen und die gängigsten Lieder dazu singen. „Laterne, Laterne, Sonne, Mond und Sterne.“ ist nur eines von vielen Liedern, die mir noch ab und an im Kopf herumschwirren. Ich war am Ende meiner Kindergartenzeit in der Lage, aus etwas Laub und Papier und vielen vielen Farben eine Menge Sauerei zu erzeugen, und ich konnte alleine auf das Klo.

 

Andere Kompetenzen sind mir leider wenig beigebracht worden. Man sagt zwar, es gäbe Kinder, die sogar schon vor dem Eintritt in die Schule halbwegs erträglich lesen können. Ich gehöre nicht dazu. Mein Gehirn war leer wie ein weißes Blatt Papier, was die Kunst des Schreibens anbetraf, bevor ich die Schule betrat.

Mein bester Freund aus Kindergartentagen, an den ich mich sehr eng gebunden hatte, zog später einfach so fort. Sein Vater war, wenn ich mich recht erinnere, am Theater beschäftigt und ging auf der Suche nach einer besseren Anstellung. Heute noch erwische ich mich ab und an dabei, wie ich sein Bild anschaue und irgendwie die gemeinsamen Spiele vermisse.

 

Ich hatte schon immer viel Phantasie, und da unsere Wohnsiedlung relativ neu war und nahe am Wald lag, hatten wir viele Möglichkeiten zum Spielen. Uns kam auch entgegen, dass einige der Nachbargrundstücke nicht bebaut waren. Wir konnten also dort spielen und herumtollen, wie es uns Spaß machte. Und da überall Gleichaltrige aufwuchsen, hatten wir auch genug Spielkameraden. Es war wie das Leben in einem verwunschenen Königreich, dessen Grenzen nur in die eine Richtung von einer bösen, großen Straße begrenzt waren. In die andere Richtung kam man schon nach einigen Minuten Laufens in einen großen Wald. Ich habe diesen Wald geliebt, tue es heute noch. Findige Menschen hatten dort nämlich einen Spielplatz angelegt, der aus einem großen Indianerlager und einem Fort für Cowboys bestand. Heute weiß ich natürlich, dass man einfach um die Palisaden herumgehen muss, um im Inneren des Forts zu stehen. Damals sind wir ich weiß nicht wie oft über die Holzbrücke gestürmt, um von den Cowboys zurückgeschlagen zu werden. Oder aber wir verteidigten die Holzbrücke, während Horden von Indianerkriegern versuchten, sich unseren Skalps zu nähern.

Aber auch die anderen Anlagen waren wunderschön. Es gab eine Rutschbahn, die in einem wunderschönen Sandhaufen endete. Und es gab einige Klettergerüste, Schaukeln, Wippen und was das Herz eines Kindes sonst noch begehren könnte.

Etwas weiter draußen gab es dann noch ein Gelände, auf dem später ein Sportverein seine Tennisplätze bauen sollte. Doch davor war es wunderschön geeignet, dort mit Fahrrädern quer über die kleinen Hügel zu heizen. Und ein kleiner Hügel bot sich ideal als Schlittenbahn an. Wenn man genügend Schwung nahm, dann konnte man von der Spitze des Hügels über einen kleinen Waldweg hinweg in eine große Baugrube hineinfahren. In dieser Baugrube sollte Jahre später die Umgehungsstraße gebaut werden. Aber aus irgendwelchen Gründen gab es dort nicht nur die Trasse, die einige Meter tief durch den Wald verlief, sondern auch eine Betonbrücke über diese Trasse. Und neben der Betonbrücke hatte man auf einer Breite von einigen Metern den originalen Waldboden stehen lassen. Die Bäume waren entfernt worden, richtig. Aber dafür hatte man jetzt eine sandige Brücke zwischen beiden Seiten der Trasse. Man konnte also an ihr entlang weiter Schlitten fahren, wenn man das wünschte. Man konnte aber auch Löcher in den Sand bohren und sich darin verstecken. Diese Tätigkeit habe ich erst eingestellt, als mir spazierengehende Erwachsene mitteilten, es wäre dort ein Kind erstickt, weil es von einer herabstürzenden Erdmasse eingegraben worden sei. Ich habe nie wieder in Hängen gebuddelt.

Also, irgendwie war das Gelände, welches meine Kindheit umgab, sehr schön. Ich fühlte mich dort wohl, und da die große böse Straße parallel zum Waldrand verlief, konnte ich zwischen Wald und Straße ein relativ großes Gelände erforschen. Denn in diesem Streifen, der durch Stichstraßen unterteilt war, kannte ich mich sehr gut aus. Musste ich doch durch ihn hindurch, um den Kindergarten oder das Gemeindehaus zu erreichen. Ich habe sicherlich alle möglichen Fußwege ausprobiert, die mich von unserer Haustür bis zum Eingang der Gemeinde führen könnten.

 

Als mein Vater sich das Grundstück neben unserem Reihenhaus gekauft hatte, um dort selber ein kleines Bürohaus hinzusetzen, verwandelte sich dieses Grundstück bald in eine beginnende Baustelle. Ich hatte dieses Gelände immer geliebt, liebe es eigentlich heute noch. Es sah aus wie ein Tortenstück, eine Art eigenartiges Dreieck. An der Kopfseite war das Ende die Rückseite einer Garagenfront, deren Vorderseite dazu diente, unter anderem unser Auto aufzunehmen. Später entstand hier vor den Garagen ein Fußweg, der an dem Bürohaus vorbeiführt. Die beiden Schenkel des Dreiecks waren zur einen die wenig befahrene Straße, zum anderen, ein kleiner Fußweg, der praktisch nur an einem einzigen Grundstück entlang lief. Dieses Grundstück war der etwas größer geschnittene Garten des Bewohners des ersten Hauses unserer Reihe.

Und in der Spitze des Tortenstückchens waren die Mülltonnen für die Reihe hinter uns versteckt. In der Form eines „U“ hatte man hier ein Areal gebaut, das sowohl links als auch rechts jeweils zwei Tonnen beherbergte. Die Rückwand war einfach nur aus Beton. Zwischen diesem Lager für Mülltonnen und der Rückseite der Garagen erstreckte sich anfangs ein wunderschönes wildes Gelände. Und es wurde dort noch interessanter, nachdem dort erste Baumaterialien gelagert worden waren. Dort fand man dann Backsteine, ab und an mal übriggebliebene Nägel oder Schrauben und immer wieder verbogene Metallbänder. Erst später habe ich gelernt, dass Pappen oder auch schwerere Gegenstände damit festgezurrt werden. Aber als Kind habe ich mich immer gefragt, warum diese Metallbänder dort lagern.

Einmal beschlossen wir auch, uns aus ein paar herumliegenden Backsteinen ein Haus zu bauen. Wir hatten mit den unteren Mauern auch noch viel Spaß, aber irgendwann wurde die Arbeit immer hektischer und wir versuchten immer schneller, Steinreihe auf Steinreihe für das imaginäre Haus hochzuziehen.

Und bei einer dieser Aktionen geriet dann mein Daumennagel zwischen zwei Backsteine. Erschwerend kam hinzu, dass der untere Backstein nicht nachgeben wollte und der obere Backstein mit einem schweren Gegenstand traktiert wurde. Meine Erinnerung gibt mir nur an, ein Kind hätte auf den Backstein drauf geschlagen. Ich nehme an, dass der Schmerz dementsprechend war. Denn ich verlor dabei einen Daumennagel und durfte in eine sehr unangenehme Behandlung beim Arzt einziehen. Wenn ich mich recht erinnere (oder richtig erzählt bekommen habe), so hat man den Nagel schlussendlich gezogen und darauf gewartet, bis der richtige Daumennagel nachwächst. Er ist nachgewachsen, aber ich hatte jahrelang eine Delle im Nagel.

 

Viele Jahre später sollte sich dieser ausgesprochen widerliche Schmerz wiederholen. Auf einem der sommerlichen Treffen unseres Fantasy-Vereins geschah es. Wir hatten uns für acht Tage auf einem größeren Gelände in Nordfrankreich einquartiert. Dort gab es Hütten mit Vier- oder Acht-Bettzimmern für unsere Unterbringung, einen Speisesaal und einige große Räumlichkeiten, wo Programm stattfinden konnte. Und einer der Programmpunkte war eine jeden Morgen wiederkehrende Fitness-Veranstaltung. Man konnte, wenn man sich jeden Morgen daran beteiligte, eine Reihe von exotischen Kampfsportarten ausprobieren.

Nun, ein Freund von mir hatte sich in einem Anfall geistiger Umnachtung bereit erklärt, Karate vorzuführen. Und ich, der ich nun wirklich weder ausgesprochen gelenkig noch ausgesprochen sportlich bin, hatte mich bereit erklärt, als Sandsack zu funktionieren. Das sollte eigentlich ganz einfach sein. Meine einzige Aufgabe wäre es gewesen, still zu halten, während er Schläge und Würfe ansetzte. Und da der Boden der Boden einer Turnhalle war, machte ich mir auch keine Sorgen über einen eventuellen Fallschaden.Nun, wie auch immer, er hatte am Abend vorher eine ganze Menge getrunken und wohl auch nicht sehr viel geschlafen. Die beiden einzigen Teilnehmer und ich schlugen ihm vor, das Karate-Training abzublasen und lieber ein paar Warmmachübungen zu starten. Er war nicht einverstanden. Wir machten uns also warm, liefen ein wenig in der Halle herum und machten einige erheiternde Freiübungen. Dann wollte er an mir ein paar Bewegungen vorführen. Er hatte einen richtig schönen Kampfanzug samt hässlichen weißen Turnschuhen an. Ich trug auch eine Art fernöstlichen Kampfanzug, ein Überbleibsel meiner zwei Wochen Training als Schüler einer solchen Disziplin. Und ich war barfuß, weil ich das immer angenehmer für solche Übungen finde. Nun, er machte erst einige Schläge, die mich doch wirklich nicht trafen. Dann setzte er ein paar Hebel an. Auch diese verschonten mich – wie geplant. Dann wollte er wohl einen ganz tollen Schlag vorführen, bei dem er alle Kraft des Schlages und der zusätzlichen Körperdrehung in den rechten Arm legen würde. Er riss also den rechten Arm nach vorne und sprang in einen anderen Stand. Dabei kam das vordere Bein nach hinten und das hintere Bein nach vorne. Sein Schlag verfehlte mich, aber er sprang volle Kanne mit seinen dicken weißen deutschen Turnschuhen auf meinen nackten Fuß. Ein schrecklicher Schmerz durchzuckte mich. Ich fand mich auf dem Boden wieder, auf dem ich herum rollte und mit beiden Händen meinen blutenden Fuß und meinen zersplitterten Nagel hielt. Dann kam er zu mir, beugte sich über mich und blies mir seine Fahne ins Gesicht. Sein nächster Satz war klasse. „Bei einem echten Training müsstest Du jetzt aufstehen und weitermachen, oder Du dürftest Dich wochenlang nicht beim Training blicken lassen!“ Ich schwöre es: Hätte ich laufen können, ich hätte ihm in die Eier getreten. Aber ich war damit beschäftigt, mich rollenderweise auf dem Boden herumzutummeln. Geheult habe ich auch, und ich war ziemlich am Ende. Er kümmerte sich nicht um mich, aber die beiden anderen Teilnehmer überwanden irgendwann ihre Verblüffung und trugen oder schleppten mich zum diensttuenden Sanitäter.

Hier begann nun mein Glück im Unglück. Dieser Sanitäter hatte schon mehrmals Fußnägel selber gezogen bekommen und auch selber gezogen, und er bescheinigte meinen übriggebliebenen Nägelstümpfen eine Stabilität, die ich ihnen selber nicht zugetraut hätte. Er meinte, das würde schon wieder nachwachsen und sei mit einem vernünftigen Verband zu retten.

Ich hatte mich schon wieder wie ein Kind gefühlt und schreckliche Angst davor gehabt, jetzt bei einem französischen Arzt mir meinen Fußnagel ziehen zu lassen. Dazu muss man wissen, dass ich außer „Baguette“ kein Wort französisch sprechen kann, und natürlich auch, dass ich aus verständlichen Gründen schreckliche Angst vor dem Entfernen von Nägeln habe.

Nun, der Nagel wuchs wirklich wieder raus. Ich habe heute noch einen Strich durch den Nagel, und man konnte einige Wochen lang den Abdruck seiner Sohlen auf meinen ganzen Fußnägeln dieser Seite und auf dem Rest des Fußes sehen.

 

Irgendwie ist mir bei den Erzählungen aller meiner Bekannten klar geworden, dass Familiengeschichten sich immer gleich anhören, egal wer sie erzählt – schlecht. Ich will da bei meiner Familie erst einmal keine Ausnahme machen. Drei meiner vier Großeltern habe ich nicht mehr erlebt, sie starben lange vor meiner Geburt. Ein Großvater fiel in den letzten Tages des Kriegs, die Eltern meines Vaters starben in den Jahren nach dem Krieg an Krebs. Meine Oma, die Mutter meiner Mutter, lebt noch, hat inzwischen ein biblisches Alter erreicht und erfreut sich einer guten Gesundheit. Sie war für mich in den ganzen Jahren meiner Kindheit und Jugend ausgesprochen wichtig. Nicht nur, weil sie eine ausgesprochen beeindruckende und intelligente Frau ist. Nein, sondern weil sie – was für mich als Kind sehr wichtig war – in einer kleinen Stadt wohnte, die als Kurort eine gewisse Karriere gemacht hatte. Dort wohnte sie in den letzten Jahrzehnten nur in drei Wohnungen, die also maximal fünfhundert Meter voneinander entfernt sind. Erst zur Untermiete bei einer freundlichen älteren Dame, dann vielleicht dreißig Meter weiter bei ihren beiden noch lebenden Schwestern. Meine Familie scheint in dieser Generation sehr fruchtbar gewesen zu sein, denn meine Oma hatte einen Stall von Schwestern und Brüder. Zwei Schwestern habe ich bewusst noch miterlebt, die eine starb, als ich relativ jung war. Die andere war immer meine Lieblingsgroßtante, eine ehemalige Hebamme. Viele Geschichten über sie und ihre Tätigkeit als Hebamme in den Kriegsjahren und kurz danach habe ich leider viel zu spät erfahren; zum Teil von meiner Mutter, zum Teil von meiner Tante, der Tochter ebenjener Großtante. Nun, ich hätte sie bei vielen Dingen einfach gerne noch mal gefragt, und mir Details zu den Geschichten geben lassen. Aber ich bin gerne bereit zu glauben, dass all das, was man mir erzählt hat, wirklich passiert ist. Es klingt im Zusammenhang mit ihr, die ich immer als stark und mutig erlebt habe, ausgesprochen glaubhaft.

Von meiner Großmutter lebte sonst nur noch ein Bruder, ein ehemaliger Förster. Auch er wohnte in derselben kleinen Stadt, in einem wunderschönen Haus, das so aussah, als hätte man es von der Mitte eines großen Waldes dorthin versetzt. Er war etwas vierschrötig, fast schon an der Grenze zum garstig sein. Und er hatte überhaupt keine Hand für Kinder. Aber einmal hat er meinen Bruder und mich wirklich aufgeheitert, als wir – beide schon mindestens 14 – zusahen, wie er mit brennender Zigarre im Mund den Tank eines Rasenmähers aufschraubte und hinein linste, ob noch Benzin drin sei. Wir sind beide zurückgesprungen und fanden uns atemlos hinter einer Hecke wieder, während mein Großonkel in aller Ruhe den Deckel wieder auf den Tank schraubte und uns verständnislos an. Wir haben eine Menge gelacht über diesen Zwischenfall – jedoch wohl ohne, dass er verstanden hätte, über was wir lachen.

Die beiden Geschwister sind heute auch schon eine Weile lang tot, und trotzdem erwarte ich jedes Mal, wenn ich meine Großmutter besuchen komme, sie um die Ecke kommen zu sehen.

Meine Großmutter ist dann nach dem Tode ihrer Schwester in ihr ehemaliges Geburtshaus gezogen, welches inzwischen einem ihrer Neffen gehört. Dort hat sie eine Wohnung, die sich über zwei Geschosse erstreckt. Im oberen sind zwei Schlafzimmer für Gaste (eines mit einem Ehebett, eines mit einem einzelnen Bett), sowie ihr Schlafzimmer und ein großes Bad. Im unteren sind das Wohnzimmer, die Küche und eines kleines WC. Im Keller lagern dann Kartoffeln und einiger Plunder.

Nebenan wohnte bis zu seinem Tod ihr Neffe, ein Nenn-Onkel von mir. Okay, seine Kinder sind meine Vettern zweiten Grades, aber ich glaube, dass es keine präzise Bezeichnung für unser Verwandtschaftsverhältnis gibt. Jetzt wohnen da noch seine Witwe, und ihre beiden Söhne, die sich aber am Beginn einer Schullaufbahn als Lehrer befinden. Hoffe ich zumindestens.

Meine eigene Familie ist dagegen schnell weiter erklärt. Da gibt es meine Eltern. Einen Vater und eine Mutter, beide noch am Leben, beide halbwegs gesund. Und dann habe ich noch zwei Geschwister, einen Bruder und eine Schwester. Irgendwie fällt es mir schwer, etwas direkt über die vier zu schreiben. Meine Oma ist mir nahe und doch fern. Ich habe sie sehr gern und sie steht mir in vielen Dingen nahe. Aber sie ist doch als Mutter meiner Mutter und mit ihrem entfernten Wohnort doch so weit von mir entfernt, dass sie eher direkt zu beschreiben ist als über ihre Wirkung auf mich. Bei meinen Geschwistern und meinen Eltern ist das schwierig. Die wirken irgendwie einfach oft in Wechselwirkung mit mir. Wie soll ich meine Eltern beschreiben, ohne dabei ausführlich mich selbst zu beschreiben? Und wie soll ich meine Geschwister beschreiben, ohne dabei eine Menge über mich selbst zu sagen? Ich halte das für unmöglich. Vielleicht fällt es mir irgendwann in der Zukunft leichter, oder ich bin einfach irgendwann in der Lage, an einem anderen Punkt über sie zu schreiben. Jetzt auf jeden Fall nicht.

 

Einen wichtigen Wegbegleiter habe ich vergessen. Er hat mich mein Leben lang begleitet, und tut es immer noch. Deswegen sei er erwähnt. Mein Teddybär. Ich wurde im Frühjahr geboren, und als ich etwas über neun Monate alt war, war es wieder einmal Zeit für Weihnachten. Ich fand Weihnachten als Kind immer ein schönes Fest, und auch heute noch bin ich gerne zu Weihnachten zu Hause. Dies mag daran liegen, dass es die einzige Zeit im Jahr ist, wo meine Geschwister alle zu hause sind und wir gemeinsam mit der Familie Weihnachten feiern.

Natürlich hat Weinachten auch was mit dem Essen von Enten, dem Singen von Weihnachtsliedern und dem Auspacken von Geschenken zu tun. Ich konnte mir als Kind schon nicht richtig vorstellen, dass sich ein dicker Herr mit einem roten Mantel und Pelzbesatz am Kragen durch unseren Kamin quetschen soll. Besonders, da wir keinen Kamin hatten. Aber die Idee mit den Elfen und den kleinen Rentieren fand ich klasse. Irgendwie schnuckelig. Als ich viel später in einem Bilderbuch, das Tolkien für seine Kinder gemalt hatte, diese Elfen wiederfand, war ich ausgesprochen glücklich.

Und ebenjene Elfen schenkten mir zu meinem ersten Weihnachtsfest meinen Teddybären. Und dieser Teddybär war seitdem immer mit mir zusammen und hat nach mir geschaut. Wenn ich als Kind anhörte, wie mein Vater laut wurde, dann lag ich im Bett und hielt meinen Teddybären umklammert. Wenn ich wieder einmal für irgendwas getadelt worden war, dann legte ich mich mit meinem Teddybären ins Bett. Wenn ich abends einen Gruselfilm gesehen hatte oder große Schmerzen hatte, nahm ich meinen Teddybären in den Arm. Er zog bis jetzt jedes Mal mit mir um, und obwohl inzwischen seine Fußsohlen und seine Handinnenflächen repariert werden mussten, so bin ich doch immer noch mit ihm zusammen, wenn mich die Angst packt. Er kann zwar nicht mehr brummen, wenn man ihm in den Bauch drückt, aber er hat immer noch dieses Fell, das so wunderschön an der Wange reibt, wenn man ihn an sich drückt. Und irgendwie riecht er gar nicht nach Holzwolle und Glasaugen, sondern nach Kuchen und heißer Milch mit Honig.

 

Nicht nur Weihnachten gehörte zu meinen frühesten Erfahrungen. Die Kirche in der Nähe habe ich schon erwähnt, und so ist es wohl kaum überraschend, wenn ich auch getauft worden bin. Inzwischen wohne ich wieder näher an meiner Taufkirche, als ich es jemals in meinem Leben vorher getan habe. Und das lenkt natürlich die Gedanken auf die eigenen Paten. Nun, ich hatte Glück. Drei Paten sind mehr als die meisten anderen Kinder haben, und was macht es schon, wenn sich einer der drei später als spanischer Mafiosi herausstellt. Aber er hatte immer schöne Geschenke für mich, so z.B. einmal ein fernlenkbares Auto. Mithilfe der mir von meinem Schöpfer vererbten technischen Fähigkeiten habe ich nicht mehr als drei Tage gebraucht, um es völlig unbrauchbar zu machen. Nun, dieser Pate verschwand auf jeden Fall aus meinem Leben. Meine Patin ist inzwischen Professorin für Musik, und wir sehen uns noch ab und an, da sie auch eine alte Freundin meiner Mutter ist. Und meinen Patenonkel habe ich schon seit Jahren nicht mehr gesehen. Er lebt wohl, war auch mit meiner Patin bei meiner Konfirmation da. Aber wie alle Traditionen sind auch diese ach so christlichen Traditionen aus der Mode gekommen. Ich kann immer nicht verstehen, wenn Leute zum Beispiel im Fernsehen darüber klagen, dass unsere gemeinsame christliche Kultur aus den Fugen geht. Ich habe nicht den Eindruck, dass da irgendwas aus den Fugen geht. Ich habe nur den Eindruck, dass es vorher schon nicht fest war und jetzt einfach das wirkliche Bild dem tatsächlichen Bild angepasst wird. Meine Beobachtungen, die ich in Bezug auf meine eigenen Paten gemacht habe, lassen sich nebenbei auch auf die Paten meiner beiden Geschwister übertragen. Wenn ich mich recht erinnere, hat mein Bruder auch drei Paten. Einen Onkel, der denselben Namen trägt wie er und nachdem er wohl benannt ist. Wir sind mit dieser Familie zwar weder verschwägert noch verwandt, aber da sie früher in derselben Straße gewohnt haben wie die Eltern meines Vaters, lernte man sich durch das Vorbeibringen der falsch zugestellten Post näher kennen. Nun, auch mein Bruder erhielt nur einen Vornamen. Damit wird bei uns in der Familie immer etwas gespart, so als wären sie ein teures Gut, was nur unter größten Mühen auf Kinder weitergegeben werden kann.

Naturreligionen wie viele Heiden glauben daran, dass Namen eine eigene Magie enthalten. Vielleicht ist das der Grund, warum wir nur einen Vornamen erhalten haben. Das ich nach meinem Vater, der nach seinem Vater und dieser wiederum nach seinem Vater benannt worden ist, erlaubt es mir immerhin rein theoretisch, eine römische Vier hinter meinen Namen zu setzen. Mein Bruder hat diese Ausweichmöglichkeit nicht. Wie auch immer, von seinen drei Paten starb eine Patentante, eine Freundin meiner Mutter, als mein Bruder noch sehr jung war. Einen habe ich eben genannt und der dritte ist mir entfallen. Auch ein Indiz. Meine Schwester hat auch wieder einen Vornamen und drei Paten. Ihre Patentante, eine freundliche Dame die auch um einige Ecken mit meiner Mutter und meiner Oma verwandt ist, machte vor einigen Jahren im Familienkreis dadurch auf sich aufmerksam, dass sie ihren Vornamen geändert haben wollte. Durch den Austausch eines einzelnen Vokals wollte sie wohl der Welt deutlich klarmachen, dass sie sich auch verändert habe. Nun, ich bin gerne bereit diese Veränderung in die richtige Richtung völlig zu attestieren. Aber ich kann nicht verstehen, warum jemand, den ich über zwei Jahrzehnte mit einem Namen angeredet habe, auf einmal darauf besteht, von mir mit einem anderen Vornamen angesprochen zu werden. Naja, ich glaube, sie hat mir inzwischen dafür verziehen, dass ich ihren Vornamen gehörig verballhornt habe.

Ein weiterer Pate, dieses Mal männlich, war ein Geschäftsfreund meines Vaters, der zum Glück aus unserem Leben verschwunden ist. Aber was hat meine Schwester ihm getan, die doch an ihrer eigenen Taufe völlig unschuldig ist und die sich sicherlich über eine Karte zu ihrer Konfirmation gefreut hätte? Doch Garnichts. Aber wahrscheinlich sind das dieselben Leute, die sich auch darüber aufregen, das unsere Kultur den Bach runtergeht. Aber das Schreiben einer einzigen Glückwunschkarte überfordert sie wahrscheinlich immens.

 

Schon als Kind hatte ich ein leicht intellektuelles Aussehen. Der Grund war eine ausgesprochen hässliche Kassenbrille, die ich bekam, um mein Schielen zu korrigieren. Nun, schielen tue ich heute nun wirklich nicht mehr. Und die meisten Leute, die mir einen Silberblick attestieren könnten, bleiben glücklicherweise an meinen wunderschönen Wimpern hängen und können überhaupt nicht weiter schauen. Zu meiner Rettung, wie ich einmal vermuten darf. Denn ich habe immer noch einen etwas schrägen Silberblick.

Überhaupt fühlte ich mich zu allen Zeiten, eigentlich bis heute, nicht hübsch. Man erzählte mir, ich hätte leichte X-Beine. Als Kind war ich eine Zeitlang davon begeistert, als ich mitbekam, dass amerikanische Superheldenserien sich wohl meistens dadurch auszeichnen, dass sie mit einem X beginnen. Doch als ich herausbekam, dass weder X-Menschen noch X-Mutanten entsprechende Beine hatten, war ich etwas enttäuscht. Wenn Herr Röntgen sich hätte entschließen können, etwas mehr Selbstbewusstsein zu haben, dann hätten diese Gruppen wahrscheinlich heute den Namen Röntgen-Mutanten, und ich hätte mir wegen meiner Beine keine Illusionen machen müssen.

Meine Füße sind sehr groß, und obwohl mein Vater und mein Bruder größere Schuhgrößen haben, müsste ich mir von Elbkahn bis Kindersarg alles über meine Schuhe anhören. Ich fand zwar die Idee, das Zwerge in meinen Schuhen hätten Schiff fahren können, von einem verzückten Standpunkt aus ziemlich amüsant, aber ich glaube nicht ernsthaft, dass ich mit dem anderen Schuh alleine mich hätte fortbewegen können.

Meine Hände sind zu lang. Mein Kopf ist zu groß. Sogar so groß, dass ich heute noch Schwierigkeiten habe, mir einen passenden Hut zu kaufen. Meine Haare wurden erst lockig, als ich sie lange wachsen ließ. Davor waren sie kurz und hässlich.

Mein Gesicht ist etwas asymmetrisch, meine Nase ist gebrochen und daher etwas schief. Meine Großmutter, die an dem Unfall mit meiner Nase schuld war, macht sich bis heute Vorwürfe. Wenn ich das richtig verstanden habe, so ist wie mit dem Kindergarten spazieren gefahren, und aus einer Ausfahrt kam ein Mann mit ein paar Kisten auf dem Arm. Da er wegen der Kisten nichts sehen konnte, meine Großmutter aber sowieso einige Schwierigkeiten mit dem sehen hatte, fiel er über den Kinderwagen. Ich fiel auf die Straße, blieb unverletzt und bekam eine der Kisten mit Zwiebelmuster-Kannen auf die Nase. Und gebrochen. Und da man solche Sachen erst dann operieren kann, wenn das Kind ausgewachsen ist, habe ich viele Jahre meines Lebens mit einer gebrochenen Nase, Schwierigkeiten beim Atemholen und Nasentropfen leben müssen.

Wenn man mich beim Schwimmen getunkt hat, bekam ich Erstickungsanfälle. Wenn ich nachts mit Schnupfen aufwachte, bekam ich Erstickungsanfälle. Aber hätte man mir vorher gesagt, wie viel Stress eine Nasenoperation bedeutet und wie schmerzhaft das Entfernen der Tampons aus der Nase ist, dann hätte ich mir sicherlich wenig Sorgen über diesen Schmerz gemacht und relativ unbeschwert alle meine Angst und Schmerzen für die Operation aufgehoben.

Habe ich schon meine riesigen Ohren erwähnt? Und meine Augen, die je nach Laune und Licht ihre Farbe von Braun zu Grün und umgekehrt wechseln können? Und meine schiefen Zähne, die ich mir erst als Erwachsener habe mit einer Zahnspange richten lassen? Und ich bin zu groß und wirke immer schlaksig und unterernährt. Wer kann sich also Jahre später meine Verwunderung nicht vorstellen, als sich tatsächlich Frauen für mich zu interessieren begannen. Und sogar hübsche Frauen ohne Augenfehler. Ich war hingerissen.

Schon früh begann ich damit, meine Defizite beim Aussehen durch ein Training meiner Sprache auszugleichen. Ich war in mehr als einer Sprachtherapie, weil meine Sprache verwaschen klang. Man erklärte mir später, das läge daran, dass mein Unterkiefer zu klein für meinen Kopf sei. Nun, ich war gerne bereit das zu glauben. Besonders später war ich noch mehr bereit, dieser unhaltbaren Theorie zuzustimmen, weil es mich per Attest davon abhielt, mich der französischen Sprache zu nähern. Die diversen Nasallaute und anderen obskuren Geräusche waren für jemanden mit einer gebrochenen Nase und zu kleinem Unterkiefer unaussprechbar.

Aber andere Dinge konnte ich lernen. Ich hörte viel zu, und war relativ bald in der Lage, flüssig zu sprechen. Nur lesen konnte ich nicht.

 

Irgendwann war sogar ich in der Lage, eingeschult zu werden. Nun, der Kindergarten gab noch ein rauschendes Abschiedsfest, und wir wurden nach einem wunderschönen Sommer eingeschult. Mein erster Schultag war eine Katastrophe. Mein Vater war sehr krank und nicht in der Lage, an meiner Einschulung teilzunehmen, obwohl er sich so darauf gefreut hatte. Den ganzen Morgen verbrachten wir also zuhause mit Streiten und diversen Versuchen, uns auf diesen Tag vorzubereiten. Natürlich war meine Stimmung beim Gang in das Schulgebäude irgendwo unter dem Nullpunkt, und ich vermute mal sehr stark, dass meine Umwelt das auch zu spüren bekommen hat. Es gibt ein wunderschönes Foto von meiner Einschulung. Meine Mutter steht mit einem ziemlich verheulten Gesicht neben mir, ich selber sehe aus, als wäre ich gerade vorher gezwungen worden, einen Liter Lebertran in mich hineinzufressen. In kurzen Worten: unerträglich.

Die ersten Schultage waren für mich eine Qual. Im Gegensatz zu anderen Kindern konnte ich noch keinen Buchstaben erkennen und weigerte mich auch ziemlich lange standhaft, Lesen zu lernen. Dazu kam, dass die Lehrerin meiner ersten beiden Grundschuljahre ein ausgesprochenes Ekel war, die einen Mitschüler sogar immer wieder unter der Treppe in einem kleinen Verschlag einsperrt, wenn der wieder einmal aufsässig war. Und Schläge mit dem Lineal gehörten auch zu dem von ihr praktizierten Erziehungsstil, genauso wie das Herumbrüllen mit uns kleinen Kindern.

Ich lernte also nicht lesen. Aber ich entdeckte die Möglichkeiten, die das Fernsehen bot. Und im Gegensatz zu anderen Kindern hatte ich zwei Eltern, die tagsüber erstaunlich wenig fernsahen. Sogar mein Vater war clean von der Sportschau, und so konnte ich Samstagmittag – wie überhaupt das ganze Wochenende – relativ frei über den Fernseher verfügen. Und da kam doch wirklich am Samstagmittag eine Fernsehsendung mit obskuren Außerirdischen und einem Offizier mit spitzen Ohren – „Raumschiff Enterprise“. Ich hatte zwar entsetzliche Angst, wenn Klingonen auftauchten, und nahm den Kragen meines grauen Pullis zwischen die Zähne und nuckelte darauf herum, bis ich durch war – aber die Sendung hatte mich begeistert. Meine Mutter versuchte nun verzweifelt, mir klarzumachen, dass „Raumschiff Enterprise“ nicht andauernd und jeden Tag gezeigt wird, sondern nur Samstags. Ich glaubte ihr nicht. Dieses Misstrauen führte dazu, dass ich mir drei Dinge aneignete, um mit meiner Mutter konkurrieren zu können. Erstens lernte ich lesen, um in die Fernsehzeitung schauen zu können. Zweitens lernte ich, die obskuren Zahlenangaben in der Fernsehillustrierten mit den Zeigern der Uhr in Verbindung zu bringen. Und drittens merkte ich, dass man durch Lernen und Intelligenz sogar Respektpersonen wie die eigene Mutter austricksen kann. Ich hätte meine Fähigkeiten entdeckt.

Die Grundschulzeit wurde für mich erst angenehmer, als nach der zweiten Klasse eine neue Lehrerin uns für zwei Jahre übernahm. Diese Frau war wesentlich angenehmer als ihre Vorgängerin, und hier wurden wir auch nicht eingesperrt. Dafür hatte sie die ausgesprochen störende Angewohnheit, bei allen Geburtstagsfeiern „Wenn die bunten Fahnen wehen“ singen zu lassen. Ein lässlicher Fehler.

Meine Grundschule lag auch in dem Areal, in dem wir wohnten, und zwar einige Minuten zu Fuß in Richtung Wald. Wenn man es geschickt anstellte, brauchte man nur eine Nebenstraße zu überqueren und kam dann an einem Spielplatz vorbei zur Grundschule.

Sie lag sehr schön, mit einem großen Hof und einem schönen Spielplatz. Der Spielplatz sollte mir im Gedächtnis bleiben, weil ich dort immer von einem türkischen Mitschüler zusammengeschlagen worden bin. Ich bin kein großer Kämpfer, deshalb habe ich mich nie gewehrt. Es waren meine Mitschüler und meine Mutter, die es ihm austrieben. Wir wurden dann beste Freunde, und er übernahm es, mich vor anderen Kindern zu schützen, die sich von mir geärgert fühlen. Mir war erst Jahre später klargeworden, dass er Türke war. Es hat mich nie gestört oder verwundert, er war halt stärker als ich und hat mich geschlagen. Ich bin oft genug auch von Deutschen verprügelt worden, von daher, machte es wenig aus, wenn mal ein sogenannter Ausländer darunter war. Die Schläge taten genauso weh, und mein Widerstand war genauso wenig vorhanden wie in den anderen Fällen. Nur war es der Türke, der mich nachher half, vor den anderen Kindern sicher zu sein.

 

In der Grundschule lernte ich nicht nur lesen und schreiben – mit einer grässlichen Handschrift –, sondern auch die Grundzüge des Bastelns. Ich sollte ehrlichkeitshalber wirklich von den Grundzügen sprechen, weil über mehr als diese Anfangsfähigkeiten bin ich nie hinausgekommen. Mein kleiner Bruder war das manuelle Genie der Familie, ich hatte zwei linke Hände. Nun, ich war jahrelang deswegen auf ihn eifersüchtig, aber mit steigendem Alter hat sich das dann doch etwas gelegt. Zum Glück.

Es ist halt schon ärgerlich, wenn man zusammen mit dem Bruder jeweils einen Papierbastelbogen für Burgen geschenkt bekommt. Und wenn dann der eigene Bruder doppelt so lange für die Fertigstellung der Burg braucht, wie man selbst. Aber leider erkennen Eltern dann relativ schnell, dass meine Zeitersparnis nur durch das Einsparen von Zinnen, Söllern und kleineren Anbauten entstanden ist. Die Stellen, an denen diese angeklebt werden sollten, hatte ich immer mit grauem Filzstift übermalt, damit sie aussahen wie Schindeln, oder mit braunen und roten Stiften, wenn sie wie Mauersteine aussehen sollten. Also lernte ich früh, mich mit Schummeln über Wasser zu halten. Leider wurde diese wertvolle Fähigkeit nicht in dem Maße honoriert, wie ich sie gerne honoriert bekommen hätte.

 

Im letzten Schuljahr der Grundschule wurde das Gebäude für mich und den geburtenstarken Jahrgang, aus dem ich hervorgegangen war, zu klein. Für die meisten Unterrichtsstunden – außer Sport und Werken, wenn ich mich recht erinnere – zogen wir mit den anderen Klassen unseres Jahrgangs in eine Haupt- und Realschule um, die einige Straßen weiter lag.

Deren Gebäude waren bei weitem nicht so schnuckelig wie die Gebäude der anderen Schule, und ich konnte mich dort in dem einen Jahr viel weniger einfinden, als in der alten Grundschule. Vielleicht lag dies daran, dass wir dieses Jahr nicht verdientermaßen die ältesten auf dem Schulhof der Grundschule waren. Immerhin hatten wir uns auf diesen Zustand lange genug gefreut. Nein, wir waren die jüngsten auf einer völlig anderen Schule, auf deren Hof es rauer zuging. Und dieser Hof war auch mit einem schrecklichen teerigen Belag bedeckt, so dass hier jeder Fall sehr schmerzhaft war. Nicht, dass ich von alleine gefallen wäre. Aber das eine oder andere Mal wurde ich von diversen unfreundlichen Mitschülern gefallen. Keine angenehme Erfahrung, wenn ich dies hier mal kurz einbinden darf, aber eine sehr lehrreiche. Ich lernte hier, mich in der Öffentlichkeit zurückzuhalten. Andere Kinder mögen ihre Kämpfe um die Frage führen, wer die Kontrolle über den Schulhof hat. Ich stand in meiner Ecke, kickte leere Blechdosen, plauderte oder las. Aber auf keinen Fall nahm ich an diesen Spielchen teil.

Später würde mir das schaden, weil ich irgendwie immer neben dem Strom der Entwicklung der anderen Kinder stand, statt in ihn hineinzutauchen. Damals war es mir egal, und ich habe es locker ertragen.

 

Ich war sehr froh, als meine Grundschulzeit vorbei war. Man hatte vorher schon herausbekommen, welche Kinder wohin weitergeleitet werden sollten. Manche kamen auf die Hauptschule, manche auf die Realschule und einige Auserwählte durften darauf hoffen, auf das Gymnasium verwiesen zu werden. Nun, einige Auserwählte trifft es nicht, es dürfte fast die Hälfte der Klasse gewesen sein. Damals war es üblich, die Kinder aufs Gymnasium zu schicken. Nicht wie heute, wo jeder eine vernünftige Lehre machen soll. Nein. Damals sollte jeder sein Abi machen und später studieren können. So auch ich.

Ich hatte – begünstigt durch die Lage meines Wohnortes – die Wahl zwischen mehreren Gymnasien. Eines war konfessionell geleitet und genoss einen Ruf als streng und elitär. Da wollte ich nicht hin. Blieben zwei weitere Schulen. Mein Vater hatte einen seiner ausgesprochen hellen Momente, lud meinen Bruder und mich ins Auto und fuhr beide Schulen besichtigen. Die eine Schule war in der Stadt und ausgesprochen hässlich. Diese Schule war auch nur Gymnasium. Die andere Schule lag in die Gegenrichtung, etwas auf dem Land dafür wunderschön gelegen. Und es war eine integrierte Gesamtschule, mit Schulformen vom Kindergarten bis zum Gymnasium. Und es gab dort Bäume, schöne offene Schulhöfe und viele Säulengänge. Ich war begeistert. Praktische Erwägungen kamen bei meinen Eltern hinzu, wie die Überlegung, dass mein Bruder auf einer Förderstufe besser aufgehoben wäre, weil im Moment noch nicht klar war, ob er sofort nach der Grundschule das Gymnasium packen würde. Er war (und ist) nämlich Legastheniker, und irgendwie hoffte man darauf, dass die neue Schule dieses Problem eher lösen würde.

Wir wählten also die Schule in der Tundra.

 

Die Förderstufe war für mich eine sehr schöne Zeit. Die Schule, praktischerweise Schuldorf genannt, hatte einen freundlichen Charakter. Mir tat es gut, dass hier – bis auf die drei Kursfächer Mathe, Deutsch und Englisch – alle Schulformen in einer Klasse saßen. Und mir tat es auch gut, dass drei meiner besten Freunde mit dieser Option gewählt hatten. Viele anderen, gerade auch die, welche bei uns in der Gegend gewohnt hatten, hatten sich nämlich für die Stadt entschieden.

Mir kam es sehr entgegen, dass ich jeden Morgen auf dem Weg zur Schule unverhinderbarerweise mit einem meiner Freunde zusammentraf, wir zwei dann gemeinsam den zweiten Freund abholten und wir drei Männer dann ebenso unverhinderbarerweise an der Straßenbahnstation der vierten im Bunde, einem Mädchen, begegneten. Die Fahrten zur Schule haben wir immer weidlich ausgenutzt. Später spielten wir „Pflicht oder Wahrheit“, erzählten uns Geschichten oder machten die Hausaufgaben. Nun, Hausaufgaben machen ist wohl gelogen. Wir haben sie voneinander abgeschrieben, weil es natürlich viel praktischer ist, wenn nur einer die Aufgaben macht. Und da es eine Straßenbahn war, hat sie bei weitem auch nicht so sehr gewackelt wie Busse das normalerweise tun. Denn dort ist das Abschreiben fast unmöglich – eine Art von Skandal, denn andere Kinder konnten natürlich nicht in demselben Maße wie wir unsere Hausaufgaben nachschieben.

Ich bin diese Strecke dann neun Jahre lang jeden Tag mit der Straßenbahn gefahren, von meinem ersten Jahr in der Förderstufe bis zu meinem letzten Jahr in der Oberstufe. Ich hatte zwar später die Möglichkeit, erst mit dem Fahrrad, dann mit dem Mofa, dem Moped und dem Auto zu fahren. Aber irgendwie blieb die Straßenbahn (oder Elle, wie wir sie liebevoll nannten) immer meine erste Wahl. Elle steht angeblich kurz für Elektrische, und die Straßenbahn war und blieb immer meine große Liebe. Ich fahre auch heute noch, wenn ich in fremden Städten bin, irrsinnig gerne mit dem Nahverkehrssystem herum. Einfach, weil es mir tierischen Spaß macht, die Straßenbahnlinien fremder Städte auszuprobieren. Oder die U-Bahn. Oder – wenn es unbedingt sein muss – auch die Busse. Nebenbei: die schönsten Bahnen fahren in Wien, weil die nicht nur unterirdisch verkehren, sondern zum Teil auch überirdisch über höher gelegte Gleise. Ein echter Genuss.

Im Lauf der Jahre veränderte sich die morgendliche Fahrstrecke. So wie sich manche Rosenarten an Holzgeflechten emporranken, so verändert sich auch das Straßenbahnnetz. Wie die Arme einer Kletterrose greifen die Schienen ins Land. Ich ging jahrelang von einem stetigen Wachstum der Straßenbahnschienen aus, von einer andauernden Vervollkommnung und Verbesserung des Netzes der Schienen. Dann musste ich auf einmal feststellen, dass die Schienen nicht immer weiter wuchsen, nein, dass sogar ein Stillstand eingetreten war. Und dann erkannte ich an einer Straße, dass dort Schienen verlegt waren, die überhaupt nicht mehr von Bahnen genutzt waren. Ich hatte ein Geheimnis entdeckt.

Dieses Geheimnis entfaltete sich mir erst langsam aber sicher im Verlauf der nächsten Jahre. Das Geheimnis war das Mysterium der Zeit. Straßenbahnlinien sind nicht irgendwann angefangen worden und seitdem gewachsen, nein. Sie stehen in einer Entwicklung, in der es möglich ist, dass es einmal wenige Straßenbahnschienen, dann mehr und dann vielleicht wieder weniger Straßenbahnschienen gibt.

Das Liniennetz von heute ist nicht einfach entstanden, es entstand aus einer Tradition heraus. Nur weil es heute nur noch Straßenbahnlinien mit den Nummern 1, 2, 3, 6, 7, 8, 9 und 10 gibt, so heißt das noch lange nicht, dass die fehlenden Nummern von der unfähigen Verkehrsgesellschaft übersehen worden sind. Nein, sie sind nur momentan nicht mehr in Benutzung. Und im Laufe der Jahre ist auch aus dem Bereich der Nummern von 1 bis 9 eine neue Linie erwachsen, die praktischerweise die Nummer 10 trägt. Auch hier macht Wien netterweise eine Ausnahme, denn hier ist es wohl ein reiner Planungsfehler, dass es zwar die Zahlen U 1 bis U 6 gibt, aber tatsächlich nur fünf statt der zu erwartenden sechs Linien gibt.

Die Linien, die ich jeden Morgen zur Schule fahren musste, sind sehr schön. Der Startpunkt ist nach wenigen Minuten Fußmarsch vom elterlichen Haus leicht zu erreichen. Netterweise stand man dann dort jeden Morgen vor den Auslagen des kommunalen Kinos. Das war in jenen Jahren, als es zusätzlich zu den großen Kinos in den Metropolen noch in den Vororten kleine Klitschen gab, in denen nach dem Abnudeln der Filme in der Großstadt noch ein paar Wochen drangehängt wurden, in denen auch die Vorortbesucher die Meisterwerke schauen durften.

Ehrlicherweise muss man natürlich hinzufügen, dass es sich bei den Vorortkinos meist nicht um Tempel der Muse, sondern um Anbetungsstätten des schlechten Geschmacks handelte. Das Kino an meiner Haltestelle hatte drei Arten von Filmen. Das erste waren Soft-Pornos, das zweite Gewaltfilme (meist mit den Standartworten wie „... des Kung-Fu“, „... des Shaolin“ oder „Die Todeskralle ...“ versehen) und das dritte billige Science Fiction Schinken. Gerade letztere hatten es mir angetan, und so war es nicht weiter verwunderlich, dass ich mich in der glücklichen Lage befinde, alle schlechten Science Fiction Filme aus neun Jahren Schulzeit am Plakat wieder identifizieren zu können.

Wenn man sich der Bahn anvertraut, wird man erst zu einer ruckeligen Fahrt um ein paar Ecken gezwungen. In der alten Innenstadt ist eigentlich kein Platz für Gleise, und da hat man halt dafür gesorgt, dass sie entlang der Straße verlaufen – auch wenn die Straße sich völlig schlängelt.

Die zweite Station ist vor einigen Jahren verlegt worden. Früher lag sie auf der Brücke, bis irgendein kluger Kopf darauf kam, dass die Brücke vielleicht gar nicht in der Lage ist, dieses Gewicht problemlos zu verarbeiten. Also wurde die Station in beide Richtungen von der Brücke hinunter verlagert. Jetzt ist der Blick nur noch halb so schön wie früher.

Die nächste Station ist dann unter der alten Ortskirche. Diese liegt auf einer Sanddüne, und erhebt sich daher stolz über den Ort. Weiter fährt man an einem Friedhof vorbei bis zum Depot. Hier endet zwar auch ein Teil der Linien in diese Richtung, aber ich bin nie in den falschen Zug gestiegen und hier geendet. Nur nachts, wenn man mit der letzten Bahn zum Depot mitgenommen worden ist, endet man manchmal hier und muss dann den Rest des Weges laufen.

Weiter der Strecke folgend gelangt man zu einer Mittelschneise genannten Station, die mitten im Wald zu liegen scheint. Wenn man aber einem der Waldwege folgt, gelangt man relativ bald in ein lieblos an die Altstadt herangeklatschtes Wohngebiet. Dieses heißt praktischerweise nach der Himmelsrichtung: Süd. Und es ist in Halbkreisen um den alten Stadtkern durchnummeriert, so dass man hier sich auf der Höhe von Süd 3 befindet. Wer sich so etwas für einen Stadtteil als Namen einfallen lässt, darf sich nicht wundern, wenn die Bewohner jahrelang mit dieser blödsinnigen Bezeichnung aufgezogen werden.

Das nächste Stück ist etwas länger, und man fährt einen kleinen Berg hinaus. Oben liegt dann nach rechts nur ein Friedhof, aber nach links hin schmiegt sich den Berg hoch ein kleines Dorf an den Hang. Inzwischen haben die außer einer Bankfiliale, die nur halbtags aufhat, und einigen Kneipen überhaupt nichts mehr im Ort, früher gab es dort wenigstens noch einen Einkaufsmarkt. Wer hier kein Auto hat, der ist verloren.

Das längste Stück der Strecke folgt nun und bringt einen in eine Verbandsgemeinde, zu der auch meine ehemalige Schule gehört. Die erste Station des Ortes ist vor einigen Jahren umbenannt worden, damit die Leute gleich wissen, dass die Station zu dem neu entstandenen Wohngebiet gehört. Es folgt die relativ schone Altstadt dieses Dorfes, und man kommt an eine weitere umbenannte Straßenbahnstation. Früher hieß sie nach dem alten Rathaus, doch das war bevor man sich hier darauf besann, dass man eine französische Partnerstadt mit einem unaussprechlichen Namen hat. Nach der heißt nun der frisch von einem Architekten neu gestaltete grässliche Platz vor dem Rathaus, und nach hier heißt nun auch die Straßenbahnstation. Nun gut.

Einer Kurve folgend gelangen wir zur vorletzten Station. Rein theoretisch kann man an jeder der drei letzten Station aussteigen, um zur Schule zu gelangen. Doch tatsächlich ist die letzte Station diejenigen, von der aus der Weg zum gymnasialen Zweig am kürzesten ist. Außerdem kriegt man hier auf der Rückfahrt am ehesten einen Sitzplatz, weil man als erster einsteigen kann.

Nun, die letzte Station liegt im zweiten Teil der Verbandsgemeinde, und früher endete die Strecke hier. Doch man entschloss sich noch zu meiner Schulzeit, hier weiter zu bauen und die Schienen bis zum nächsten Dorf voranzutreiben. Schade, denn früher ließen die Fahrer manchmal kleine Kinder mit durch die Wendekurve fahren. Ein echtes Erlebnis, weil die Bahn dabei schrecklich quietscht und ruckelt, und es ist schon etwas besonders, wenn man als einziger sitzenbleiben kann, während alle anderen aussteigen. Oder wenn man sogar als einziger zusteigen darf, während alle anderen noch ein paar Meter länger stehen bleiben müssen.

Straßenbahnen sind ein ganz eigener Mythos. Sie sind ganz anders als ihre kräftigen Brüder, die Busse. Busse passen sich Kurven nicht an, sie schneiden sie. Busse sind meistens nicht so komfortabel wie Straßenbahnen, sie sind bei Glatteis und Schnee ausgesprochen unzuverlässig, und bei Regen spritzen sie die Passanten nass. Straßenbahnen sind da anders. Sie sind immer zuverlässig, sie stinken nicht nach Benzin, sie sind meistens mit schönen blauen Sitzen ausgestattet und irgendwie einfach mehr ein Zug als ein Reisebus.

Ich würde nie nie nie eine Straßenbahnfahrt gegen eine Busfahrt eintauschen.

 

Für mich waren die Jahre der Förderstufe auch aus anderen Gründen wichtig. In meinem Leben geschahen viele Dinge, die ich nur erfahren sollte. Sie geschahen mit mir, ohne dass ich auf sie einwirken konnte. Und jetzt, Jahre später, erfahre ich erst, was dort eigentlich mit mir gemacht worden ist.

Wenn ich mich heute frage, warum ich das englische so gerne mag, dann kann ich das auf eine Menge Dinge zurückführen. Ich hatte immer gute Englischlehrer, die meisten waren sogar überdurchschnittlich gut. Aber ich habe auch gerne englische Musik gehört, wenn auch nicht unbedingt so neue wie die meisten meiner Altersgenossen. Ich hörte gerne Rock und Beat, und irgendwie haben mich auch immer die Texte begeistert. Eine meiner Mitschülerinnen kaufte sich immer diese kleinen A 6 Hefte, in denen jede Woche – oder war es jeden Monat? – die neuesten Hits der Top Ten aufgelistet wurden. Netterweise erschienen dort nicht nur die englischen Originaltexte, sondern auch deutsche Übersetzungen. Natürlich waren diese Übersetzungen nicht das Gelbe vom Ei, und heute erscheinen sie einem eher erheiternd als denn wirklich gut gemacht, aber sie weckten in mir die Erkenntnis, dass diese Lieder mehr waren als heruntergesungene Silben. Früher hätte man mich glauben machen können, dass dort auf Englisch von eins bis tausend gezählt wird. Auf einmal merkte ich aber, dass da mehr war als nur der einfache Beat und die schnellen Rhythmen. Das waren echte Lieder mit Text und Inhalt. Ich war begeistert.

Als ich zehn Jahre alt war gewann meine Schwester, damals immerhin zwei Jahre alt, ein Wochenende in London für drei Personen. Geflogen sind dann konsequenterweise mein Bruder, mein Vater und ich. Das ganze war relativ billig gehalten, also ohne großen Komfort und ohne wunderbares Hotel in der Innenstadt. Aber mir hat es trotzdem gefallen. London ist eine wunderbare Stadt, und die Engländer sind ein ausgesprochen höfliches Volk, denen es auch nichts ausmacht, wenn man selber nicht so bewandert ist in ihrer Sprache.

Ich konnte noch wenig Englisch, und deshalb war mein Vater auch jahrelang etwas sauer auf meinen kleinen Bruder und mich. Auf einmal hörten wir nämlich eines Nachmittags Sirenen auf dem Flur. Mein Bruder und ich gingen hinaus, schauen, was draußen passierte. Überall liefen Feuerwehrmänner herum und aufgescheuchte Hotelangehörige. Wir versuchten, erst einmal herauszubekommen was passiert war. Auf die naheliegende Idee, dass Feuerwehrleute eigentlich nur auftauchen, wenn irgendwo ein Feuer ausgebrochen ist, kamen wir nicht. So machten wir uns daran, hinter der erstbesten Ecke nach Klärung zu suchen. Die fanden wir nicht, aber zwei kräftige englische Feuerwehrleute, die damit begannen, uns zu evakuieren. Das war aber genau das, was wir eigentlich nicht wollten. Wir wollten eigentlich nur herausbekommen, was um uns herum vorging und dann mit unserem Vater besprechen, was wir jetzt tun. Der schlief aber wohl in seinem Zimmer, und wir zwei wurden unter lautem Protest evakuiert.

Was soll man tun, wenn man der Sprache der Einheimischen nicht mächtig versucht, darauf aufmerksam zu machen, dass man eigentlich nicht evakuiert werden möchte? Man strampelt mit Armen und Beinen. Das führt natürlich dazu, dass auf einmal Garniemand mehr mit einem redet.

Wir hatten Glück. Nach einigen Treppen und langen Gängen standen wir hinter dem Hotel im Freien und durften erkennen, dass es überhaupt kein ganzer Hotelbrand war, eher ein kleiner Zimmerbrand. Vater hat den ganzen Aufruhr verschlafen, und wir mussten ihm dann nachdem die Feuerwehr uns erlaubt hatte, wieder ins Haus einzudringen, die ganze Geschichte erzählen. Er war nicht sehr begeistert und hielt uns jahrelang vor, wir hätten ihn verbrennen lassen wollen. Alles Unsinn.

Trotzdem reizte mich dieses Geschehnis irgendwie. Und ich beschloss, nie wieder in einem englischen Hotel nicht klären zu können, was um mich herum vorging. Ich lernte Englisch.

Natürlich mag es dabei eine Rolle gespielt haben, dass mir das Land immens gefallen hat. Ich mochte den Tower, die „HMS Belfast“, die Innenstadt und die Beefeaters. Mir gefiel der Palast der Königin, und ich hatte Spaß an Windsor und diversen Besichtigungen. Man hatte mich auf die Sprache süchtig gemacht, und ich blieb es eigentlich immer.

 

Habe ich eigentlich schon von meiner Liebe zu Krankenhäusern erzählt? Nun, bis ich zehn Jahre alt war, war ich schon mindestens dreimal im Krankenhaus (meine Geburt mal nicht mitgerechnet). Einmal wäre ich fast an einem halben Apfel erstickt und wurde eine Nacht lang zur Beobachtung dabehalten. Meine Mutter behauptete noch Jahre später, ich hätte danach erst einmal einige Wochen lang nicht mehr gelacht. Das mag daran liegen, dass ich das Krankenhaus wohl nicht so toll fand. Wer weiß, was mit kleinen Kindern passiert, die man in Krankenhäusern zurücklässt? Einige Jahre später durfte ich diesen netten Ort wieder besuchen, aber wohl nur ambulant, weil ich mir den Nagel herausgeschlagen hatte. Und ein andermal war ich dort, weil ich mir die Nase gebrochen hatte. Meine Mandeln sind mir natürlich auch genommen worden, und das alles sorgte nicht dafür, dass ich Krankenhäuser allzu sehr lieben würde. Ich meine, wer tut das schon? Aber ich habe sie wirklich gehasst. Als ich dann – ausgewachsen – ab meinem achtzehnten Lebensjahr versucht habe, mir die Nase korrigieren zu lassen, war ich sicherlich zehnmal dafür im Krankenhaus. Einmal war kein Arzt da, der hätte operieren können. Einmal war es zu warm. Einmal war kein Bett mehr frei. Einmal hatte ich einen Pickel auf der Nase. Das war klasse, ich lag schon im OP und war halb betäubt, da fiel dem Oberarzt auf, dass ich einen riesigen roten Pickel auf der Nase hatte. Nun, auch mit achtzehn hatte ich noch des Öfteren Pickel, aber irgendwie fand ich das nicht besonders überraschend. In einem gewissen Alter haben wohl die meisten Jungen Pickel, so auch ich. Aber dieser Oberarzt bestand darauf, dass ich wegen dieser Pickel nicht operiert werden könne. Man ließ mich also gehen. Ich stand voll unter Betäubungsmitteln, packte meine Sachen und lief heim. Zuhause habe ich dann geklingelt und hatte erst einmal einen Blackout. Meine Mutter muss wohl im Krankenhaus angerufen haben, weil sie im Glauben war, ich wäre aus dem OP geflohen. Nun, das gibt doch irgendwie schon zu Denken, was meine Einstellung zu diesen Räumlichkeiten betrifft, oder?

Wie auch immer, ich war ja nicht geflohen, von daher bestand kein Grund zur Panik. Aber gemocht habe ich sie trotzdem nicht. Ist ja auch verständlich, oder?

 

Dass ich einen Bruder habe, habe ich erwähnt. Meine Schwester habe ich auch erwähnt. Der erste gemeinsame Urlaub, aus dem mir meine kleine Schwester als echtes lebendes Wesen in Erinnerung ist, war, als ich mit dreizehn Jahren in die Rhön gefahren bin. Mein Bruder war zwölf, meine Schwester fünf. Damit fingen die beiden an, wirklich mit mir zusammen drei Geschwister zu bilden.

Ich war noch jung genug, um Spaß daran zu haben, mit den beiden Blödsinn zu machen. Und so ist es nicht weiter verwunderlich, dass wir uns einen Einkaufswagen luchsten (oder genauer gesagt: einen Wagen für den Transport von Koffern auf die Zimmer) und damit in der Einfahrt immer wieder von oben nach unten fuhren. Unten angekommen, schoben wir den Wagen wieder den Hang hinauf und begannen von neuem. Das war alles nicht so einfach, wie es jetzt klingen mag. Die Bremse befindet sich nämlich bei diesen Wagen als eine metallene Querstange über den Schiebegriff, und es verdammt schwer, entweder den Hang rückwärts hinunter zufahren (damit man immer auf die Bremse schlagen kann) oder aber in voller Fahrt nach hinten zu greifen. Also fuhren wir meist ungebremst und streckten notfalls einfach die Füße aus, um uns abzubremsen. Auch das ist natürlich meistens weniger lustig, weil der Wagen, wenn man mit dem Fuß abbremst, sich um die Ferse herum ein wenig dreht und dann – zwar langsamer – unkontrolliert den Hang hinunter rollt. Wir hatten viel Spaß. Leider muss wohl irgendjemand mitbekommen haben, dass wir – um den Hang und neue Varianten auszutesten – immer unsere Schwester alleine fahren ließen. Das war zwar sehr amüsant für uns beide, aber irgendjemand erkannte wohl richtig, dass es für unsere Schwester gefährlich war.

In diesem Urlaub entwickelte ich auch eine ernstzunehmende Abneigung gegen den Papst. Ich hatte meine Mutter glücklich überredet, an einem der Abende im Gemeinschaftsraum einen Gruselfilm sehen zu können. Ich glaube, es wäre die alte schwarz-weiße Version von „Frankenstein“ gewesen. Glücklich hatte ich mir zwei Tage lang die Lippen blutig geredet, und ebenso glücklich stand ich dann vor dem entsprechenden Gerät. Nur um zu erfahren, dass der Papst gestorben sein. Erst wurde stundenlang über sein frommes Leben berichtet, dann wurde stundenlang darüber debattiert, wer jetzt Papst werden würde. Wenn ich mich richtig entsinne, wurde damals der legendäre Pole zum Papst gewählt. Jaja, so lange ist das jetzt schon her. Aber ich habe ihn gehasst, vom ersten Augenblick an. Denn die ganze Papstwahl hätte ich auch ohne meine Überredungskünste schauen können, doch so hatte ich mich umsonst ins Zeug gelegt – und war noch nicht einmal dadurch entlohnt worden, dass der Film in den nächsten Tagen wiederholt worden wäre, denn die Erlaubnis zum sehen dieses Filmes hatte ich ja schon.

 

Mein erstes Leseerlebnis war also deswegen angefangen worden, um eine SF-Serie sehen zu können. Und meine erste Auseinandersetzung mit der christlichen Religion erfolgte, weil ich einen SF-Film nicht sehen durfte. Irgendwie ist das Leben schon voll von eigenartigen Zufällen.

Die Science Fiction – oder wie man feiner sagt, die phantastische Literatur – hat mich mein ganzes Leben lang bis jetzt begleitet, und es ist davon auszugehen, dass es auch weiterhin so bleiben wird.

 

Irgendetwas hat mich früh daran gefesselt, und es ließ mich auch so recht nicht wieder los. Was war es? Das verbotene etwas zu lesen, was allgemein als „unfein für Kinder“ und „Schund“ bezeichnet wird? Ich glaube nicht, weil so stark war mein Widerstandswille zu jener Zeit noch nicht, dass ich etwas gelesen hätte, weil es verboten war. Meine erste Faszination war echt. Ich habe in diese Bücher hineingeschaut, und ich war gefesselt. Mein richtiges Leben war schön, aber mein erfundenes Leben war gigantisch. Zwischen den Deckeln des Buches entfaltete sich für mich eine Welt der Wunder. Mit einem U-Boot unter dem Pol durchfahren, mit einem Raumschiff im Sonnensystem Expeditionen durchführen, im Inneren der Erde mit einem metallenen Maulwurf nach versunkenen Zivilisationen und Hohlwelten suchen. All dies und noch viel mehr gab mir die Phantastik.

Die Beschränkung auf nur ein Genre war mir bald zu eng, und ich las einfach alles, was im weitesten den Begriff „phantastisch“ verdient hätte. Märchen las ich schon immer gerne, und ich fing an, mich systematisch mit ihnen zu beschäftigen. Einfach von vorne bis hinten ganze Regale hindurch. Oder Gruselgeschichten, obwohl die mich immer etwas abgeschreckt haben, weil ich eigentlich ein sehr ängstlicher Mensch und daher leicht zu erschrecken bin. Der moderne Horror hat mich nie gereizt, nur die Spielart des Horrors, die irgendwann um die Jahrhundertwende entstanden ist, konnte mir etwas abgewinnen. Hier ging es nicht um Gewalt als Stilmittel, sondern um subtilen Horror, der mich wirklich begeistern konnte. Der „Golem“ hatte es mir angetan, oder Sammlungen von Kurzgeschichten aus dieser Epoche. Auch etwas Wilde und etwas MacDonald, wenn sich die Gelegenheit ergab. Ein Gebiet, das ich erst relativ spät entdeckte, war das der Fantasy. Sie blühte kurz aber heftig. Anfangs war sie mir zu brutal, dann wurde sie mir zu einfach. Vorher las ich gar keine Fantasy, hinterher nur noch ausgewählte Bücher, die mich aus irgendwelchen Gründen begeisterten. Doch dazwischen las ich alles, was in die Buchläden kam. Ich fand sogar endlose Serien faszinierend und konnte mich damit abfinden, denselben Stoff immer und immer wieder aufbereitet zu bekommen. Einfach interessant waren diesen Geschichten für mich, und ich las dieses Genre mit der Begeisterung des Jungverliebten, der alle Nachteile seiner Geliebten wegen ihrer Vorteile vergisst oder unterdrückt. Doch auch diese Liebe wurde kalt, und ich lernte zwischen schlechten und guten Büchern zu unterscheiden. Heute lese ich Fantasy nur noch, wenn ich damit von mir geliebte Autoren oder Serien weiterlesen will. Und ganz ganz selten einmal, weil mir jemand ein gutes Buch so warm empfohlen hat, dass ich es mir selber kaufe und damit wieder einmal für einen halben oder einen ganzen Tag in meinen früheren Tagträumen verschwinde.

Doch eine Liebe hat sich von Anfang an in der gleichen Intensität gehalten. Die Liebe zur Science Fiction oder kurz SF. Raumschiffe mit metallen glitzernden Leibern, Raumanzüge und Außerirdische hatten es mir angetan. Im Fernsehen waren dies „Orion“ und „Enterprise“, im Buch eher „Giganto“ und „Delta VII“. Aber geliebt habe ich sie alle. Jeden Planeten des Sonnensystems konnte ich herauf- und herunterbeten, wusste Bescheid über die Schwierigkeiten des beinahe lichtschnellen Antriebs und konnte Theorien auswendig hersagen, die Zeitreisen erklären sollten. Nie war ich ein Freund von zu großer Technik, und immer war ich bereit wegen einem schnuckeligen Raumschiff über kleinere Webfehler in der Geschichte hinwegzusehen. Manche Male habe ich mir damit sicherlich selber geschadet, weil ich Schund zu Ende las, nur weil mir ein Teil der Handlung gefallen hat. Aber oftmals ist es so, dass diese Begeisterung immer wieder von neuem beginnt und mich immer wieder aufs Neue fasziniert und mitnimmt. Der Effekt der Wiederholung tritt zwar auf. Man liest ein Buch und stellt bald fest, dass es eine schlechte Pastiche auf ein gutes Original ist, und wirft es in die Ecke. Aber der Stapel der ungelesenen Bücher ist riesig groß, und die Auswahl ist es auch. Zum Glück.

Wie kann man ermessen, wie viel Faszination in einem Buch liegen kann, wenn man diese Liebe nicht teilt? Das Radio hat mich nie interessiert, über das Hintergrundgedudel hat es dieses Medium bei mir nie gebracht. Das Interesse an Hörspielen hatte ich als Kind mal, richtig, aber inzwischen ist das völlig verschwunden. Das Fernsehen hat mich begeistert und begeistert mich noch. Aber es lässt wenig Raum für Phantasie, und oft merkt man dann doch, dass die Plots schwach und die Schauspieler hölzern sind. Entweder Fernsehen ist gut als Parodie und wiederum so schlecht, dass es schon wieder gut ist. Oder es ist so gut, dass das Zusehen eine Freude ist. Dazwischen liegt das Jammertal der visuellen Unterhaltung.

Das Buch hingegen spielt sich zwischen unseren Ohren ab, es ist Film und Geruch und Kino und Hörspiel und tausend bunte Blumen. Unser Gehirn wird angeregt, sich die Szenen vorzustellen und zu überlegen, wie die einzelnen Figuren aussehen. Vielleicht sind Buchverfilmungen deswegen immer ein wenig problematisch, weil wir uns im Grunde vorher ein klares Bild von den Personen und Orten gemacht haben. Und jemand anders, eben der Regisseur oder wer auch immer, verwendet seine Sicht und stellt sie dar. Und unsere eigene Phantasie kuscht vor seinen Vorstellungen. Und viel geht verloren, denn seine Interpretation der geschilderten Wirklichkeit ist selten die eigene. Und wenn sie doch die eigene ist, dann hat man sich den Film umsonst angeschaut – die Bilder hatte man vorher schon in seinem Kopf.

Und die Comics, die Welten der bunten Bilder? Zu Recht wird man einwenden können, dass sie für Kinder und kindliche Menschen gemacht sind. Sie haben viel gelernt in den letzten hundert Jahren, die Comics. Aber nicht genug, um neben dem Buch gleichberechtigt stehen zu können. Trotzdem habe ich Schränke voll mit Comics. Kein Widerspruch für mich, nur der Unterschied zwischen Anspruch und Unterhaltung.

 

Ich hatte erst überlegt, ob ich meine fragmentarischen Aufzeichnungen der letzten Tage nacheinander überarbeite und so tue, als hätte ich wirklich jeden Tag ganze Sätze geschrieben. Aber irgendwie erschien mir das als Betrug. Nicht als Betrug am (nicht vorhandenen) Leser, sondern als Betrug an mir selbst. Ich hätte meine eigenen Regeln von Redlichkeit verletzt, und das wollte ich dann doch nicht. Andere betrügen und belügen mag in gewissen Situationen verständlich sein. Aber wer sich selbst belügt, der bringt sich um die Wahrheit.

Das Meer war eines der Wörter, die auf meinem Stichwörterzettel standen. Wasser, oder besser große stehende Wasserflächen, sind für mich immer faszinierend gewesen. Wenn sich das Wasser bewegt, oder – noch schlimmer – wenn ich mich auf dem bewegenden Wasser befinde, dann macht es mir Angst. Seekrankheit ist mir zwar unbekannt, aber Wasser hat bekanntlich keine Balken. Und ich stehe gerne auf festem soliden Boden. Meine Schwindelanfälle in großen Höhen hängen vielleicht eher damit zusammen als mit echtem Schwindel. Ich will gerne fest stehen, auf mir bekanntem und vertrautem Boden. Andere sind damit glücklich, wenn der Boden unter ihnen schwankt oder sie auf dünnen Gängen um Turmplattformen herumkriechen dürfen. Ich nicht. Der Boden ist das, was ich mir wünsche.

Aber stehende Flächen von Wasser sehen für mich nicht wie Wasser aus, sondern wie ein großer hingegossener Spiegel. Und in diesem Spiegel vermeine ich Dinge zu sehen. Begeistert war ich früher schon von versunkenen Städten, die unter dem Wasser liegen sollen. Rungholt, die Stadt, die angeblich irgendwie in der Nordsee liegen soll. Oder aber die paar Gebäude (samt Friedhof), die man überflutet hat, um die Edertalsperre zu bauen. Atlantis hat mich immer weniger begeistert, weil es eigentlich kein Kindermythos ist. Atlantis ist irgendwie vergeistigt worden in seiner Diskussion, und diese nachträgliche Vergeistigung hat der Sache nicht gut getan. Warum kann man Atlantis nicht genauso suchen, wie man Brigadoon oder Shangri-La suchen würde? Weniger als einen Ort, denn als ein Prinzip von einer Zivilisation in Einheit und Freude, die es eben so in dieser Form nie wieder auf der Erde gegeben hat. Eine Art „goldenes Zeitalter“, nicht unähnlich jenem der griechischen Heroen, welches eben von den Göttern versenkt worden ist. Stattdessen schwärmt die Atlantis-Literatur von der Wiederentdeckung von kontinentalen Schelfen, die Atlantis doch auf einer Inselposition möglich gemacht haben. Thera-Diskussionen ob der Frage, ob jenseits der Säulen des Herkules vielleicht auch im Mittelmeer meinen könnte. Und eine Suche bei Helgoland oder in Südamerika nimmt mir beim Lesen den Spaß.

Deswegen lese ich auch heute noch gerne Charles Berlitz. Nicht, weil er vernünftige Thesen bieten kann. Kann er sicherlich nicht. Aber ihm fehlt jene Däniken-hafte Verbissenheit in erfundene Fakten, die ich so verabscheue. Berlitz erfindet Quellen (wenn er sie überhaupt nennt), er huscht über die Erkenntnisse der Geschichte und der Naturwissenschaften hinüber und malt auf seiner pseudo-historischen Staffelei ein Bild von vergangenen Geheimnissen, das eher in den Bereich des Märchens als in den Bereich des Sachbuchs gehört. Na und? Ich amüsiere mich immer königlich darüber.

Der Spiegel des Sees (man spricht nicht umsonst vom Ansteigen des Meeresspiegels, oder?) ist für mich immer Mysterium. Ich weiß, dass es etwas darunter gibt, etwas, das sich hinter dieser glatten Oberfläche vor dem Blick verbirgt. Aber ich weiß auch genauso, dass der See den Himmel spiegelt. Bilder zeigen sich auf seiner Oberfläche, Spiegelungen von dem, was über ihm ist. Und so bleibt das, was unter Wasser ist, verborgen. Man kann sich vorstellen, wenn man als Kind an einer Pfütze steht, dass die Bäume, die man gespiegelt im Wasser sieht, keine Spiegelungen sind, sondern dass in der Pfütze – sozusagen hinter Glas – die Bäume wirklich nach unten wachsen. Und erst wenn die Oberfläche des Wassers durch einen Tropfen oder einen hineinfallenden Gegenstand verwirrt wird, merken wir, dass unsere schöne Selbsttäuschung leider nur Selbsttäuschung war. Oder?

Ein anderes Beispiel für den Unterschied zwischen dem, was man vermeintlich sieht und dem, was sich wirklich dahinter verbirgt, sind Häuser. Es gibt doch dieses wunderschöne Gefühl, wenn man das erste Mal in einer fremden Wohnung – umso größer, umso besser – herumschnüffeln darf. Der erste Gedanke, der sich mir immer stellt, geht nicht nach der Einrichtung oder den Bewohnern. Ich will zu aller erst wissen, ob die Wohnung von innen größer ist als von außen. Mein Orientierungssinn ist eigentlich ganz gut, und ich gehe dann durch die fremde Wohnung und versuche herauszubekommen, wie sich die Zimmer zueinander anordnen. Welche Wand eine Außenwand ist oder an ein anderes Zimmer grenzt. Welche Tür wohin führt. Ob Türen von der einen Seite offen, von der anderen Seite vielleicht zugestellt sind. Welche Wände neu gesetzt, welche Fenster zugemauert worden sind. Ab und an klopfe ich auch einmal an eine Wand oder versuche durch Fühlen herauszubekommen, ob eine Wand kälter (und damit eine Außenwand) oder wärmer (und damit wohl eine Innenwand) ist. Wie laufen die Rohre? Wo ist der Kamin? Fehlt ein Stück, z.B. durch das Zumauern eines Speisekammer oder weil eine kleine Ausbuchtung noch zur Nachbarswohnung gehört? Und dann die wichtige Frage: Passt diese Wohnung überhaupt in das Haus, das man von außen sehen kann? Oftmals bin ich überrascht, weil ich von außen niemals vermutet hätte, dass eine Wohnung dieser Größe und/oder dieses Zuschnitts in dieses Haus passt. Ich bin immer wieder überrascht, wie leicht ich mich doch von meiner Einschätzung täuschen lassen.

Oder der Widerspruch zwischen einer Fassade und einer Wohnung. Viele hässliche Fassaden verbergen hinter ihren Wänden wunderschöne alte Wohnungen mit hohen Decken und lichten hohen Fenstern. Andere moderne Fassaden sind dafür nur das Gehäuse für kleine Beton-Schuhschachteln, in denen gelangweilte Menschen gelangweilte Wohnungen einrichten. Häuser müssen Leben haben, einen eigenen Stil, der sich vielleicht eher im Widerspruch ausdrückt als in der uniformen Gleichheit von Beton. Ich bin immer noch neugierig und versuche herauszubekommen, was es eigentlich ist, das mich an Häusern abstößt oder fasziniert.

Tore sind auch so ein Problem. Wenn ein Haus eine Tür hat, dann ist es schon interessiert. Nein, kein Eingang, eine echte Tür. Halt einen Gegenstand, der etwas mit dem Haus und seiner Geschichte zu tun hat. Schmiedeeisern oder aus Holz, oder vielleicht sieht sie so aus, als wäre hier irgendwann mal ein Lastwagen durch die Straße gefahren und hätte vor jedem Haus eine Tür abgeladen, die man dann hätte einbauen müssen. Viele neue Wohnsiedlungen sehen so aus. Ein abschreckendes Beispiel ist die Wohnsiedlung in Berlin-Marzahn. Dort hat man bunte Figuren, z.B. aus Märchen oder Singvögel, an die Türen gemalt, damit die kleinen Kinder überhaupt in der Lage sind, ihre eigene Wohnung wiederzufinden. Nun, ich bin kein kleines Kind und mein Orientierungssinn ist eigentlich ganz gut. Aber schon ich hatte Schwierigkeiten herauszubekommen, wo ich mich zum Teufel gerade befinde und wie ich zum anvisierten Ziel komme.

Türen sind eine Art kleine Pforte, Tore sind ihre große Version, sozusagen ein Onkel der Türen. Ein Tor kann eine Menge verbergen weil man durch ein geöffnetes Tor (im Gegensatz zu einer geöffneten Tür) einen weiten Blick auf das hat, was sich hinter dem Durchgang verbirgt. Ich habe schon Tore erlebt, die den Blick öffneten auf einen Innenhof, in dem eine Kirche stand. Oder Tore, durch die man in einen zweiten und sogar dritten Hof blicken kann. Tore, die auf Mauern führen. Tore, die sich nicht öffnen lassen und mich zwingen, meine Phantasie spielen zu lassen um herauszufinden, was sich dahinter verbergen mag.

Tore, hinter denen alte Autos verrosten. Tore, in deren Durchfahrten ein Traktor samt Anhänger voll Heu steht. Tore, wo im Torgang Kinder auf dem Boden spielen. Tore, die in einen dunklen Gang führen, von dem rechts und links kleine Treppen in die Wohnhäuser abgehen. Burgtore nicht zu vergessen, die hinter einem zuklappen und einen in einem vergangenen Jahrhundert einschließen, so wie eine Mücke im Bernstein eingeschlossen ist.

 

Wieder ein Stapel Texte anstatt eines täglichen Eintrages. Ich weiß nicht, woran das liegt. Gibt es Themen, die mich so beschäftigen, dass es einfach unmöglich ist, sie an einem Tag zu bearbeiten? Sozusagen Wortberge, deren Abarbeitung mich innerhalb von einer Frist von Sonnenaufgang zu Sonnenaufgang schier überarbeiten würde?

Heißt das nicht auch im Wechselschluss, dass es Themen gibt, die man in weniger als einer Stunde beschreiben kann. Kleine, sauber verpackte Themenkomplexe, die sich mir nichts dir nichts abarbeiten lassen. Vielleicht ist das auch von Lebewesen zu Lebewesen unterschiedlich. Vielleicht gibt es ja Menschen, die alles, was es über ihr Verhältnis zum Tod zu sagen gibt, in weniger als zehn Minuten zu Papier bringen können. Ich gehöre nicht dazu.

Etwas, was mich auch immer wieder beschäftigt hat, ist – neben der Frage von Leben und Sterben – die Poesie von Zügen und Schiffen. Schiffe sind so ein süßer, in sich geschlossener Mikrokosmos, ähnlich wie Züge. Nur ist im Gegensatz zur Fahrt auf oder besser in einem Schiff der Zug mit der Landschaft verbunden, durch die er fährt. Das Schiff verändert seine Position meist nur von einer Wasserfläche zu einer anderen Wasserfläche, während der Zug wirklich durch Landschaften führt. Nun gut, ich gebe zu, ich bin noch nie in meinem Leben mit einem Schiff Kanäle entlang gefahren. Vielleicht ist dies ein Element von Wahrnehmung, das der Fahrt in einem Zug gleicht. Der Zug dann sozusagen als aufs Land verlegte Variante des Kanals.

Züge bewegen sich auf Linien, die man nicht verlassen kann. Sie sind keine Pfeile, die von der Bahn abweichen könnten, sondern eher Murmeln auf einer Murmelbahn, die immer schneller werdend auf ihr Ziel zurollen.

Zurück zu meinem Leben. Ich glaube zwar nicht wirklich, dass man über mich mehr schreiben kann als über Züge oder ähnliche Themen. Aber bei meinem Leben bin ich wenigstens sachverständig.

Ich erreichte also nach der Förderstufe relativ problemlos das Gymnasium. Wir hatten drei Fächer in Kursen (Mathematik, Deutsch und Englisch), und mit drei Wertungen „A“ war mein Einzug in die oberste Klasse der Schulen gewährleistet. Für mich veränderte sich nur das Gebäude, die Schule blieb gleich. Das Wegbrechen von zwei Dritteln meiner Schulklasse empfand ich als weniger schrecklich, als ich das Zerbrechen meiner Grundschulklasse gefunden hatte. Wahrscheinlich, weil man sich doch ab und an auf dem Schulhof oder in dem Jahrgangs-übergreifenden Sportunterricht traf.

Neben der Schule begannen andere Dinge mein Leben zu füllen. In den Zeiten des Wahlkampfes wurde dies mehr und mehr das Engagement meines Vaters in der Politik. Es gibt nichts schlimmeres, als widerliche Familienbilder in Wahlkampfbroschüren wiederzufinden. Ein Vater wird sehr stark übermächtig für Kinder, wenn die Kinder ihn an jedem dritten Laternenpfahl sehen können. Als Bild versteht sich. Diese Fotos kann ich mir heute nur noch mit großem Widerwillen anschauen. Ich erinnere mich ungern daran, wie hölzern und konstruiert mir diese Fotosessions erschienen. Lieb mussten wir aussehen, gut angezogen mussten wir aussehen, und von den Bildern geht eine Dynamik aus, die wahrscheinlich Leistungssportler sofort in den Schlaf versetzen kann.

Knapp dahinter auf Platz zwei war das sonntägliche Austragen von Wahlkampfunterlagen. Wir hatten ein Gebiet mit Faltblättern zu versorgen, und waren damit sicherlich einige Stunden beschäftigt. Da dies sonntagmorgens passieren sollte, bevor die Leute zum Frühstücken kamen, mussten wir früh aufstehen und den Plunder mehrere Wochen lang jeden Sonntag in die Briefkästen stopfen. Und für einen Zwölfjährigen ist es schon ziemlich grässlich, wenn er bei jedem Wetter mit Bergen von Zetteln an der Schulter von Straßenzug zu Straßenzug marschieren muss. Wenn es dann noch große Hunde gibt, die einen anbellen, und ältere Trinker, die einen nach der Bild fragen, dann ist der Tag sowieso gelaufen.

Für mich hieß es dann schnell frühstücken und mich wieder in die Kirche begeben. Ich hatte eine obskure Liebe zum Kindergottesdienst entwickelt und arbeitete bald selber als Helfer oder Betreuer mit. Christliche Jugendarbeit hat mir immer Spaß gemacht, und so kann ich heute im Rückblick auch mein Engagement im Kindergottesdienst verstehen.

Auf Dauer war es aber schon schrecklich. Oftmals musste ich theologische Positionen den Kindern nahebringen, die ich selber für völlig hanebüchen halte. Interessant war dies nur, wenn ich dabei etwas über das Leben der Menschen im sogenannten heiligen Land erfahren konnte („sogenannt“, weil ich nicht glauben kann, dass ein einfaches Land heilig sein soll). Da gab es dann wunderschöne Zeichnungen von den Häusern oder Bilder von den Menschen in ihrer damaligen Kleidung. Das hat mich fasziniert. Irgendwann stellte ich leider fest, dass die wenigsten Menschen, die sich selber als Christen bezeichnen, die Bibel komplett gelesen haben. Also besorgte ich mir eine Bibel und begann jeden Abend zwei Seiten aus der Bibel zu lesen. Und als ich damit fertig war, besorgte ich mir eine andere Übersetzung und trieb dasselbe Spiel noch einmal von vorne bis hinten. Heute hilft mir das sehr viel weiter, wenn ich auf der Straße oder an der Haustür von irgendwelchen christlichen Predigern angesprochen werde. Ich habe immer wieder dieselbe Standardfrage gestellt: „Haben Sie die Bibel komplett gelesen?“ Bis jetzt erhielt ich jedes Mal die Antwort „Nein“. Und dann kamen dann Begründungen. So hatten viele die Bibel in Form von Tageslosungen oder Wochensprüchen studiert, und der eine oder andere hatte sogar mal ein komplettes Evangelium gelesen. Aber niemand kannte sie komplett. Dann konnte ich immer wieder schön sagen, dass ich sie ja komplett gelesen habe und zu diskutieren bereit sei, wenn sie sie auch gelesen hätten.

Im Nachhinein erscheint mir mein christliches Engagement zumindest als fragwürdig. Besonders heute überrascht es mich im Rückblick, dass ich es über einige Jahre fertig gebracht haben soll, am Wochenende Kindergottesdienst zu machen und unter der Woche einmal zu der sozialistischen Jugend Deutschlands (den Falken) zu gehen.

 

Religion oder einfach nur Glauben war schon immer eine knifflige Frage für mich. Nicht nur im Widerstreit zwischen meinem politischen Engagement (so lächerlich das auch für einen Jungen von 13 oder 14 auch gewesen sein mag) und meinen religiösen Tendenzen (die in diesem Alter genauso lächerlich waren) ist mir das aufgefallen, auch immer wieder in meinem späteren Leben stand ich auf einmal vor jener nicht wahrnehmbaren Schranke, die mir irgendwie klarmachte, dass ich jetzt glaube und der mir gegenüber nicht. Ich weiß nicht, wie es in Worten ausdrücken oder gar noch schreiben soll. Reden ist soviel einfacher als schreiben. Wenn man etwas gesagt hat, was man nicht so gemeint hat, dann kann man es dementieren oder einfach behaupten, man wäre falsch verstanden worden. Und wenn man dann noch eine gute alternative Bedeutung des Satzes zum Besten geben kann, dann ist man fast schon gerettet. Anders ist das beim Schreiben, weil man hier „schwarz auf weiß“ arbeitet und sich nachher nicht mehr korrigieren kann.

Ich bin also konfirmiert worden. Die Bilder zeigen mich in der letzten Reihe zwischen lauter ebenso muffig schauenden Gestalten auf der Treppe des Gemeindehauses. Ich bin bereit Stein und Bein zu schwören, dass die wenigsten von denen an Konfirmation denn eher an die neue Stereoanlage oder ähnliches dachten. Mir erging es nicht anders, ich träumte von einem fahrbaren Untersatz auf zwei Rädern.

Naja, ich war damals 14 Jahre, und ich hatte schon einiges von der Welt gesehen. London. Na, immerhin, eine Entschädigung für viele andere Dinge und sicherlich die Phantasie anregend. Ich hatte eine Menge Texte über Glaubensdinge gelesen und viel nachgedacht. Einen eigenen Geschmack hatte ich entwickelt, besonders was Essen betraf. Nicht, dass dieser sich dann noch groß verändert hätte, nein. Aber ich hatte ihn entwickelt und blieb dann – zumindest bis heute – bei Dingen wie Spaghettieis, Kotelett mit Erbsen und Möhren und Reibekuchen mit Apfelmus. Nein, ich bin sicherlich nicht überzeugt, dass das kulinarische Kostbarkeiten sind. Aber ich hatte mir darüber Gedanken gemacht, was mir schmeckt. Und ich hatte mich für einen Geschmack entschieden und den fest gemacht. Irgendwie war das einer der sicheren Pfähle, die ich in meiner Jugend in den Boden gehauen habe, und um die herum ich meine Existenz gesichert habe.

Ich kam ja auch langsam in die Pubertät. Und während andere über das Geheimnis von Frauen nachdenken, las ich in der Bibel oder im „Buch Mormon“. Nicht, dass mir letzteres im Rückblick besser gefallen hätte als die Frauen. Nein, aber es lag da halt herum und erforderte weniger Arbeit als das Reden mit Menschen.

Später, als ich dann feststellte, dass es neben dem Aufklärungsunterricht in der Schule und den geröteten Gesichtern meiner Schulfreunde beim Erzählen von „schmutzigen“ Geschichten mehr über Sex zu erfahren gibt, bin ich in den Buchladen gegangen und habe mir ein vernünftiges Aufklärungsbuch gekauft. Bis heute halte ich das für die vernünftigste Einstellung. Keiner fand die Idee vorher gut, und alle hielten mich vor meinem Gang zum Buchladen für wahnsinnig. Ich wurde nicht verhaftet, und nachher haben sich ca. zwanzig Personen das Buch geliehen. Nur um mal zu schauen, was da drin steht ...

 

Eines der unvermeidlichen Abenteuer, das man mit sechzehn Jahren anfangen kann, ist der Tanzkurz. Ich machte hier keine Ausnahme. Mit einem Schulfreund zusammen, der sich hatte überreden lassen, mit mir tanzen zu gehen, machten wir uns auf den Weg. Die Tanzschule lag etwas am östlichen Rand der Innenstadt. Nun, um der Wahrheit die Ehre zu geben war es eigentlich das drittletzte Haus vor dem Wald, aber östlicher Rand der Innenstadt klingt halt irgendwie schon ziviler.

Die Tanzschule war ein wunderschönes altes Haus, in das wir uns ohne große Schwierigkeiten hineinfanden. Die Regeln waren hier noch alt hergebracht – keine Jeans. Und die Existenz eines Hemdes war auch Pflicht.

Wir zwei – also mein Schulfreund und ich – hatten natürlich keine Freundinnen dabei, und von daher mussten wir versuchen, irgendjemand kennenzulernen. Das war leider nicht so einfach, wie es hier klingen mag. Lernen sie mal jemanden kennen, wenn sie gerade dabei sind, darauf aufzupassen, dass ihre Füße die richtigen Schritte machen. Wenn ich den Schwachkopf in die Finger kriege, der mal behauptet haben soll, dass man beim Tanzen gut Leute kennenlernen kann. Alles Humbug. Man lernt Füße kennen und Hinterköpfe. Hinterköpfe deswegen, weil ich groß bin und daher den Damen immer auf den Hinterkopf schauen konnte – die schauten nämlich auch nach den Füßen, und wendeten daher den Blick nach unten.

Die Tanzstunden habe ich ganz gut überstanden. Es waren eine Menge Standardtänze dabei, die eigentlich ganz einfach gehen, wenn man einmal den „Trick“ heraushat, wohin die Füße gehören. Ganz nett war auch, dass neben der Tanzstunde noch sonntags eine Art „Tanztee“ angeboten wurde. Dies war ein nachmittäglicher Tanztreff für jedermann, in den ich mich einige Male verirrte. Verirren ist wirklich das richtige Wort, denn ich bin kein guter Tänzer und wusste überhaupt nicht, was ich dort sollte. Sieht man einmal von den Mädchen ab, die man dort treffen konnte.

Nun, den Anfänger-Kurs brachte ich gut hinter mich, und wenn ich auch beim Abschlussball beinahe ins Publikum gefallen wäre, so war es doch für alle Beteiligten zumindestens erheiternd. Ich habe mich dann aus irgendwelchen Gründen zu einem Fortgeschrittenen-Kurs hinreißen lassen. Wahrscheinlich wegen meiner hübschen Tanzpartnerin. Zumindest behauptet das meine Mutter. Aber bei diesem Kurs habe ich es nicht bis zum Abschlussball gebracht. Ich hatte wohl zu viel Angst, wieder beinahe ins Publikum zu fallen. Dabei lag es nur an meinen neuen Ledersohlen, ehrlich. Nun, für mich war der Gesellschaftstanz daher bis heute gestorben.

 

Mit 16 Jahren war ich dann auch das erste Mal für längere Zeit (drei Wochen) in England. Nun, das Land und die Sprache hatten mich schon früher begeistert. Jetzt kamen zwei weitere Faktoren hinzu, die mir diese Reise unvergesslich machen sollten. Der erste Faktor war das zusammenkommen meines Alters mit dem Mitfahren einiger schöner Frauen. Nun, ich hatte inzwischen – nicht zuletzt dank dem genannten gekauften Buch – herausbekommen, was der Unterschied zwischen Frauen und Männern ist. Nun, für die Liebe gilt ähnliches wie für das Spiel Go – „Five minutes to learn, a lifetime to master!“. Die ersten – wenn auch sicherlich ausgesprochen zaghaften und plumpen – Versuche durfte ich auf dieser Fahrt unternehmen. Ich habe also meinen Charme zusammengekratzt, meine sauberen Hemden aus dem Koffer gezogen und war bestimmt schrecklich nervend. Was würden sie von einem spätpubertären Jungen erwarten, der seine ganzen Kenntnisse über Liebe aus Büchern gezogen hat? Nichts. Richtig. Glücklicherweise konnte ich viel reden und bin auch nicht allzu hässlich, von daher musste irgendwann mal irgendjemand Interesse an mir bekunden. Und wenn man drei Wochen lang in derselben Gemeinde untergebracht ist, sozusagen als Fremder unter Fremden, kann man eine Annäherung nicht vermeiden. Und glücklicherweise war keiner so bösartig, dass er mich wegen meiner Blödheit in den Arm gebissen hätte. Also: Ich habe geflirtet, und ich habe dabei kein Auge oder Arm verloren. Das machte mir Mut, es in der Zukunft weiter zu versuchen. Zum Glück, wer weiß, was sonst geworden wäre.

Die andere – wichtigere – Erfahrung war für mich jedoch die Besichtigung einiger englischer Kirchen. Ich weiß nicht wieso, aber große Kirchen, oder ehrlicher: Kathedralen lassen mir kalte Schauer über den Rücken laufen. Ich besichtige sie, laufe an ihren Wänden entlang, berühre die Ornamente und streiche mit den Fingern durch die Fugen. Ich sitze in den Holzbänken, lege den Kopf in den Nacken und schaue mir die Deckengemälde an. Oder ich blicke einfach nur durch die bunten Glasfenster und beobachte, wie das Licht über die verschiedenen Farben spielt und hunderte von Reflexen an die Wände zaubert.

Oftmals versuche ich auch einfach nur, die Symbole zu entschlüsseln. Jahre später war ich schon Co-Betreuer bei einer dieser Reisen, und da ein Übersetzer fehlte habe ich die englische Führung für einen Teil der Gruppe übersetzt. Nun gut, ich habe natürlich auch nicht alles verstanden, was der Führer sagte. Das lag aber nicht nur an meinem fehlenden Fach-Englisch, sondern auch daran, dass der Mann einfach zu weit weg stand. Also habe ich wild improvisiert und eine Menge Geschichten über die Kirche erfunden. Leider bin ich später damit aufgeflogen ...

Nun, in dieser Kirche fand ich auf jeden Fall etwas wieder, was ich jahrelang verloren geglaubt hatte. Ich hatte es gesucht, aber nicht gefunden. Als ich in der Bank saß, und ganz verzückt auf das große Fenster hinter dem Altar schaute, sah ich es wieder. Das weiße Licht. Und auf einmal war mir wieder klar, dass ich mir keine Sorgen machen müssen. Irgendwas würde meinem Leben einen Sinn geben.


 

Fragment II

 

Hallo Salamander,

 

nicht wundern – es folgt Teil II jenes Rückblicks auf mein Leben, der zehn Jahre lang unbearbeitet herumlag. Wie bei Teil I gilt: Du darfst überspringen, was dich nicht interessiert. Wie immer.

 

Dein Homo Magi

 

Von meiner 11. Klasse gibt es noch ein Foto. Wir sind 27. Dreizehn Jahre später, auf meinem Treffen zur Feier des zehnjährigen Abiturs, war schon einer Tod. Autounfall. Aus der Jahrgangsstufe war ebenso eine andere Frau verstorben. Autounfall. Ein Teil ist verschollen. Venezuela, USA, Naher Osten. Einige sind zwar noch am Leben, und auch ihre Adressen sind bekannt. Aber an Kontakt hatten sie wohl kein Interesse. Einige wenige kamen.

Bei meinen Lehrern sieht es nicht viel besser aus. Ein Klassenlehrer ist an einem Wurstbrot erstickt, einer an AIDS gestorben. Der erste AIDS Fall, der mich wirklich selber betroffen hat. Okay, Klaus Nomi habe ich bewusst mitbekommen und auch das erste Mal begriffen, dass es eine tödliche Krankheit gibt, die nicht heilbar zu sein scheint. Aber anfangs – sogar über den Tod von Klaus Nomi hinaus – dachte ich, es würde nur Schwule treffen und ich hätte keine Schwulen in meinem Bekanntenkreis. Einen Lehrer zu verlieren, den ich sehr geschätzt habe, war für mich sehr schwer. Es ging gar nicht darum, dass er schwul war. Das habe ich während der Oberstufe nicht mitbekommen – obwohl natürlich jeder nachher behauptet hat, er hätte etwas geahnt. Es ging um das Eindringen des Todes in meinen Bekanntenkreis. Und da hatte ich bis zuletzt gehofft, dass ich davon verschont bleiben würde. Alte Tanten trägt man zu Grabe, ab und an auch mal einen Großonkel. Aber nicht Lehrer und Mitschüler.

Ich sehe auf dem Klassenfoto nebenbei bescheuert aus. Blass, kurze Haare und daher abstehende Ohren und einen schlecht sitzenden Pullover am Körper.

Irgendwie war ich nicht der hübscheste sechzehnjährige, den man sich vorstellen kann. Trotzdem begann ich dann doch damit, mich dem anderen Geschlecht zu nähern. Dieses Mal sogar mit Erfolg. Nun, meine Mutter teilte mir irgendwann beim Bügeln mit, dass die Mutter meiner Flamme mit ihr über mich gesprochen habe. Ich weiß nicht, aber ich glaube auch heute noch, dass das sicherlich der Tag in meinem Leben war, an dem mein Gesicht den rötesten Farbton angenommen hatte, den es jemals hatte.

 

Mein weiteres Leben in der Schule (nun bald auch als Oberschüler) plätscherte so dahin. Dort tat sich wenig Herausragendes für meine Person. Nun, die Schule war nett und sicherlich hoch unterhaltsam, aber irgendwie schaffte sie es nicht, ihrem eigenen Ansatz zu genügen und mir wirklich Dinge für das Leben mitzugeben. Ich habe eine Menge Sachen gelernt, aber die sicherlich mehr nebenher. Die Schulzeit war für mich eine günstige Gelegenheit, viel zu lesen. Zum Teil las ich die Bücher auf dem Weg zur Schule, teilweise in den Pausen oder sogar in den Stunden. In der Oberstufe hatte ich einen Mathe-Lehrer, der es mir erlaubte, während der Stunden zu lesen, solange ich damit einverstanden war, dass es einen Abzug auf meine mündliche Note geben würde. Ich war damit einverstanden und habe damit einige sehr ruhige Stunden in einem Raum voller schwitzender Klassenkameraden verbracht.

In diese Jahre fällt auch mein einziger Besuch in einer Fastnachtssitzung. Mein Vater hatte für seinen Wahlkampf netterweise beschlossen, alle Fastnachtssitzungen zu besuchen. Und das bedeutete unter anderem, dass er sich eine Sitzung bis zu zehnmal anschauen musste. Meine Mutter marschierte heldenhaft immer mit, aber irgendwann war die Sache an meinem Bruder und mir hängengeblieben. Wir verabredeten also, dass wir in der Pause tauschen wollten. Ich hielt heroisch die erste Hälfte des Programmes durch und sehnte mich voller Inbrunst nach der Pause zur Programmhälfte. Als ich dann mich von meinem Vater verabschiedet und den Gang zum Ausgang entlanggelaufen war, sah ich meinen Bruder schon fast kalkweiß an einer Wand lehnen. Er hatte, da er früher gekommen war, die letzten zehn Minuten des Programms miterleben dürfen und wusste nun, was weitere neunzig Minuten oder so auf ihn zukommen würde. Ich hingegen hatte meinen Anteil schon hinter mir und konnte mich voller Ruhe auf den Heimweg machen. Er war nicht begeistert, und dass er nicht auf die Knie fiel, um von mir weitere Minuten der Schonung zu erbetteln, war alles. Aber ich blieb natürlich hart, weil unter einer solchen Drohung wie einer Karnevalssitzung sollte man nicht nachgeben.

Mein Geburtstag ist zwar der Rosenmontag, aber das hat in mir keine Prägung hervorgerufen. Ich finde die Kostüme ganz nett und einen Teil der Reden, solange sie wirklich frech und keck sind, auch ganz unterhaltsam. Aber die normale Fastnacht langweilt mich zu Tode. Ich verstehe einfach nicht, warum normale Menschen ein paar Tage im Jahr brauchen, an denen sich sie besaufen und rumhuren können, damit sie den Rest des Jahres wieder ganz normal ihr Leben ertragen. Sozusagen ein Ventil in einer vorgegebenen Zeitspanne. Nun, mir erschien es immer etwas widersinnig, dass mir ein Kalender vorschreibt, wann ich närrisch sein darf. Ich bin närrisch wann es mir passt, und nicht dann, wenn der Karneval es vorschreibt.

Meine Vorliebe für Karnevalslieder ist ein anders Problem. Ich mag einfach schlechte Musik, und Karnevalsmusik gehört nun sicherlich dazu. Humba Humba und Ernst Neger sind für mich halt Stimmungskanonen. „Mir wachen durch bis Morgen früh ...“

 

Zelten war noch nie eine besondere Vorliebe von mir. Ich finde es toll, wenn man irgendwann tagsüber in einem Zelt sitzen kann. Draußen ist es schön warm, vielleicht hat man Glück und der Wind spielt um die Planen und alles ist hell und duftend. Doch wenn der Abend kommt, und man liegt wohlbehütet im Zelt, wird es sicherlich erstens kalt und zweitens nass. Ich weiß leider auch nicht, woran das liegt. Es scheint eine Art Fluch zu sein, der auf dem Zelt und seiner Einrichtung liegt. Tagsüber ist es warm und trocken, nachts ist es feucht und kalt.

Als Jugendlicher war ich dann auch, sogar noch zu meiner Schulzeit Betreuer für ein Zeltlager. Ich habe das einmal gemacht, nicht öfters. Tagsüber hatten wir viel zu tun, und die Kinder waren auch immer beschäftigt. Die einen holten Feuerholz, die anderen machten bei irgendwelchen Spielen mit oder beschäftigten sich mit der Vor- oder Nachbereitung der Mahlzeit. Doch nachts lagen alle Kinder mit ihren Betreuern im Zelt, und alle Kinder hatten Angst und wollten nicht schlafen. Und der Betreuer wollte natürlich – zumindest soweit es sich dabei um mich handelte – schlafen. Und das konnte man erst, wenn das letzte Kind eingeschlafen war, und das konnte man nur, bis das erste Kind aufgewacht war. Kein sehr angenehmer Zustand.

Ich bin sowieso kein sehr guter Schläfer gewesen. Eine Zeit lang gaben mich meine Eltern in psychologische Betreuung, weil ich ihnen zu unruhig schlief. Nun, dies ist ein verständliches Problem bei Jugendlichen. Ich hatte einfach Angst vor dem Einschlafen. Abends lag ich dann im Bett und stellte mir den Wecker immer so ein, dass er in zehn Minuten angehen würde. Dann wartete ich darauf, dass ich einschlafen würde und hoffte darauf, dass die Gewissheit, dass der Wecker mich wieder wecken würde, meine Angst vor dem Schlafen überlisten könnte. Meistens hat es nicht geklappt, und ich lag dann bis zwei oder drei Uhr wach. Ab und an hatte ich Glück, und irgendjemand im Haus war noch wach und beschäftigte sich mit mir. Als ich ein kleines Kind war, war dies des Öfteren mein Vater, der mit mir Schach spielte oder zumindestens mit mir sprach. Doch später meinte meine Mutter, es sei nicht gut für mich, wenn ich mich jeden Abend spät mit meinem Vater unterhielt. Sie unterband das, und nun lag ich alleine im Bett und konnte nur darauf hoffen, dass ich durch Heulen oder Schluchzen irgendjemand an mein Bett bekam. Meistens war es hoffnungslos.

Wenn der Trick mit dem Wecker nicht funktionierte, dann weigerte ich mich einfach einzuschlafen. Oftmals war es dann reine Erschöpfung, die mich einschlafen ließ. Manchmal habe ich mich auch einfach in den Schlaf geweint. Und viele Male lang hatte ich das Gefühl, ich hätte überhaupt nicht geschlafen.

Ich weiß auch nicht, was es war, dass mich dann wirklich am Schlafen gehindert hat. Ich glaube, dass es das Gefühl war, nicht Herr meines Schlafes zu sein. Schlaf überkommt einen einfach, ohne dass man etwas dagegen tun kann. Er ist da, und man selber ist zwar noch als Körper am Leben, aber ohne einen wachen Geist. Eine Art von kleinem Tod im Schlaf. Und davor hatte ich Angst. Leider hat es keiner verstanden.

Irgendwann ging es dann weg. Meine Angst vor dem Schlaf verschwand nicht, aber meine Angst vor dem Tod verschwand. Seitdem schlafe ich ein, wenn ich mich hinlege, und schlafe durch wie ein Stein. Nur einmal im Jahr erinnere ich mich meiner durchwachten Nächte und bleibe lange wach, ohne einschlafen zu können. Doch meistens klappt es, und ich hoffe, dass es auch weiterhin so bleiben wird.

 

Später, in der Oberstufe, hatte ich dann kurzfristig das Gefühl, mein Leben in der Hand zu haben und wirklich kontrollieren zu können, was mit mir passiert. Meine Mitschülerinnen und Mitschüler sprachen mit mir, ich hatte gute Noten und eigentlich das Gefühl, gut integriert zu sein.

Aber ich war zu sehr Schalk, um wirklich „Teil der Masse“ zu sein. Einmal hielt ich mit einem guten Freund zusammen ein Seminar über eine christliche Sekte, die wir erfunden hatten – die „Eicherüben“ nach dem Anagramm für die Bücherei, in der wir immer unsere Pausen verbrachten. Die Bücherei war der Ort zur Verwaltung der Buchbestände der Schule, und er wurde von freiwilligen Schülern verwaltet. Dies hatte den Vorteil, dass man von dort aus immer gut überblicken konnte, was an Büchern im nächsten Schuljahr auf einen zukam. Und man wusste auch immer eine gute Ausrede, wenn man sich aus dem Unterricht abseilen wollte. Nichts überzeugt einen Lehrer so sehr wie die Auskunft, man wolle ihm freiwillig Arbeit ersparen gehen. Ein letzter wichtiger Punkt für die Existenz der Bibliothek bzw. für meine Mitarbeit bei ihr war der Abfalleimer vor der Bücherei. Im Nachbarraum stand nämlich der Spiritus-Umdrucker, auf dem manche Lehrer immer noch ihre Arbeiten herstellten. Danach warfen sie die Wachsmatrize in den Mülleimer und verschwanden glücklich mit ihren nach Spiritus riechenden Klassenarbeiten. Wir nahmen uns ein sauberes Blatt, legten die Matrize darauf und lasen in aller Gemütsruhe die Texte für die folgende Klausur. Wenn wir Glück hatten, kannten wir jemanden, der bei der Arbeit mitschreiben sollte oder waren selber betroffen. Wenn wir Pech hatten, konnten wir niemandem behilflich sein. Wir hatten aber oft Glück.

Eine andere Betätigung war die Schülerzeitung. Ich weiß nicht mehr ganz genau, wie ich dazu kam, für die Schülerzeitung zu schreiben. Ich vermute einfach mal, dass mein Bruder schuld war. Der arbeitete nämlich bei der anderen Schülerzeitung der Schule mit, und da habe ich dann ab und an ein paar Zeilen für geschrieben. Und irgendwann lernte man die andere Redaktion kennen, und ich fing dann an, für die zu arbeiten. War auch viel lukrativer, die hatten ein eigenes Zimmer. Oder vielleicht war es auch ganz anders. Wir haben inzwischen so oft über diese Zeitung gesprochen, dass ich gar nicht mehr weiß, was damals eigentlich passiert ist.

Sie hieß „Chaos“ und hatte ein Redaktionszimmer. Dort standen ein Kühlschrank, ein Regal mit alten Ausgaben und „Recherchenmaterial“, ein Tisch mit Stühlen und eine Korkwand, auf die man sehr gut mit einem bereitliegenden Spachtel werfen konnte. Unter der Korkwand lag eine Matratzenflut, in der man sich – so man Gelegenheit und Charme dazu hatte – mit diversen Damen vergnügen konnte.

 

Ich weiß auch nicht mehr, was an der Schülerzeitung so toll war, dass ich einige der Mitarbeiter noch heute, immerhin über zehn Jahre später noch treffe. Einmal war es natürlich die gemeinsame Schulzeit, die im Rückblick immer verklärt wird. Zum anderen waren es auch die gemeinsamen Interessen. Und das war mehr als die einfache Formel „Mädel und Alkohol“. Man las dieselben Bücher, obskurerweise sogar aus demselben Genre, nämlich aus dem weiten Bereich der Phantastik – mag es nun Fantasy oder gar Science Fiction gewesen sein, man war nicht mehr alleine. Dann waren es dieselben Spiele. Wir haben Wochenenden damit verbracht, bei einem der Mitarbeiter im elterlichen Keller zu sitzen und stundenlang Rollenspiele zu machen. Was anfing wie ein nettes kleines Einzelspiel wurde im Lauf der Monate und Jahre zu einer Aktenordner füllenden Flut von Unterlagen samt ausgearbeiteten Sonderregeln und Zeichnungen. Wir hatten also einfach etwas, was uns über die Schule hinaus verband.

Und wir waren alle irgendwie Ausgestoßene. Sicherlich würden meine Kameraden von heute das wild leugnen, und auch ich würde mich in jeder Diskussion weigern, das Wort Ausgestoßene hier stehen zu lassen. Aber ich fühlte mich verstoßen und wiedergefunden, aufgenommen und angenommen. Hier hatte ich eine Runde von Schwachköpfen entdeckt, die genauso schwachköpfig war wie ich. Und wir publizierten.

Sicherlich ist eine Schülerzeitung nicht das ideale Instrument, um damit einen Meinungsumschwung in der Bevölkerung hervorzurufen. Aber wir hatten unseren Spaß, und unsere Leser auch. Und manchmal haben wir es sogar geschafft, Dinge gemeinsam zu tun, die wir ohne die Zeitung nicht hätten machen können. Zwei Dinge sind mir noch lebhaft im Gedächtnis. Im einen Fall war der Neubau eines Schulgebäudes fertig geworden, aber noch nicht eröffnet. Und wir wussten, dass dieses Gebäude wesentlich größer geplant worden war, als es dann tatsächlich gebaut worden war. Das heute stehende Gebäude bildet auch weniger als die Hälfte des geplanten Baus. Da aber logischerweise Heizung etc. schon eingebaut werden mussten, und da niemand zwei halbe Heizungen bauen wird musste hier in diesem Gebäudeteil die Heizung für das ganze Gebäude stehen. Analog war das bei anderen Einrichtungsteilen, wie zum Beispiel den drei überdimensionierten Kaminen (die nicht umsonst zum heimlichen Symbol der Schule geworden sind) und der Wasserversorgung. Ich umrundete also den Neubau, machte einige Schätzungen wegen der Größe und sprach mit einem der Hausmeister. Flugs war der Artikel über Heizungsplanungen, verschwendete Steuergelder und megalomanische Schulneubauten verfasst. Der Direktor war wenig erfreut. Er, ein eher etwas aufbrausender Mensch, wollte dann doch zu gerne mal einige Worte mit mir reden. Ich aber nicht mit ihm.

Das andere Mal hatten wir einen der Lehrer im volltrunkenen Zustand dabei erwischt, wie er den Fußboden der Schule vollmalte. Nun gut, es war Schulfest, und viel passiert ist nicht. Aber wir wollten dann doch etwas dabei herausschlagen. Wir druckten also ein Sonderblatt der Zeitung mit einer Darstellung der ganzen Geschichte, ohne jedoch seinen Namen zu nennen. Dann zeigten wir ihm die Stapel von Papier, auf denen immer obenauf eine Kopie des Sonderblattes lag. Das ganze sah aus, als hätten wir dreitausend Kopien gemacht, obwohl wir aber nur fünf gemacht hatten. Vier davon lagen auf den Papierstapeln, das fünfte hatte er in der Hand. Wir erzählten scheinheilig, dass ein „Informant“ uns versprochen hätte, dass wir den Namen des Lehrers in der zweiten Nummer veröffentlichen könnten, wenn wir erst einmal groß Propaganda machen könnten. Der Lehrer, der nicht ahnte, dass wir genau wussten, dass er es gewesen war, wähnte sich umgeben von dreitausend Flugblättern, die seinen Untergang bedeutet hätten. Er handelte mit uns, er flehte uns an und gestand alles. Wir holten einen Kasten Bier heraus und gestanden ihm dann freimütig, dass wir sowieso nur eine Handvoll Zettel gemacht haben. Er zahlte trotzdem. Man soll sich ja auch nie gegen die geballte Macht der Presse stellen, selbst wenn diese nur aus einigen frühreifen Jungen besteht.

Ich stellte fest, dass ich mit hinter meinem Geschreibe verstecken konnte. Das Ausdrücken in schriftlicher Form lag mir. Ich spielte gerne mit Worten, mit Zusammenhängen oder Kombinationen. Und hier hatte ich ein Betätigungsfeld, welches mir wie ein unbesätes Feld vorkam. Alles war da, ich musste nur noch säen und auf die Ernte warten. Der Rest wurde organisiert. Natürlich war es am Anfang nicht so einfach für mich, einfach ein paar Worte aufs Papier zu bannen und diese dann zu veröffentlichen. Zum Glück versteckten wir uns eine Zeit lang hinter relativ lächerlichen Pseudonymen. Lächerlich deswegen, weil diese Pseudonyme dieselben Initialen hatten wie unsere echten Namen. Also konnte jeder, der uns kannte, oder auch diejenigen, die uns nicht kannten, aber die Realnamen im Impressum lesen konnten und sich einen Reim darauf machen konnten relativ leicht herausfinden, wer wohl wer war. Mein „Tarnname“ gefiel mir so gut, dass ich ihn über viele Jahre hinweg immer wieder verwendet habe. Er taucht in Geschichten von mir auf, ich habe diesen Namen als Mitspieler in einem Briefspiel getragen, ich war es einmal auf einer Faschingsparty (netterweise verfügte ich zufällig über die entsprechende Bekleidung), ich nannte mich oder andere Figuren im Rollenspiel so.

Normalerweise finde ich es lächerlich, wenn nicht gar lästig, wenn sich jemand hinter Pseudonymen versteckt. Es nimmt einem selber irgendwie doch die Ehrlichkeit, wenn man die Leute nicht mit seinem wahren Ich konfrontieren will. Irgendwie schreibt man hinter einer Maske. Als würde der normale Mensch, der ein Buch liest, durch die Innenstädte pilgern und nach Klingelschildern suchen, hinter denen sein Idol wohnen könnte. Und die meisten Pseudonyme werden doch irgendwann geknackt, wenn sie von Anfang nicht sowieso mehr eine nette Tarnung als ein echtes Pseudonym sind. Ich rede nicht von Künstlernamen, bittesehr! Wenn jemand einen ausgesprochen schrecklichen Namen sein eigen nennt oder aus Rücksicht auf seine Familie oder weiß Gott wen unter anderem Namen lebt und arbeitet, dann soll mir das Recht sein. Aber ich vermute ganz einfach mal, dass es mir am liebsten ist, im Restaurant mit demselben Namen angesprochen zu werden, den ich auch in meinem Ausweis stehen habe. Und der Name in meinem Ausweis sollte auch über oder unter den Texten stehen, die ich selber verfasse.

Das hat sicherlich auch etwas mit einem Schuss Eitelkeit zu tun. Sicherlich. Aber es sind mindestens zwei Schüsse Ehrlichkeit auf jeden Schuss Eitelkeit dabei.

 

Für mich waren diese Jahre der Oberstufe aber auch Jahre des Nachdenkens. Es gab auf einmal Debatten, welche die Schule spaltete. Es ging um Atomkraft, und ihre Gefahren. Sechzehnjährige können eigentlich schon ganz gut begreifen, was eine atomare Explosion bedeutet. Und es ist schon schlimm genug, wenn sie sich freiwillig Filme über Atombombenabwürfe und Strahlenopfer anschauen, um herauszufinden, was wirklich hinter der Hysterie um die Atomkraft steckt. Aber noch schlimmer ist es, wenn sie sich erst Sorgen machen, sich engagieren und versuchen herauszufinden, was eigentlich ihr eigener Weg in dieser Auseinandersetzung ist, um dann von „Erwachsenen“ zu erfahren, dass sie zu jung und/oder dumm sind, um die ganzen Zusammenhänge zu begreifen.

Die Zusammenhänge waren aber genau das, was auf einmal aus dem Ruder lief. Es gab die Bewegung gegen die Atomkraft, deren rote Sonnen auf gelbem Grund einem überall entgegen leuchteten. Es gab die Frage der Startbahn West, die gerade in Südhessen eine Menge Streit und Auseinandersetzung erzeugte. Und es gab die Frage der Nachrüstung und die damit verbundenen Menschenketten. Für mich waren die Menschenketten und die großen Demonstrationen das prägende Ereignis. Anfangs waren wir wenige, die sich in Friedensinitiativen trafen, um darüber nachzudenken, was eigentlich mit uns und unserer Welt geschieht. Wir wurden mehr und mehr. Im Laufe der Tage und Wochen wurden wir auch immer belesener, unsere Informationen wurden zuverlässiger, wir hantierten mit Zahlen von konventioneller und atomarer Rüstung wie andere mit PS-Werten auf Quartettkarten.

Und im Laufe der Zeit entstand eine gewisse Widerstandskultur. Eine Seite war, dass man gewisse Gesichter in der Masse erst wiedererkannte, dann identifizieren konnte. Wir waren eine eingeschworene Gemeinschaft, die immer mit denselben Bussen zu Demonstrationen fuhr. Wir lernten uns kennen, stritten uns, verliebten uns, mochten uns, hassten uns. Aber wir hatten ein gemeinsames Ziel. Die Abrüstung und die Verhinderung der Nachrüstung in Westdeutschland.

Viele Straßen sind mir noch im Gedächtnis, auf denen ich stand, Hand in Hand mit wildfremden Menschen, doch durch sie mit einer langen Kette verbunden, die sich buchstäblich von Horizont zu Horizont erstreckte. Viele schlammige Plätze würde ich vielleicht wiedererkennen, auf denen ich belegte Brötchen aß. Sogar der Messplatz meiner Heimatstadt ist mir im Gedächtnis, weil ich dort einem Konzert von friedensbewegten Liedermachern zugehört habe. Um mich herum der Geruch von Patschuli, Frauen in offenen Sandalen, Männer in Inka-Hemden oder handgestrickten Pullovern, Kinder in Tragetüchern, Teetassen und selbstgedrehte Zigaretten. Es war irgendwie ein neues Lebensgefühl, das auch auf mich übergriff. Nimm es leicht, die Erde geht vielleicht bald unter. Aber auch: wehre dich täglich und verteidige die wenigen Freiräume, in denen du dich wirklich engagieren willst. Und lerne zu erkennen, dass Autoritäten sich vom Sockel stoßen lassen, wenn du gut vorbereitet bist.

So ist die Organisation einer Veranstaltung mit einem überlebenden KZ-Häftling und einem ehemaligen Wehrmachts-Offizier an meiner Schule deswegen mir in so schlechter Erinnerung, weil die beiden sich von vergangenen Veranstaltungen kannten, sich als freundliche Zeitzeugen darstellten und überhaupt mehr nostalgische Erinnerungen austauschten als über Politik zu sprechen. Mein Freund Richard und ich waren die Diskussionsleiter, und wir hatten auf einmal keine Diskussion, die wir leiten konnten. Ich litt auf dem Podium, ich litt unter dem Gefühl, dass diese beiden alten Männer mir die wahren Streitpunkte vorenthalten, dass sie sich gegenseitig so gerne haben, dass sie sich nicht trauen, sich wirklich weh zu tun. Ich habe daraus gelernt, nämlich, dass man manchmal zum Gewinn von Erfahrung Leute zwingen muss, sich mit Problemen zu beschäftigen. Eine Art von Sezieren, das gebe ich gerne zu. Und es gefällt auch nicht jedem. Aber es ist halt meine Art.

Am Ende wurden die Raketen dann doch aufgestellt. Ich glaube, da ist etwas in mir zerbrochen. Nicht etwa der Glaube an das Gute, das wäre zu global. Aber der Glaube an die Beeinflussung der Politik Deutschlands durch eine Bewegung aus dem Volke. Politiker haben mit den Menschen, die sie vertreten sollen, nichts mehr zu tun. Und das ist für einen Schüler keine angenehme Erkenntnis.

 

Ein einziges anderes Mal hatte ich später das Gefühl, mich in einer Bewegung zu befinden, die wirklich von der Bevölkerung mitgetragen wird und auch Chancen hat, etwas zu erreichen. Die Volkszählung zwang auf einmal ganz unterschiedliche Menschen an einen Tisch. Da waren Widerstandskämpfer gegen Hitler neben überzeugten Christen, Kommunisten neben Anarchisten, Schüler neben Beamten und Auszubildende neben Rentnern. Wir haben die Volkszählung als Ereignis nicht verhindern können. Aber wir haben uns mit allen Mitteln zur Wehr gesetzt.

Ich bin während der Zahlung umgezogen und hatte dann „vergessen“, mich umzumelden. Auch wollte ich nicht mehr an die Tür gehen, um damit den Erhalt des Bogens zu verhindern. Nun gut, ich gebe gerne zu, dass das sehr sehr blauäugig war. Aber als dann der nette Herr mit dem Bogen kam, da war ich gerade dabei im Flur Teppichboden zu verlegen. Und damit ich in alle Ecken kam, war die Tür zum Treppenhaus offen. Und da stand dann der freundliche Herr.

Meiner Erfahrung aus den Vorbereitungssitzungen folgend nahm ich den Bogen und ließ ihn nicht herein, um den Bogen mit mir auszufüllen, sondern versprach baldige Rücksendung. Dies tat ich nicht, der Bogen landete im Müll. Da gehörte er auch hin. Doch es kam das, was keiner in unserer Initiative ernsthaft für möglich gehalten hatte. Die Verwaltung machte ernst. Nach einigen Wochen kam eine „Erinnerung“, ich habe doch versprochen meinen Bogen zuzusenden, und wo der denn bliebe. Und außerdem war eine Mitteilung beigelegt, aus der ich dann ersehen konnte, das man eine Strafe von einigen Tausend Mark zu erwarten hätte, wenn der Bogen nicht beikäme.

Den Bogen habe ich also ausgefüllt. Aber gebe Gott, wenn alle so ausgefüllt haben wie ich! Völligen Dreck habe ich eingetragen, völlig wirre Zahlen, die hoffentlich der auswertenden Körperschaft das Gefühl vermittelt haben, ich würde am Hungertuch nagen und in einem Kellerraum wohnen. War mir sehr recht so, ich habe von denen nie wieder etwas gehört. Und wenn ich richtig informiert bin, dann sind die Daten auch unverwendbar gewesen. Aber sollte jemand wieder versuchen, eine Zählung durchzusetzen, dann werde ich wieder an einem Tisch sitzen und dagegen sein. Nicht, weil wir die Zählung hätten verhindern können, nein. Aber weil wir verhindert haben, dass die Zählung ein Ergebnis hatte.

Der mündige Bürger – und für einen halte ich mich – sollte sich auch das Recht herausnehmen, gegen Aktionen des Staates zu opponieren. Mir war klar geworden, dass der Staat kein abstraktes, gutes Gebilde ist, sondern ein Konglomerat aus Menschen. Und diese haben nicht immer das vor, was ich für mich als „das Beste“ bezeichnen würde. Und da muss man sich eben wehren. Wer sich nicht wehrt, der lebt verkehrt.

 

Fragment III

 

Hallo Salamander,

 

der dritte (und letzte) Teil meines „eigenartigen“, deutlich schon älteren Rückblicks.

 

Dein Homo Magi

 

Fragen Sie mich bitte nicht, was ich die letzten Tage gemacht habe. Ich war hier, zu Hause. Ich bin jeden Morgen aufgestanden, habe geduscht und mir die Haare gewaschen. Dann für uns zwei Frühstück gemacht, und die Zeitung von unten hoch geholt. Den Müll dabei rausgetragen oder das Altpapier, was eben gerade nötig war. Dann an die Hochschule gefahren, und Unterlagen in der Bibliothek gesucht. Oder gearbeitet. Oder gelesen. Oder Briefe geschrieben und Artikel bearbeitet. Die letzten Tage habe ich sogar gearbeitet, so von richtig morgens früh bis so richtig abends spät. Aber ich habe nicht daran gedacht, zu schreiben.

Es war mir so, als wäre die Zeit um mich herum gefroren, als müsste ich mir jedes Wort aus der Feder zwingen beziehungsweise – um im Bild unserer Zeit zu bleiben – so als müsste ich jeden einzelnen Buchstaben mit einem glühenden Hammer auf einer riesigen Tastatur anschlagen, bevor er auf dem Schirm erscheint.

Und dann saß ich gestern Morgen im Zug. Ich war auf dem Weg zur Arbeit, und hatte gerade ein paar Zeilen im von mir so geschätzten Meyrink gelesen. Meyrink und Uhland, meine beiden Lieblinge. Schon eine eigenartige Kombination, meinen sie nicht auch? Und auf einmal riss mir eine Art Vorhang von Gesicht, ich konnte auf einmal auf die grüne Landschaft so schauen, als hätte ich vorher immer einen Filter vor den Augen gehabt. Alles war so klar, so deutlich und so doch so einfach strukturiert. Zeit gibt es gar nicht in der Form, in der ich mich immer vor ihr gefürchtet habe. Ich werde älter und ich werde sterben. Sicherlich. Aber jetzt lebe ich, lebe in einer Hülle und Fülle, die man sich kaum vorstellen kann.

Die Intensität des Lebens war auf einmal in mich zurückgekehrt. Es war, als wäre ich ein leeres Gefäß gewesen, bewegt vom Sturm und ohne Sinn und Ziel. Doch jetzt hatte ich beides wieder erhalten. Eine barmherzige Hand hatte mich angeleitet und mir just in diesem Moment just diesen Text zu lesen gegeben. Zeit war doch gar nicht wichtig, viel wichtiger war, was man tat. Ob jemand hundert Jahre alt wird, und nur Scheiße macht, oder jemand zwanzig Jahre alt wird, und alle Menschen um sich herum erfreut hat – das ist wichtig. Wichtig ist nicht, was einer auf dem Konto hat. Natürlich ist es schön, alles kaufen zu können, was man will. Aber macht es mich innerlich reich? Nein! Kann ich etwas von dem, was ich erhalten habe, in den Tod mitnehmen? Nein. Wenn ich sterbe, dann bin ich tot. Und sollte es eine Wiedergeburt geben, dann kann ich sicherlich kein weltliches Gut mitnehmen. Allerhöchstens meine Erinnerungen oder sogar nur einen Schatten derer.

Und diese Erinnerungen heißt es zu schützen. Das Lachen von Kindern, das Biegen von schlanken Blumen im Sturm. Der Blitz und der Donner, die salzige Brandung und der gewundene Weg hinunter zum Gletscher. Die aufgehende Sonne und der Lichtdom aus Wolken. Das sind Reichtümer, dies sind die wahren Juwelen des Lebens.

Ach, ihr aufgeblasenen Fatzkes, der ihr glaubt, die Glückseligkeit kaufen oder erhandeln zu können. Ihr werdet sie in der Welt nicht finden, wenn ihr sie nicht in euch selber gefunden habt.

Und in euch selber werdet ihr nicht finden, weil ihr viel zu sehr damit beschäftigt seid, eure Außenseiten braun und knusperig zu halten. Und eure Muskelpakete anschwellen zu lassen, und eure kleinen Bäuchlein zu verbergen oder zu vernichten. Ihr schätzt euch nach der Verpackung ein. Lebende Mogelpackungen, die ihr seid.

Und ich wurde ruhig. Und in meinem Hirn zerriss jener unerträgliche Knoten, der mich am Schreiben gehindert hatte wie tausend Höllenhunde mit feurigen Augen. Eines war mir klar geworden. Selbst wenn ich nichts an Geld und Gut hinterlassen könnte, dann würde ich doch wenigstens diese Seiten hinterlassen. Und wenn nur ein Exemplar gedruckt würde, dann würde ich dies verschenken und damit aus den Händen geben.

Wer weiß, vielleicht ist dieses Werk in hundert Generationen Lesestoff für Schulkinder. Ich bezweifele es. Aber ich habe es wenigstens versucht. Das zählt. Sonst nichts.

 

Die letzten Tage fesselten mich aus demselben Grunde, wie es auch schon die Tage vor dieser Lücke taten. Ich dachte nach. Okay, ich war auch ein paar Tage weg. Aber meist dachte ich nach.

Doch zurück zu meinem Leben. Vielleicht kann ich, wenn ich über mein Leben schreibe, mehr von dem vermitteln, was ich mir „erdacht“ habe, als auf jedem anderen Weg.

Mit 18 Jahren, schleppte mich mein Vater nach Amerika. Ich fand den Aufenthalt dort eher anstrengend als interessant. Es war eine Geschäftsreise, und ich fühlte mich oftmals als eine Mischung zwischen störendem Gepäck und billigem Übersetzer, denn als wirklichem Reisebegleiter. Und Amerika – genauer: die USA – haben es mir nicht angetan. Mir ist alles viel zu groß und viel zu laut, ich vermisse den Abstand zwischen den Menschen, der in Deutschland eingehalten wird. Und ich vermisse eine gewisse Zurückhaltung gegenüber Gott und der Welt. In Amerika schien mir alles machbar, unabhängig vom gesteckten Ziel.

Ich war noch nicht volljährig, und ich hielt eigentlich nicht alles für machbar. Eher im Gegenteil. Trotzdem hatte der Aufenthalt seine schönen Seiten. Ich sah New York und war von der UN und dem Empire State Building begeistert – wenn man einmal vom Fahrstuhl absieht, der mir doch einige Schweißausbrüche beigebracht hat. Eine Fahrt mit dem Boot zwischen den kalten 1000 Islands (es war tiefster Winter!) überlebten mein Vater und sein amerikanischer Freund nur mit Unmengen Alkohols, und umso betrunkener die beiden wurden (und später auch ich), umso unglaubhafter wurde die Szenerie von drei Männern in einem offenen Motorboot, gehüllt in Schals und Mützen. Draußen lag der Schnee auf den Inseln und vereinzelt schwamm Eis auf dem Wasser. Auf einmal bogen wir um eine Biegung des Flusses, und vor uns tauchte eine kleine Insel mit einem schottischen Schloss vor uns auf. Ein skurriler Reicher hatte sie in der Mitte des letzten Jahrhunderts hierher transportieren lassen, und hier stand sie nun, völlig verloren, und schien darauf zu warten, dass sie jemand aus ihrem Dornröschenschlaf erwecken würde. Ich tat es nicht.

Eine andere Episode blieb mir im Gedächtnis haften: Ich besuchte eine amerikanische Oberschule. Der Unterricht war langweilig, unter dem Niveau meines Gymnasiums. Aber eine Frage hat mich erschreckt. Man fragte mich, woher ich käme, und ich antwortete pflichtschuldig „West Germany“. Auf die Gegenfrage „Warum Westen?“ antwortete ich, dass unser Land geteilt sei. Daraufhin wurde ich nach dem „Warum?“ befragt. Ich konnte nur ein „Weil wir den Krieg gegen Euch verloren haben!“ antworten, aber ich glaube, sie haben nicht ganz verstanden, warum mich ihre Ignoranz ärgerte.

Dieses Jahr sollte auch noch aus einem anderen Grunde wichtig werden. Ich besuchte das zweite Mal ein wirklich großes Treffen von Fans der Science Fiction Literatur. Wirklich groß heißt, dass sich im Schwarzwald so um die hundertvierzig Leute getroffen haben dürften. Im Jahr vorher war ich noch einfacher Besucher gewesen, doch nun durfte ich mich „Mitveranstalter“ schimpfen. Daher musste ich stundenlang an der Kasse stehen und Eintrittskarten überprüfen, oder irgendwelche Räume säubern und Stühle stellen. Die Schwester des Veranstalters, der in den folgenden Jahren zu einem sehr guten Freund werden sollte, war zwar ganz nett, aber die Veranstaltung war trotzdem eine Plage. Ich weiß nicht, warum das Gebäude einige Wochen später abgerissen worden ist. An der Ordnung und Sauberkeit lag es nicht, denn wir haben uns große Mühe gegeben, die Räumlichkeiten in angemessenem Zustand zu hinterlassen.

Ich fühlte mich eine Zeit lang wie im Himmel. Die Leute erkannten einen wieder; viele standen mit mir in Briefkontakt oder hatten von mir oder über mich gelesen. Man unterhielt sich wirklich noch über Bücher, die man gelesen hatte, und diskutierte die weitere Entwicklung von Serien und Reihen. Es gefiel mir so gut, dass ich einige Wochen später auf eine andere Veranstaltung nach Nürnberg fuhr. Bekannte hatten mich mitgenommen, und ich war ganz froh, dass ich dort nicht alleine war, weil hier für meinen Geschmack etwas die Wahnsinnigen die Oberhand über die Normalen zu behalten schienen. Hier war mein erster Kontakt zu den vielen vielen Raumschiff Enterprise Fans, die in ihren Star Trek-Uniformen herumliefen. Für mich sehen sie heute noch aus wie eine Mischung zwischen Schützenverein und Wehrsportgruppe. Da ich mit einem natürlichen Widerwillen gegen alles ausgestattet bin, was Uniformen trägt, habe ich mich mit diesen Leuten nie anfreunden können. Vielleicht war das auch ganz gut so, weil in dieser Szene scheint die Zahl von absoluten Nulldübeln sehr stark zu überwiegen.

Auf dieser Veranstaltung wurde ich auf jeden Fall für einen Fantasy-Verein geworben. Dieser sei schon sehr alt und stark an Mitgliedern, doch würde man sich trotzdem freuen, junge Leute aufzunehmen. Alle schienen ganz angetan, und meine Faszination war geweckt. Die Veranstaltung im Sommer sollte zwar sieben Tage dauern, aber es würde auch völlig genügen, wenn ich nur für das Wochenende kommen würde. Das tat ich dann auch. Inzwischen war ich ja volljährig, und von meinen Eltern in meiner Urlaubsplanung nicht mehr so stark abhängig wie noch in den Jahren zuvor. Ich plante also meine Fahrt nach Passau generalstabsmäßig durch, und es funktionierte – eigentlich wider Erwarten – gut. Und das überraschende Wort, dass ich mich dort wirklich gut aufgenommen fühlte. Ich hatte die paar Stunden, die ich wirklich wach und aktiv dort war, viel Spaß. Es gab eine Menge Leute, die ich interessant fand, und die Leute, die ich nicht interessant fand, ließen mich in Frieden.

Und was mir auch sehr gut gefiel, war der Versuch dieser Leute, eine Phantasiewelt zu simulieren. Viele trugen farbenprächtige Gewänder, die sie liebevoll „Gewandungen“ nannten, und redeten sich mit eigenartigen Phantasienamen an. Man trug Wappen und andere heraldische Zeichen, die die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Land oder einer bestimmten Gruppierung anzeigten. Irgendwie war es eine Mischung aus ständischer Bürgerversammlung und mittelalterlichem Markt. Ich fühlte mich schon in meiner normalen Umgebung als etwas ausgefallen, doch hier wurde ich völlig akzeptiert. Nun, ich beschloss also, in Zukunft in diesem Rahmen etwas aktiver zu werden. Da dieser Verein sich praktischerweise jeden Sommer seit vielen Jahren für eine Woche traf, plante ich die Sommer der nächsten Dekaden durch.

 

Erst in der Oberstufe lernte ich meine Mitschüler erst richtig kennen und eigentlich auch gern haben (lieben zu sagen wäre nun wirklich zu viel gesagt). Ich hatte zwei Leistungsfächer, Englisch und Gesellschaftskunde. Das erstere wählte ich eigentlich aus einer Mischung aus Liebe und Trotz. Liebe deswegen, weil ich die Musik verstehen wollte, die ich mochte. Den Beat, den Rock’n’Roll, den Blues, den Rock – alles gesungen auf Englisch. Und Trotz deswegen, weil die Frau, die mir in der Förderstufe und in den ersten Jahren des Gymnasiums Englischunterricht erteilt hatte, mein Englisch für ausgesprochen schlecht hielt. Also wählte ich, und sei es nur, um ihr etwas zu beweisen, Englisch zum Leistungsfach. Und später dann meinen Englischlehrer zum Tutor, also einer Art Klassenlehrer. Er ist dann einige Jahre später an AIDS gestorben. Der erste AIDS-Tote, der mich selber getroffen hat. Okay, ich wusste, dass der Mann mit der tollen Stimme, Klaus Nomi, an AIDS gestorben war. Aber es ist doch irgendwie was anderes, über einen Toten zu lesen und sich ihm irgendwie vage vertraut zu fühlen, oder bei einem Toten immer an einen Bären von Mann zu denken, der mit seiner freundlichen und humorvollen Art eine gewisse Art widerwillig erzeugten Respekt erzeugt hat. Nun ja, er ist leider tot. Gemeinschaftskunde oder Gesellschaftskunde, ich weiß bis heute nicht genau, für was die Abkürzung „GEK“ eigentlich stand. Es war ein obskurer Mischmasch aus Geographie, Geschichte, Sozialkunde und vielem anderen. Unser Lehrer war ein übriggebliebener überzeugter Kommunist, und der Unterricht war immer sehr unterhaltsam. Und sei es nur, weil der einzige konservative im Kurs immer mindestens eine „ausreichend“ erhielt, damit er dafür belohnt wurde, eine aussichtslose politische Position zu vertreten. War schon irgendwie eigenartig.

Mein Abitur habe ich mir dann zusammen geschummelt. Es gab in der Oberstufe die Möglichkeit, die Kurse selber zu wählen. Damit nicht jeder in die „Sahneschnittchen“ eilte, die durch die Kombination aus netten Lehrer und einfachen Themen gebildet wurde, erhielt man eine Zahl von Punkten, die man pro Halbjahr auf die Kurse setzen konnte. Die mit den meisten Punkten in einem Kurs blieben dort, die anderen mussten in einen Parallelkurs mit anderem Lehrer und/oder anderem Thema. Alle legten eine bestimmte Zahl Punkte auf die Kurse. Nur nicht mein Freund und ich. Er hatte nämlich herausbekommen, dass der schuleigene Computer die Punkte zwar auswertet, aber nicht zusammenzählt. Und wo alle anderen nur zwanzig Punkte setzten, setzten wir an die fünfundsiebzig. Mit durchschlagendem Erfolg. Die andere gute Idee war die Erkenntnis, dass die andauernde Neureformierung der Oberstufe auch zu einigen Fehlern geführt hatte. Ein Fehler war ein fehlendes Komma, welches mir die Möglichkeit gab, evangelische und katholische Religion als getrennte Fächer angerechnet zu bekommen. Ich ging mit meiner Auslegung bis zum Schulleiter, und der musste sie mir erst bestätigen. Dann stellte ich meine Liste zusammen. Englisch und GEK als Leistungsfächer, dazu Mathematik und evangelische Religion als Prüfungsfächer. Zwei zusätzliche freie Grundkurse für GEK, zwei zusätzliche freie Grundkurse für evangelische Religion – zusätzlich zu denen, die man wegen der Prüfungsfächer bzw. Leistungsfächer machen musste. Und dann fügte ich noch fünf Kurse katholische Religion ein. Damit wurden die Naturwissenschaften praktisch auf das Prüfungsfach Mathematik reduziert, die Sprachen auf einen Kurs Deutsch und Englisch, Sport fand nur marginal statt und ich hatte am Ende im Abizeugnis einen Anteil für GEK und Religion von über vierzig Prozent. Ich sage ganz ehrlich, an diese Art von Abitur konnte ich mich gewöhnen.

 

Meine Schulzeit endete dann eher unspektakulär. Wir machten noch eine Abschlussfahrt. In der Oberstufe gibt es ja keine Klassen mehr, jeder hat zwei Leistungskurse. Und ich fand es schon bezeichnend, als keiner meiner beiden Leistungskurse es auf die Reihe brachte, zu verreisen. Also wurde unserem Englisch-Kurs „gnadenhalber“ von den beiden Parallelkursen angeboten, dass wir doch mit ihnen verreisen könnten. Nun, ich – und einige andere – nahmen das Angebot an. Aber es war doch nicht dasselbe wir eine gemeinsame Fahrt, wir blieben nur ein Anhängsel. Trotzdem fand ich es sehr angenehm, mal wieder nach England zu fahren. Ich hatte dort schon einige Sommeraufenthalte mit Sprachkursen hinter mich gebracht, und auch ein Wochenende samt Hotelbrand. Aber jetzt war ich in einem Alter, in dem ich mit England wirklich etwas anfangen konnte, und ich wollte es mir so richtig gut ergehen lassen. Salisbury war unser Ziel, und diese Stadt ist mittelalterlich genug, um charmant zu sein, und modern genug, um angenehm zu sein. Aber auch kulturelle kam ich auf meine Kosten – Shakespears Geburtshaus, die Kathedrale in allen Positionen, der kalte englische Strand, Old Sarum, eine Art ehemalige Altstadt von Salisbury und als krönender Abschluss Stonehenge. Schon damals war die Anlage nicht mehr offen zugänglich, weil irgendwelche total verblödeten Neonazis die Steine mit Hakenkreuzen und ähnlichem beschmiert hatten – vielleicht konnten sie nicht verwinden, dass dieses monumentale Bauwerk vor ihren heißgeliebten blaublond Ariern in England war. Vielleicht waren sie auch einfach nur doof. Auf jeden Fall musste man die Straße in einem Tunnel unterqueren, und um die Steine herum erstreckten sich tolle Stacheldrahtzäune. Wunderschön. Aber die Steine haben es mir angetan, sie sind wirklich einmalig.

 

Heute gerade darüber nachgedacht, ob die Reizüberflutung durch Fernsehen und Radio den Menschen vielleicht die Formulierungskraft raubt. Komische Überlegungen. Schreibe ich also gegen den Verlust der Sprache an? Ich beschließe, dieser Überlegung nicht weiter zu folgen, weil sie mich in Täler bringt, die ich nicht erforschen will.

Ich war jetzt neunzehn Jahre alt, immer noch ohne Brille und eigentlich ganz gutaussehend. Zumindest hatte ich mich inzwischen dazu durchgerungen, dieses Selbstbild zu akzeptieren. Lange Kämpfe habe ich dafür mit mir selber austragen müssen. Ein wichtiges Prüffeld war für mich immer der Bereich der Fans der phantastischen Literatur (oder sagen wir weniger verschämt ruhig Fantasy und Science Fiction, auch wenn diese Begriffe beinahe etwas verpönt sind). Die sind nämlich meist ungepflegt und hässlich, so wie man sich überraschenderweise heute die typischen Computer-Wahnsinnigen vorstellt. Nun, auch passionierte Spieler sehen so aus, und wahrscheinlich die meisten Leute an den Biertischen in Sportvereinen. Aber ich muss sagen, dass ich doch überrascht war, dass jemand wie ich, der sich hässlich fand, auf einmal so herausstach. Irgendwie war mir also der Umkehrschluss von der völligen Verschlossenheit samt Unterschätzung zur Überschätzung gelungen. Ich hielt mich für toll, wurde von meinen Freunden sogar darin bestätigt, und viel ein paarmal ziemlich blutig auf die Fresse. Auch eine Erfahrung. Auf jeden Fall gönnte ich mir mit neunzehn Jahren noch einige Urlaube, denn im Sommer war meine schöne Schulzeit zu Ende. Und während andere Leute sich schon nach dem Abitur in der Sonne aalten, durfte ich etwa zehnmal versuchen, mich operieren zu lassen.

Meine Nase hatte ich mir als Kind gebrochen (eine lange Geschichte, die etwas mit meiner Großmutter, einem Spediteur und einer Kiste voller Zwiebelmusterkannen zu tun hat), und jetzt – endlich – konnte das Ding gerichtet werden, weil ich ausgewachsen war. So dachte ich zumindest. Die Nase war also verschiedenen Fachärzten vorgeführt und für operabel befunden worden. Dann stellte ich mich in der Klinik an. Nun, drei- oder viermal musste ich wieder heim, weil kein Bett frei war. Einmal hatten sich mich schon betäubt in den OP geschoben, da brach der Chefarzt wegen eines Pickels (!) auf meiner Nase ab. Ich bin dann in halb betäubtem Zustand heimgelaufen, wo meine Mutter mich erblickte und sofort im Krankenhaus anrief, ob ich denen davongelaufen war. War ich nicht. Aber einmal gelang es mir dann doch, mit absoluter Treffsicherheit den heißesten Tag des Jahres herauszupicken und mit bandagierter Nase aufzuwachen. Es war ziemlich widerlich, denn ich hatte Watte (sogenannte Tampons) in der Nase und total zugeschwollene Augen. Außerdem überall Klebestreifen im Gesicht. Würg. Aber ich habe es irgendwie hinter mich gebracht. Und scheinbar hatte ich es auch geschafft, dem Arzt vorher eindeutig klar zu machen, dass ich nein, danke, überhaupt nicht eine Schönheitsoperation wollte. Nur wieder durch die Nase atmen zu können war mein Traum. Nicht länger Erstickungsanfälle im Schwimmbad, nicht länger Nasentropfen bei jedem kleinen Schnupfen, nicht länger Schwierigkeiten beim Riechen. Nun ja, man kann nicht alles haben, aber die meisten Sachen davon sind in Ordnung gekommen. Und die fehlende Schönheitsoperation brachte mir eine eigentlich ganz hübsche Nase, die nur später ein wenig Schwierigkeiten brachte, als ich eine Brille darauf klemmen wollte.

 

Traditionen

 

Lieber Salamander,

 

wenn alle Asatru sich Teil der religiösen Traditionen der germanischen Völker sind,

aber nicht alle Teile der religiösen Traditionen der germanischen Völker Asatru sind,

und wenn alle Vanatru Teil der religiösen Traditionen der germanischen Völker sind,

aber nicht alle Teile der religiösen Traditionen der germanischen Völker Vanatru

und nicht alle Vanatru Asatru,

aber alle Asatru Vanatru,

sind dann jene, die nicht Vanatru oder Asatru oder Vanatru und Asatru sind,

aber Teil der religiösen Traditionen der germanischen Völker,

keine Heiden?

 

Wenn aber alle Teile der religiösen Traditionen der germanischen Völker Heiden sind,

aber nicht alle Heiden Teil der religiösen Traditionen der germanischen Völker,

sind dann jene besser,

die mehr nicht sind als jene, die mehr nicht nicht sind?

Oder ist jener, der gleich nicht wie nicht nicht ist,

nicht exakt das, was alle Heiden sein wollen,

nämlich nicht und nicht-nicht,

aber auf gar keinen Fall Monotheist –

das nicht, um keinen Preis, niemals!

 

Das nicht-wollen negiert das nicht-sollen und verbirgt das nicht-können nicht.

 

Dein Homo Magi

 

Wachs

 

Hallo Salamander,

 

kürzlich konnte ich auf einer Veranstaltung einen alten Mann beobachten, der völlig glücklich mit einer Kerze spielte. Er hatte die Finger in das auslaufende Wachs getaucht und spielte mit dem fließenden Wachs herum. Mit einer aufgebogenen Büroklammer zog er kleine Furchen in das warme Wachs und beobachtete neugierig, wie sich immer neue Flüsse von Wachs über das langsam erkaltende Wachs am Stumpf der Kerze ergossen.

Es war ein alter Mann mit eisgrauem Haar, dicker Brille, gebeugtem Kopf, altersfleckigen Händen. Seine Hände waren beeindruckend. Er hatte jene wächsernen Fingernägel mit perfekten Monden, die nur junge Frauen und alte Männer haben.

Das Licht, die Wärme, sie beide hatten ihn in ihrem Zauber gefangen. Er hatte die Welt um sich herum vergessen, spielte nur mit den beiden Dingen, die schon Kleinkinder faszinierend finden: Wärme und Licht. Wie eine Rückkehr in den Mutterleib, der alte Mann, der kindlich fasziniert wieder zu Spielen beginnt.

Ich weiß nicht, wie lange ich zugesehen habe. Zwei Minuten, zwanzig Minuten – egal. Es wiederholte sich nichts, aber trotzdem war ich nicht gelangweilt von dem Bild. Es war so ruhig, wie gemalt von einem „alten Meister“. Es war schön und entspannt und irgendwie richtig.

Wenn das nächste Mal die Sorgen des Tages mich zu überwinden drohen, werde ich an den alten Mann denken und an das Bild, dass das Schicksal der Welt nur Wachs in meinen Händen ist …

 

Dein Homo Magi

 

Dolchstoß

 

Hallo Salamander,

 

manchmal höre ich im Auto Arbeiterlieder. Das hat was mit meiner Sozialisation zu tun … und zum Teil sind da wundervolle Lieder dabei. Das allererste Mal hörte ich wohl jetzt aufmerksam hin, weil die Landstraße langweilig war und ich mitsingen konnte. Und dann fiel mir auf, was ich eigentlich mitsang:

„Wie war doch der feige Gesang

der Generale, die den Krieg verloren

und nach verlorenem Waffengang

bei Thor und Baldur und Wotan schworen:


 

»Wir sind nicht besiegt von französischen Flinten.

Die Heimat hat uns erdolcht – von hinten!«„

Thor, Baldur und Wotan in einem Arbeiterlied? Es handelte sich um Ernst Busch, der hier die „Dolchstoß-Legende“ sang. Im Stück geht es weniger um nordische Götter, denn um die angebliche Niederlage im 1. Weltkrieg durch einen „Dolchstoß“ an der Heimatfront. Die restlichen Strophen lauten:

„Wo war denn das geile Getier,

das nach dem Stahlbad des Krieges geschrieen?

Bei Orgien im sicheren Hauptquartier

muss niemand vor Kugeln und Giftgasen fliehen.

Man kämpft gegen Hasen im Forst von Rominten

als »kaiserlicher« Jast – janz hinten.

 

Dann kam die Zeit ganz ohne Orden.

Da hat es die Vaterlandsliebe geboten

die Führer der Arbeiterklasse zu morden.

Es blitzten die Dolche, es fielen die Toten.

Wer hörte sie nicht die verlogenen Finten:

Erschossen auf der Flucht – von hinten.

 

Einst kommt der Tag, die Verbrechen zu sühnen.

Dann wird wohl den Mördern das Lachen vergehen,

denn diesmal bekommen sie, was sie verdienen

und wenn sie auch feige um Gnade flehen:

für dieses Getier keine ehrlichen Flinten,

den Strick und einen Tritt – von hinten.“

 

Ernst Busch war mir als Interpret von Arbeiterliedern wegen seiner markanten Stimme schon länger ein Begriff. Dazu kommt, dass er in einer deutschen Phantastik-Buchserie mal einen netten Nebenauftritt absolvieren durfte. Aber wer war dieser Ernst Busch und warum singt er hier von nordischen Göttern? Wikipedia hilft:

„Busch war Sohn des Maurers Friedrich Busch und dessen Ehefrau Emma. Er absolvierte von 1915 bis 1920 eine Ausbildung zum Werkzeugmechaniker und arbeitete anschließend als Werftarbeiter. Er trat 1916 der Sozialistischen Arbeiterjugend bei, 1918 der SPD. Unter dem Eindruck des Kieler Matrosenaufstandes 1918 ließ er sein Parteibuch Anfang 1919 auf die USPD umschreiben.

1920 nahm Busch Schauspiel- und Gesangsunterricht und wurde von 1921 bis 1924 am Stadttheater Kiel, danach bis 1926 in Frankfurt (Oder) und anschließend an der Pommerschen Landesbühne engagiert. 1927 zog er nach Berlin (…). Ab 1928 trat er in Berlin an der Volksbühne, dem Theater der Arbeiter und der Piscator-Bühne in Stücken von Friedrich Wolf, Bertolt Brecht und Ernst Toller auf. In der Verfilmung der Dreigroschenoper von Georg Wilhelm Pabst spielte er den Moritatensänger (mit dem Mackie-Messer-Song).

Von 1929 bis 1933 wirkte er in einem Dutzend Filme mit, nicht in allen war er vor der Kamera zu sehen, meist aber als Sänger zu hören, u.a. spielte er die Hauptrolle in Slatan Dudows Film Kuhle Wampe.

Busch sollte nach dem Beginn der »Machtergreifung« der NSDAP von der SA verhaftet werden. Durch glückliche Umstände entging er einer der ersten Razzien (…). Busch flüchtete daraufhin mit seiner Ehefrau (…) zunächst nach Holland. Von dort aus folgten weitere Stationen: Belgien, Zürich, Paris, Wien und schließlich die Sowjetunion.

1935 wirkte er in der UdSSR in Gustav von Wangenheims Film Kämpfer mit. 1937 reiste Busch mit der Journalistin Maria Osten nach Spanien und trat als Sänger bei den Internationalen Brigaden auf. Mit seinen Liedern Die Thälmann-Kolonne, No pasaran, Bandiera Rossa äußerte er sich offen gegen den Faschismus. (…) Mitte 1938 verließ Busch den Kriegsschauplatz und kehrte nach Belgien zurück. (…) 1940 wurde er in Antwerpen verhaftet und nach Südfrankreich deportiert. Er war bis 1943 interniert, dann gelang ihm die Flucht bis zur Schweizer Grenze. Er wurde abermals verhaftet, der Gestapo ausgeliefert und in der Haftanstalt Moabit in Einzelhaft genommen. Die Anklage gegen Busch lautete „Vorbereitung zum Hochverrat“. Durch die Intervention von Gustaf Gründgens entging er der Todesstrafe und erhielt eine vierjährige Zuchthausstrafe. 1943 wurde er bei einem alliierten Luftangriff auf die Haftanstalt schwer verletzt.

Am Ende des Zweiten Weltkrieges wurde er von der Roten Armee aus dem Zuchthaus Brandenburg befreit. Im Mai 1945 zog er wieder in das Wohnhaus in der Künstlerkolonie, in dem er bis 1933 gewohnt hatte. 1949 siedelte er (…) nach Treptow im Ostteil Berlins über (…). 1945 trat er in die KPD ein und wurde 1946 durch die Zwangsvereinigung von SPD und KPD automatisch Mitglied der SED.

Als Schauspieler war er am Berliner Ensemble, dem Deutschen Theater und der Volksbühne tätig. Außer in seinen Brecht-Rollen machte er sich noch in anderen Rollen um die Entwicklung der Schauspielkunst verdient.

(…) Busch wurde auch als Interpret der Lieder von Hanns Eisler und internationaler Arbeiter- bzw. sozialistischer Propagandalieder bekannt. Daneben leitete er bis 1953 die Schallplatten-GmbH Lied der Zeit, die erste und einzige Schallplattenfirma der SBZ/DDR. Lied der Zeit war der Vorläufer des VEB Deutsche Schallplatten mit den Sublabels Eterna und Amiga, die ebenfalls unter Busch entstanden. 1956, 1966 und 1979 erhielt er den Nationalpreis der DDR. Von 1963 bis 1975 spielte er in der Schallplattenreihe Aurora der Deutschen Akademie der Künste etwa 200 seiner Lieder ein. Er war Mitglied der Akademie.

1961 zog er sich aus gesundheitlichen Gründen von der Bühne zurück.

Busch übte keine öffentliche Kritik an der Politik der SED, hatte aber diverse Streitereien mit Funktionären, darunter Erich Honecker. Seit 1952 war er faktisch kein Parteimitglied mehr, weil er sich beim Überprüfungsverfahren nicht kooperativ gezeigt hatte. Erst zu Beginn der 70er Jahre trug ihm die SED ein neues Parteibuch an, das Busch dann auch annahm.

Die letzten Jahre verbrachte Busch – zusehends an Demenz leidend – in der Psychiatrie in Bernburg am Ende in der geschlossenen Abteilung, von wo aus er mehrfach (vergeblich) zu fliehen versuchte, wo er starb.“

Wow, was für ein Leben! So jemand konnte wohl auch einen Text singen, in dem die nordischen Götter zitiert wurden.

Aber er war „nur“ der Interpret, nicht der Verfasser. Dies waren Julian Arend (Text) und Otto Stranzky (Musik). Außer diversen Verweisen auf weitere Lieder der Beiden (die ich zum großen Teil kenne, Überraschung …) fand ich nichts Biographisches über die Beiden im Netz.

Mist. Da hat man einmal eine (pseudo-)heidnische Quelle gefunden; das die nordischen Heiden sie ignorieren, war fast zu erwarten (deren Geschichtswahrnehmung endet vor Lindisfarne und beginnt wieder in den 1980ern), aber das auch der sogenannte „Mainstream“ die beiden linken „Liedermacher“ vergaß … macht mir Sorge.

Ein weites Forschungsfeld tut sich hier auf, das aber (leider) keiner zu beackern scheint.

 

Dein Homo Magi

 

Der Rodensteiner

 

Lieber Salamander,

 

es gibt eine Sage, die man mir als kleines Kind erzählt hat. Es war meine Großmutter, die im biblischen Alter von über 100 Jahren vor nicht allzu langer Zeit gestorben ist. Im Nachhinein muss ich zugeben, dass meine Großmutter dazu neigte, den westfälischen Lokalkolorit – denn von dort kommt sie eigentlich – in den Odenwald zu übertragen. Eigentlich ist das egal, denn die Geschichte passt auch in den Odenwald gut.

 

Als Kind hatte ich ein Zimmer unter dem Dach im Reihenhaus meiner Eltern. Wenn es stürmte oder hagelte, dann prasselte es auf das ganze Dach und der Wind schob sich unter die Ziegeln und machte einen riesigen Lärm. Natürlich konnte ich nicht einschlafen. Und so bewegte sich meine damals schon betagte Großmutter die Treppe hinauf und setzte sich zu mir ans Bett, um mich zu beruhigen.

Es war die Zeit nach Weihnachten, das, was man „zwischen den Jahren“ nennt. Meine Großmutter erzählte mir nun, dass das da draußen kein normaler Sturm sei, sondern der Rodensteiner. Er sei wegen seines sündigen Lebens verflucht, in diesen Raunächten umherzuziehen. So ritt der Rodensteiner mit seiner Rotte räudiger Ritter runter ins Tal, um Angst und Schrecken zu verbreiten.

Aber das sei nicht schlimm, meinte meine Großmutter. Denn er würde nur eine Nacht aus den Toren der Hölle entlassen, um mit seinem Tross zu randalieren. Ihre Pferde würden über die Wolken ziehen, ihre Hufe würden Flammen schlagen an den Gipfeln des Odenwaldes – ich war noch klein, da glaubt man daran, dass die Gipfel des Odenwaldes die Wolken berühren – und verdammt bis in alle Ewigkeit würden sie diese eine Nacht der Freiheit nützen, um Lärm zu machen, es blitzen, toben und hageln zu lassen.

Nur eine Nacht wären sie unterwegs, nur eine einzige Nacht – wenn alles gut liefe. Denn wenn ein Krieg bevorstünde, dann würden sie drei Nächte reiten. Und so lauschen alle Menschen nicht in der ersten Nacht angstvoll hinaus, sondern in der zweiten. Denn sie leben in Angst, dass der Rodensteiner eine zweite Nacht reiten könnte, um von Krieg und Vernichtung zu künden.

Meine Großmutter sagte, dass er auch vor dem großen Weltenbrand – das waren ihre Worte für den 1. Weltkrieg – und vor dem 2. Weltkrieg drei Nächte lang geritten sei. So hätten die Menschen gewusst, dass ein Krieg kommt.

Ich fragte sie, ob der Rodensteiner niemals erlöst würde. Nein, meinte sie, er müsste so lange reiten, wie die Menschen Krieg führen würden – also für ewig.

Das machte mir irgendwie mehr Angst als die Vorstellung von skelettierten Pferden und verrotteten Ritter, die durch den Sturmwind stoben. Meine Großmutter war damals für mich die absolute Messlatte der moralischen Instanz, wie konnte ich also daran glauben, dass Menschen irgendwann keinen Krieg führen würden, wenn sie nicht daran glaubte?

 

Ich gebe es zu – ich habe Glück gehabt. Meine Großmutter, die in beiden Weltkriegen Verwandte und Freunde verloren hat, beneidete mich dafür, dass ich in der längsten Friedensperiode der deutschen Geschichte groß geworden bin. Damit hat sie eigentlich recht.

Doch heute noch, wenn im Winter der Sturm heult und der Wind bläst und der Hagel gegen die Fenster prasselt, denke ich zuerst an meine Großmutter. Ich hoffe darauf, dass sie irgendwo jenseitig glücklich sitzt, ihr Strickzeug in der Hand und Pullover strickt. So wie ich sie kenne, strickt sie wahrscheinlich sogar für den Rodensteiner, damit der in seiner rostigen Rüstung nicht so frieren muss in Sturm und Eis.

Und der Rodensteiner? Ich höre immer noch hin, ob er nicht ein zweites Mal reitet in jenen Nächten zwischen den Jahren. Ich lausche, ob ich nicht das Schnauben seiner gerüsteten Rosse im Wind hören kann, das Blitzen seiner Augen sehe durch die Wetterwolken voll Schnee, sein Schwert erblicke, wie es Blitze schlägt in die Nacht. Und dann erwische ich mich dabei, dass ich nach oben schaue und den Sternenhimmel anschaue, ob seine Silhouette nicht am Horizont den Himmel verdunkelt, so dass er gleich mächtig randalierend herüberreitet, um Krieg und Vernichtung zu künden.

 

Dein Homo Magi

 

Die Europäische Union

 

Hallo Salamander,

 

kürzlich blätterte ich in einem englischsprachigen Buch und schaute mir ein Paar Bildtafeln zum Mittelalter an. Es war ein schöner Moment, als ich auf dem Rücken des Buches folgenden Satz erspähen durfte: „Mit Aufzeichnungen auf Deutsch über den Farbtafeln.“ Das Buch war „Knights at Tournament“ von Christopher Gravett (Text) und Angus McBride (Illustrationen) von 1988.

Dann kam ich ins Denken. Wäre das heute noch möglich? Klar, Deutsch ist eine schwierige Sprache und man neigt dazu, deutsche Sätze als richtig einzustufen, weil sie sich irgendwie richtig anhören, aber grammatikalisch führen diese Versuche oft in die Hölle. So ist es wohl auch bei diesem Satz. Aber heute … ist Europa trotzdem näher zusammengerückt. 1988, das sind 23 Jahre. Die „Europäische Union“ durchdringt unser Leben auf vielen Bereichen, die Grenzen sind offen, das babylonische Sprachenwirrwarr auf den Geldscheinen und Münzen verwirrt niemanden wirklich, die verschiedenen europäischen Kommissionen gehen ihren Aufgaben nach, man weiß sogar inzwischen einige Namen von wichtigen Persönlichkeiten Europas und hat gelernt, dass man von Polen bis Spanien ohne Pass mit dem Auto fahren kann.

Eine zweite Ebene tat sich auf. In „Knights at Tournament“ wurde auf vielen Seiten aufwändig erklärt, welche Farben mit welchen Figuren in welchen Feldern eines Wappens man tragen durfte/musste, um sich eindeutig legitimieren zu können. Das ist viel einfacher geworden. Es gibt Autokennzeichnungen, die international sind, und anhand von zwei oder drei Buchstaben kann ich das Auto in Europa verorten (eigentlich ver-land-en). Dann kommt noch ein netter Aufkleber hinzu, der eine Provinz oder eine Stadt identifiziert oder der Schildrahmen macht Werbung für einen Autohändler in Prag, Warschau, Lübeck oder Madrid.

Die Welt ist nicht kleiner geworden, Europa wurde nicht balkanisiert. Aber wir sind in einer polyglotten Kultur gelandet, die mehrsprachig, mehr-kulturell (um das missbrauchte Wort „multikulturell“ zu überspringen) und mehr-staatlich geworden ist.

Ich bin dankbar dafür, dass der Franzose nicht mehr der Erbfeind, die polnische Grenze nicht mehr bewacht und unsere Armee reduziert ist.

 

Das musste mal gesagt werden.

 

Dein Homo Magi

 

Perlenvorhänge

 

Hallo Salamander,

 

es gibt so manche Dinge, die sind verschwunden, und man weiß eigentlich gar nicht, wohin und warum.

Früher gab es vor Toiletten in Restaurants immer diese eigenartigen Perlenvorhänge, die ein wenig so aussahen, als hätte ein Kind Plastikperlen auf eine Schnur gebunden und seine stolzen Eltern, die zufällig auch eine Eisdiele oder Pizzeria besitzen, haben diese Schnüre im Eingangsbereich der Toiletten aufgehängt.

Ich muss in meinem Leben schon Tonnen von diesen Vorhängen durchschritten haben. Sie waren vor 40 Jahren da, als ich das erste Mal eine Toilette im Restaurant wahrnahm, und sie waren bis vor 10 oder 15 Jahren immer noch da. Und dann? Dann waren sie von einem Tag auf den nächsten weg. Verschwunden. Futschikato.

Sind sie auf einmal unhygienisch? Ne, das glaube ich nicht. Sie waren schon immer hässlich, aber das stört Chinesen auch nicht, vor ihren Restaurants Löwen aus Plaste und Elaste aufzustellen. Den Umsatz scheint es in keinem von diesen Fällen geschmälert zu haben.

Sind sie recycelt worden? Ich habe sie weder als Röcke im Karneval noch als Vermummung auf heidnischen Treffen wahrgenommen, wobei letzterer Gedanke zumindest sehr zu meiner Erheiterung beitragen würde.

Wo sind sie hin? Entweder sie lagern auf diversen Dachböden bis sie wieder in Mode kommen. Unwahrscheinlich, aber nicht ganz von der Hand zu weisen (liegen sie da neben den Hula-Hoop-Reifen?). Oder sie sind Stück für Stück in gelbe Säcke verschwunden und werden nun als Plastikmüll recycelt. Vielleicht ist die Tastatur, auf der ich gerade tippe, in ihrem früheren Leben ein Plastikvorhang gewesen? Ich weiß es nicht. Aber es hat mich doch eine Weile lang beschäftigt, diesen Gedankengang zu verfolgen. Eigenartig, wohin einen die Erinnerung manchmal treibt.

 

Dein Homo Magi


 

Meine EC-Karte

 

Lieber Salamander,

 

ich habe in den letzten Monaten Schwierigkeiten mit meiner EC-Karte. Immer mal wieder gelingt es mir nicht, Auszüge zu ziehen oder gar (Bonusversuch!) Geld zu holen. Nein, spare dir deine hämischen Kommentare – ich hole nur Geld, wenn auch Geld drauf ist. Aber es klappte nicht, die Karten waren entweder „nicht lesbar“ oder der Automat tat so, als hätte ich nie nie nie eine Karte in seinen Schlitz geschoben.

Ich habe Zugang zu drei Konten. Ich habe in den letzten vier Monaten sechs neue EC-Karten bekommen, immer mal wieder für ein anderes Konto. Am Kundenschalter „meiner Bank“ sagte man mir immer wieder, dass es an mir liegen müsse (an wem auch sonst, Banken machen keine Fehler …). Am Ende zeigte ich dann eine der drei Karten vor, dich ich nur für das Konto einer Veranstaltung benütze. Die Karte war in der stabilen Plastikhülle, in der sie geliefert worden war, dazu in einer Klarsichtfolie. Keine Chance auf „mechanische Verletzungen“. Man nahm meine Eingabe zerknirscht entgegen und schickte mir wieder eine neue Karte. Mit der letzten Kartenlieferung kam auch ein Begleitbrief, von dem ich dir einen Auszug nicht vorenthalten will:

„Es besteht die Möglichkeit, dass der Magnetstreifen durch Fremdeinflüsse beschädigt wurde. Da über diesen Magnetstreifen die Kartendaten gelesen werden, hat dies zur Folge, dass die Karte nicht akzeptiert wird.

Mögliche Gründe für die Zerstörung des Magnetstreifens können, neben offensichtlicher Beschädigung, auch starke Magnetfelder sein:

·        Geldbörse mit Magnetverschluss

·        Ablage auf dem Fernseher oder auf den Lautsprechern

·        Karte wurde im Handel auf der Tresen-Unterlage für das Warensicherungssystem abgelegt

·        Röntgenstrahlen“

 

Es fällt mir schwer, das zu kommentieren. „Fremdeinflüsse“ in meinem Geldbeutel sind auszuschließen; wer meine Karte beschädigen will, stiehlt sie eher. Den Magnetverschlussgeldbeutel muss mir jemand vorführen, ich glaube nicht daran, dass es so etwas gibt. Wer Muße hat, seinen Geldbeutel auf der Stereoanlage abzustellen – okay, nette Freizeitbeschäftigung, aber sinnlos. Das mit der Tresen-Unterlage erscheint mir immerhin noch realistisch als Möglichkeit, kann ich nicht einmal ausschließen, dass das mal in meinem Leben passiert ist. Aber nicht so oft, wie es in den letzten Monaten „schief ging“ – und nicht mit der Karte in der Plastikhülle! Bleiben nur die Röntgenstrahlen!

Also: Ich werde nicht geröntgt, zumindest nicht beim Arzt. Wer beschießt mich dann mit Röntgenstrahlen? Vor über 20 Jahren wäre das noch ein östlicher Geheimdienst gewesen, aber heute? Feindliche heidnische Verbände? Sinistere Satanisten?

 

Ich werde jetzt ein Anti-Röntgen-Ritual entwickeln (kurz ARR). Wenn das gelingt, werde ich es zu Geld machen & es Menschen anbieten, deren Geldkarten auch „fernvernichtet“ werden. Dann geht meine Karte zwar immer noch nicht, aber dann ist es mir egal, weil ich reich bin.

 

Dein Homo Magi


 

Meine EC-Karte II

 

Hallo Salamander,

 

dank tatkräftiger Chemiker-Hilfe konnte ich immerhin einen Teil der Probleme enträtseln, die sich mir und meiner EC-Karte beziehungsweise meinen EC-Karten in den letzten Monaten gestellt haben. Die längere, fachkundige Aussage lässt sich so zusammenfassen, dass das Aufbewahren von EC-Karten in Schutzhüllen so ziemlich das dümmste ist, was man tun kann.

Warum?

Es gibt zwei Arten von Plastikschutzhüllen, eine aus weichem Plastik, eine aus hartem Plastik. Die aus weichem Plastik enthält Weichmacher, die früher oder später auf die EC-Karte einwirken und diese zwar nicht zerstören, aber doch funktionsunfähig machen .Die harte Plastikhülle lädt sich durch Reibung und so weiter statisch auf, die Krümel und Staubteilchen wirken wie eine Feile beim Herein- und Herausziehen der EC-Karte aus der Schutzhülle und zerkratzen die Oberfläche schnell, so dass die Karte nicht mehr lesbar ist.

Angeblich sei das den Banken bekannt, weswegen nicht mehr einfach so Schutzhüllen bei neuen Karten mit ausgegeben werden.

 

Hey da draußen? Wer geht so mit Wörtern um? „Schutzhülle“, das impliziert die Worte „Schutz“ und „Hülle“ gemeinsam in einem Begriff, also eine Hülle, die Schutz gibt. Aber im Gegenteil scheint es so zu sein, dass die Schutzhülle den Inhalt erst zerstört.

Was wird jetzt aus Schutzmännern, Schutzhütten und Schutzkleidung? Sind die auch genau das Gegenteil von dem, was ihre Bezeichnung vorgaukelt. Muss ich jetzt Schutzhütten meiden, Schutzmänner fliehen und Schutzkleidung verweigern?

 

Alles nur wegen meiner lausigen EC-Karte …

 

Dein Homo Magi

 

Nebelflecken

 

Lieber Salamander,

 

manchmal recherchiere ich im Netz auch SF-Autoren, weil ich die Angaben für irgendwelche Artikel brauche. Die meisten Namen suche ich klüger in einem Buch nach, das in einem meiner Regale steht; in den letzten Jahren werden aber die Daten online immer besser, so dass eine Online-Suche oft Ergebnisse bringt, die man aktueller kaum wünschen kann.

So war ich dann mal auch nach der Suche nach Alexei Panshin, dessen Anthony Villiers-Romane ich antiquarisch gekauft habe und gerade verschlinge. Was durfte ich einleitend unter dem ersten sinnvollen Hit lesen:

„Alexei Adams Panshin (getragen 14. August, 1940) ist Amerikanisch Autor und Zukunftsromane Kritiker (SF). Er hat einige kritische Arbeiten und einige Romane, einschließlich geschrieben 1968 Nebelfleck-Preis- gewinnender Roman Rite des Durchgangs.[8]

Getragen? „Born“ als „getragen“ ist schon ziemlich tapfer als Übersetzung, aber den Nebula-Award[9] als Nebelfleck-Preis … großartig! Der restliche Text verweist dann klar darauf, dass hier ein Automat am Übersetzen ist:

„Panshin wird auch für die Kult Lieblingsanthony Villiers Reihe gemerkt, die aus drei Büchern besteht

Stern-Brunnen

Die Thurb Revolution

Maske-Welt

(…) [Stern-Brunnen] ist eine Galerie der Spieler, der Duelle und der Doppelkreuze, des Menuetts von Weise und der zerfleischten Weise; die Maschinerie des Universums wird auf spekuliert; Oberinspektoren kommen an, um es zu kontrollieren. Und Anthony Villiers, Herr par excellence, Schläge durch es alle, einen Swash oder zwei wölbend und pfuschen ein Paar von anderen.[10]

Das ist doch schon Phantastik an sich. „Einen Swash oder zwei wölbend und pfuschen“ wäre eine wundervolle Eröffnung für eine Geschichte. Aber es geht noch weiter:

„Seine allgemeine kritische Arbeit SF im Maß (1976) wurde auch mit Cory Panshin Co-geschrieben, wie ein langatmiges theoretisch-kritisches Buch, Die Welt über dem Hügel hinaus (1989), das gewann Hugo Preis für Nichterfindung 1990. Seine Arbeiten schließen auch eine kurze Geschichteansammlung ein, Abschied zu von gestern Morgen.[11]

Ich will auch den „Hugo Preis für Nichterfindung“[12] gewinnen! Ich will, ich will, ich will. Aber es wird noch besser:

„(…) einen Hugo Preis für beste Ventilatortätigkeit gewinnend (…)“

Das dauert eine Weile, aber auf Englisch heißt „Fächer“ auch „Fan“, von daher ist die „Fantätigkeit“ hier die Arbeit als Ventilator. Das ist auch der Grund, warum Fans früher „Beanies“ (also Propeller) auf dem Kopf getragen haben.

Langsam verlässt einen die Geduld beim Lesen … verwunderlich ist das alles nicht, steht doch oben auf der Seite „Mehrsprachiges Archiv“ und „Angetrieben durch WorldLingo“. Angetrieben … und bei einigem Wühlen im Netz stellt man dann fest, dass der Artikel Eins zu Eins aus dem englischen Wikipedia-Eintrag übernommen ist.[13]

 

Fazit: Manchmal sind Bücher doch unschlagbar als Quelle.

 

Dein Homo Magi


 

Buchstabensalat

 

Hallo Salamander,

 

mein Tischkalender auf der Arbeit („Mysterien und Rätsel 2011“) gab mir am Aschermittwoch einen „Buchstabensalat“ zum Lösen vor. Eigentlich löse ich die nicht, lese lieber die geschichtlichen Rätsel oder mache die Sachen, wo man malen kann.

Aber dieses Mal war es einfach großartig. Die Aufgabe war: „Finden Sie in diesem Rätsel acht Begriffe zum Thema Götter der Wikinger“. Zu finden waren „Asgard, Freya, Hel, Hugin, Munin, Odin, Thor, Walkuere“. Nun, das ist auf einem Feld von 12 x 6 Buchstaben nicht übermäßig schwierig, aber ich fand es trotzdem sehr unterhaltsam, wie weit heidnische (und nordische) Themen schon wieder in das Bewusstsein vorgedrungen sind, so dass man mit diesen (sicherlich einfach zu erkennenden) Begriffen schon einen Tageskalender illustrieren kann.

 

Wow.

 

Dein Homo Magi

 

Kartenspiele und Atomschmelze

 

Hallo Salamander,

 

irgendwie war mir klar, dass es sicher bald eigenartige esoterische Erklärungen für die Ereignisse im japanischen Reaktor geben würde. Als alter Karten- und Brettspieler war ich dann doch überrascht, dass jetzt wohl Kartenspieler Teil der Verschwörung sind.

Warum? Im Netz fand ich folgenden Hinweis:

„Das Kartenspiel der Illuminaten aus dem Jahre – 1995 – und die japanische Nuklearkatastrophe

Iluminati ist ein komplexes Kartenspiel, das im englischen Original von Steve Jackson Games verlegt wird. Dieses Spiel ist im Gegensatz zu (vom selben Herausgeber)[14] kein Sammelkartenspiel. Dieses wurde – 1995 – publiziert und enthält in der Rückschau unglaubliche Informationen. In diesem Kartenspiel kommen seltsame Karten vor. So wird auf einer Karte sehr deutlich die Katastrophe von – 9/11 dargestellt, das Haarp–Projekt, Bevölkerungsreduktion und viele andere – „Verschwörungstheorien” – !!![15]

Ob das Haarp-Projekt wirklich böse ist, wage ich nicht zu beurteilen. Die Einschätzung auf Wikipedia klingt nicht nach einer Superduperbösewichtewaffe, aber auch Wikipedia gehört sicherlich zu den Seiten, die von Echsenmenschen bzw. den Illuminaten kontrolliert werden. Aber dort (auf Wikipedia, nicht bei den Illuminaten) steht:

„Das HAARP (engl. High Frequency Active Auroral Research Program) ist ein US-amerikanisches ziviles und militärisches Forschungsprogramm, bei dem hochfrequente elektromagnetische Wellen zur Untersuchung der oberen Atmosphäre (insbesondere Ionosphäre) eingesetzt werden.“[16]

Zurück zu unseren Freunden von den Illuminaten-Kartenlesern und deren Artikel im Internet. Etwas weiter unten sieht man dann die Kartenkombination „Japan“, „Tidal Wave“, „Nuclear Accident“ und „Combined Disasters“ abgebildet. Auf letzterer Karte ist ein Glockenturm samt Uhrzeit zu sehen, der angeblich identisch ist mit dem „Wako-Glockenturm in Tokio“. Weiter geht es im Text:

„Ein geheimer Bericht aber sagt, dass der Angriff mit der Erdbebenwaffe auf die Millionenstadt – ” – Tokio [17] – direkt zielte, aber durch bestimmte Gegenmaßnahmen durch wen auch immer veranlasst abgelenkt werden konnte. Die Uhrzeit auf der Spielkarte des Glockenturms und die Uhrzeit auf dem – ” Wako Glockenturm ” – von Tokio zeigen exakt und identisch die Uhrzeiten an, als die Katastrophe in Japan ihren Anfang nahm – Welch ein Zufall aber auch !!!“[18]

Nun, das Originalspiel „Illuminati“ hat 110 Karten[19], dazu kommen zwei Erweiterungssätze mit 125 bzw. 100 Karten.[20] Das macht zusammen 335 Karten. Die obige Kombination zu Japan verwendet vier Motive, ohne zu erklären, ob sie aus dem Grund- oder dem Ausbauspiel kommen. Für das Grundspiel gibt es schon 100 * 99 * 98 * 97 Kombinationen für vier Karten, also lächerliche 94.109.400 Kombinationsmöglichkeiten. Bei 335 Karten sind es für vier Karten 335 * 334 * 333 * 332 Kombinationsmöglichkeiten, also etwa 12 Milliarden. Da sollte nicht nur für jeden Menschen der Erde eine eigene Kombination dabei sein, sondern auch für jede Katastrophe der letzten (und nächsten) 2.000 Jahre.

 

Nebenbei: Mit Tarot-Karten geht das sicher auch, das ist in den letzten paar Jahrhunderten bewiesen worden. Aber das ist nicht halb so beeindruckend, wie die „Entdeckung“, dass eine US-Firma über geheime Informationen verfügt und diese auf Spielkarten herausgibt.

 

Dein Homo Magi

 

Alte Hallen

 

Hallo Salamander,

 

vor ein paar Wochen stand ich wieder einmal an einer Stelle, von der ich einmal glaubte, nie wieder an ihr zu stehen. Vor vielen Jahren und bei einem heidnischen Verein, dessen Name nicht genannt werden soll, kam es in dieser Halle zu einem größeren „Massaker“. Unschöner Verlauf, unschöne Kommentare, unschönes Verhalten. Ergebnis war, dass eine Menge Leute, die daran teilgenommen haben, heilige Eide schworen, nie wieder auf so ein Treffen zu kommen. Man spritzte Gift, man beleidigte sich gegenseitig, man weinte. Es war nicht schön.

Es hat ein Jahrzehnt gedauert, um den Ort, einen heidnischen Verein und einige der damals Anwesenden wieder an diesen Platz zu kriegen. Es war viel Arbeit, aber ich habe sie nicht bereut. Es waren „nur“ 17 Leute (meiner Zählung nach) in der Menge, die „damals“ dabei waren. Ich habe mich über jeden Einzelnen gefreut. Und meine größte Freude war, dass einige der alten Ärgernisse aus der Welt geschafft werden konnten. Die Zeit heilt nicht alle Wunden, aber einige dann doch. Wenn man guten Willens ist, dann geht so etwas.

 

Zur Eröffnung des Abends hatte ich ein paar Zeilen geschrieben. Und ich gebe gerne zu, dass ich selten solche Schwierigkeiten hatte, meine Gefühle in Worte zu fassen. Hier mein Gedicht für diesen Abend:

„Ich stand schon einmal vor den Massen,

hier in diesen Säulenhallen,

und obwohl die Schlacht verloren

sind die Verlierer nicht gefallen.

 

Weder Geister noch Gespenster

zogen viele Jahre sie

durch die Weiten aller Welten,

zogen fort, verharrten nie.

 

Nur der Freunde stetes Rufen,

lockt sie aus der Ferne fort,

und so sammeln sich die Geister

wieder hier, an diesem Ort.

 

Unser Dank sei nun euch allen,

da ihr Zauber möglich macht,

und das Feuer, das fast Asche,

voller Flammen habt entfacht.“

 

Dem ist wenig hinzuzufügen.

 

Dein Homo Magi

 

In arte voluptas

 

Hallo Salamander,

 

vor einigen Monaten war ich zum Erwerb der internen Thor Steinar „Festfibel“ in einem entsprechenden Laden. Die Marke dürfte bekannt sein:

„Thor Steinar ist eine Bekleidungsmarke der MediaTex GmbH.

Der Brandenburger Verfassungsschutz, einige zivilgesellschaftliche Organisationen und Antifa-Gruppen sowie die meisten Medienberichte sehen in Thor Steinar ein Erkennungsmerkmal der neonazistischen Szene. In der Öffentlichkeit wird Thor Steinar meist in diesem Zusammenhang thematisiert. Das Tragen von Thor-Steinar-Kleidung ist unter anderem im Deutschen Bundestag, im Landtag Mecklenburg-Vorpommern, an der Universität Greifswald, sowie in zahlreichen Fußballstadien verboten.“[21]

Zur Festfibel selbst braucht man wenig sagen, die Jubeltexte im Internet sind deutlich genug:

„Das durchgehend bebilderte Buch gibt dabei auch Hinweise auf mögliche, zeitgerechte Formen des Feierns mit Freunden und Familie. »Ein Buch voller Geheimnisse«, heißt es hierzu im aktuellen Katalog von Thor Steinar. Tatsächlich werden interessante Sichtweisen und historische Besonderheiten präsentiert, die so den meisten Lesern noch nicht bekannt sein dürften. Denn nicht nur Feste und Feiern werden in der Festfibel vorgestellt, sondern auch die Geschichte der Kelten und Germanen, die der rätselhaften »Katharer«, die Hexenverfolgung, Luzifer und der Werdegang des »Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation« sind Themen des Werkes. Eine besondere Position nehmen dabei auch die Betrachtungen zur Sonne und zum Mond ein. Beide sind schließlich die Grundlagen der Sonnen- und Mondfeste Mittel- und Nordeuropas.“[22]

 

Ich habe es verrissen, wie keinen verwundern dürfte:

„Die Festfibel – Ein Ratgeber für alle Jahreszeiten

Zeesen, 2009

 

Formal besteht das 200 Seiten starke Buch, das sich auf dem Umschlag nur »Festfibel« bzw. auf dem Rücken »TSB 1« (wohl für »Thor Steinar Buch 1«) nennt, aus mehreren Kapiteln, in denen der heidnische Jahreskreis beschrieben wird.

Es gibt keine Autorenangabe, nur das Vorwort hat die Unterschrift »Rainer Schmidt«[23], ansonsten stammt das Buch von »verschiedenen Autoren«[24].

Das Buch ist nicht über den Buchhandel erhältlich: »Es ist als Manuskript gedruckt und dient als Treuegabe für unsere Mitarbeiter und Stammkunden. Es ist unverkäuflich und dient nicht kommerziellen Zwecken. Bei Abgabe an Dritte wird lediglich eine Schutzgebühr erhoben.«[25] Also muss man in einen Laden, wenn man das Buch erwerben will. Nun gut, damit kann man leben.

Nach einer Einleitung, die unter anderen Literatur, Kalender und Neuheidentum abhandelt, folgten Kapitel über Sonne, Mond, Ostern, Hohe Maien, Sommersonnenwende, Schnitterfest, Erntedankfest, Totengedenken, Julfest/Weihnachten/Wintersonnenwende und Fastnacht/Karneval/Winteraustreibung samt einem »Schluß«.

Das Ganze ist eher keltisch denn germanisch-heidnisch angehaucht, sehr üppig illustriert und eigentlich unterhaltsam zu lesen. Lustig sind die Untertitel der Bilder; Hinweise wie »Erzengel Michael, ist er auch der deutsche Michel? Eine nicht belegte These.«[26] sind maximal unterhaltsam, aber eben ohne Beleg nutz- und sinnlos.

Autoren werden keine genannt; an Hinweisen auf Verlage und heidnische Autoren finden sich nur Geza von Nemenyi, Arun und der Kersken-Canbanz-Verlag.[27] Über von Nemenyi heißt es: »Ehemaliger Politiker der Partei „Die Grünen“ und Autor von Büchern zum Thema Heidentum, Runen und Feste. Geza von Nemenyi ernannte sich selbst zum „Allsherjargoden“, dem obersten Priester des Altheidentums.«[28] Das im Text folgende von Nemenyi-Zitat ist dann ohne Quelle – nur mit »[s]o meint der Oberdruide«[29] kommentiert.

Verwiesen wird mehrmals im Buch auf Otto Rahn[30] – gut zu lesen, aber politisch nicht mein Ding; immerhin war Rahn im III. Reich Mitarbeiter im »Rasse- und Siedlungshauptamt« (RuSHA) der SS.

 

Das Buch ist in der »richtigen Schreibweise«[31], offensichtlich der (alten) Rechtschreibung, gehalten. Auch das kann man dem Verlag nicht verübeln; selbst der obligate Hinweis darauf, dass die weibliche Form immer mit gemeint sein könnte, fehlt – man verweigert sich also allen Regeln des »Establishments«, was meiner Ansicht nach der Lesbarkeit nicht zugutekommt. Aber auch nach der alten Rechtschreibung ist »beweißt«[32] ein Schreibfehler …

Zitate sind oft Glückssache, so heißt der Elchspruch aus dem »moderne[n] Volksmund« nicht »Die größten Feinde der Elche waren früher selber welche«[33], sondern er ist von Bernstein und lautet »Die schärfsten Kritiker der Elche / waren früher selber welche«[34]. Und für »Bunt sind schon die Wälder« keinen Autoren zu benennen[35], wo man doch mit zehn Sekunden im Internet finden kann, dass es sich um das »Herbstlied« (1782) von Johann Gaudenz Freiherr von Salis-Seewis[36] handelt, ist Faulheit, sonst nix. Der »Child Herold«[37] von Heinrich Heine ist in Wirklichkeit der »Childe Harold«[38] und Quellenhinweise wie »Onlineausgabe, nicht mehr abrufbar« zu »Meyers Lexikon«[39] machen Quellenkritik sehr schwer.

Es ist auch nicht angegeben, welche Bibelausgabe zu Rate gezogen wird. Auf derselben Seite wird von »EU« und »LUT« gesprochen[40], aber ob damit wirklich die »Einheitsübersetzung« und die »Lutherbibel« gemeint sind, bleibt ungeklärt.

Einige Male scheint der fremdsprachliche Font nicht zu funktionieren, so dass der Teufel »von griechisch ÄeÜaieio«[41] abgeleitet wird und »bemalte Eier« auf Ukrainisch »Ienaiee« heißen[42]. Wenn man sich schon bei einer Lektorin bedankt, die »das Schlimmste verhindern konnte«[43], dann überlegt man schon, was »das Schlimmste« gewesen wäre.

Oft sind die Texte ein wenig naiv: »Lange bevor sich die heute bekannten großen Religionen verbreiteten, lebten die Menschen in unseren Breitengraden im Rhythmus der Natur, wie es dieses Bauernlied beschreibt.«[44] Das wird dann mit dem Liedtext von »Im Märzen der Bauer« dekoriert. Fragen wie »Und erkennen wir nicht auch in der Maske des Narrs den schalkhaften und listenreichen Loki, der Baldur tötete?«[45] müsste ich ehrlich mit »Nein« beantworten.

 

Politisch ist das Buch einige Male obskur – »Vielleicht eine Andeutung auf die kindsmordende Hexe, in der man die heute abtreibende Mutter sehen könnte?«[46] Da ist die Gesellschaft doch einen Schritt weiter, was (begründete) Abtreibungen betrifft.

Aber das Buch ist eben nicht erkennbar faschistisch oder rechtsradikal. Es ist schludrig lektoriert, die Quellen sind inkomplett, die Beiträge sind oberflächlich, dennoch aber nett zu lesen, die Schlussfolgerungen sind eigenartig und so weiter. Wenn nicht »Thor Steinar« drin stehen würde, hätte ich es mir nie gekauft … auch eine Art, Geld zu verdienen.

 

Wie heißt es im »Ausblick«: »Was bleibt, ist das Bewußtsein, auf eine lange, kulturelle Entwicklung zurückblicken zu können und auf dieser Basis etwas Neues bauen zu können. Was, wie schon gesagt, jeder selbst tun kann. Ob dies dann tragfähig ist und bleibt, wird sich zeigen.«[47] Richtig. Das könnte aber unter jedem Buch über Religion, das Allgäu, Politik, Mythologie oder Fahrzeugmechanik stehen.“

 

Soviel dazu. Verwundert war ich damals, dass die beiden blonden Mitarbeiter zwar rausgingen, um nach meinem Auto zu schauen, ihnen aber an meinem Skoda nix auffiel, dass sie zum Nachdenken hätte bringen können. Inzwischen bin ich der Ansicht, dass mein Schlaraffen-Aufkleber „In arte voluptas“, das Motto der Schlaraffia[48], an allem schuld ist. Die Übersetzung ist eigentlich einfach:

„Die Schlaraffia ist eine am 10. Oktober 1859 in Prag gegründete, weltweite deutschsprachige Vereinigung zur Pflege von Freundschaft, Kunst und Humor. (…) Der Wahlspruch der Vereinigung lautet »In arte voluptas« (etwa: in der Kunst liegt Vergnügen).“[49]

 

Ich denke, dass die Blondlinge „arte“ lasen und glaubten, das wäre eine obskure Umschreibung zu einer Nähe zur Artgemeinschaft oder eine Bekenntnis zu Blut und Boden und Rasse und Raum. Auch wenn die Erklärung nicht stimmt, so ist sie doch lustig genug, dass ich sie hier wiedergebe.

 

Dein Homo Magi


 

Parkplatz-Nazis

 

Hallo Salamander,

 

es war an des „Führers Geburtstag“ (20.04.). Ich hatte morgens schon überlegt, in welcher Stadt heute eine Demonstration verhindert, ein Aufmarsch unterbunden würde. Ich hatte mich vorbereitet auf die Fotos von glatzköpfigen Gurkennasen, die gegen Demokratie und Ausländer und diverse andere Dinge demonstrierten.

Nichts.

Dafür durfte ich morgens beim Besuch meiner Mutter zwei Parkplatz-Nazis gegenübertreten. Ein paar Worte der Erklärung sind angebracht. Seit über 25 Jahren parke ich auf dem großen Parkplatz des Nachbarhauses, wenn ich meine Mutter besuche. Eigentlich tun das alle anderen Besucher auch (und nicht nur die meiner Mutter!). Der Parkplatz war in den über 25 Jahren ein einziges Mal fast voll, das war vor vielen Jahren an Weihnachten während einer Schneekatastrophe. Davor und danach war der Parkplatz nie mehr als zur Hälfte gefüllt.

Seit einigen Jahren sind einige Stellplätze an einen Pflegedienst vermietet, aber immer noch sind immer mindestens zehn Stellplätze frei, wenn ich auf den Parkplatz fahre. Dazu kommt, dass ich mir – nachdem es vor einigen Jahren mal Ärger mit Nachbarn gab – eine Vollmacht der vermietenden Firma besorgt habe, dass ich als Besucher unbehelligt auf dem Parkplatz stehen darf. Damals hatte ein wütender Nachbar mich zugeparkt, beschimpft und mir angedroht, die Polizei zu rufen. Die habe dann ich gerufen und ihn wegen Nötigung angezeigt (und drangekriegt).

Auf jeden Fall fahre ich einigen Familienangehörigen im Auto zu des Führers Geburtstag (kein Zusammenhang!) auf den Parkplatz, parke ein und lasse meine Familie aussteigen. Sofort kommt ein schimpfendes Ehepaar von ihrem Auto herüber gerannt, droht sogleich mit „Polizei“ und „Abschleppdienst“ und behelligt mich mit einigen Formulierungen, die mir nicht gefallen haben.

Also blieb ich ganz ruhig und bat das Männchen (als Mann kann man den Schimpansen einer Herde auch nicht bezeichnen) mit einladender Geste, doch einen Blick auf meine Windschutzscheibe zu werfen. Dort läge eine Vollmacht, dass ich hier parken dürfte.

„Von wem?“

„Vom Vermieter“, antwortete ich.

„Welchem Vermieter?“

Ich gab den Namen der vermietenden Organisation an. Er warf überhaupt keinen Blick auf den Zettel, beschimpfte mich noch ein wenig, zog sich aber mit seinem Weibchen zurück. Hätten sie Keulen gehabt, sie hätten sie geschwungen.

Ich ging zu meiner Mutter Kaffee trinken.

 

Als ich später wieder zum Auto ging, hatte das Pärchen weitere Nachbarn mobilisiert, die mit zusammengezogenen Augenbrauen zuschauten, wie ich den Parkplatz verließ. Wahrscheinlich gehe ich in ihre Gespräche am Lagerfeuer ein als „Er-der-parken-darf“ oder als „Der große Chromgott von außerhalb“. In mein Leben gehen sie ein als „Möchtegernnazis aus dem Nachbarhaus“ oder „Parkplatz-Blockwarte“.

 

Führers Geburtstag. Wann sonst?

 

Dein Homo Magi

Man redet nicht über Lohn

 

Werter Salamander,

 

ist dir eigentlich schon einmal aufgefallen, dass wir uns über intime Dinge weniger unterhalten als über unseren Lohn? Wir reden im vertrauten Kreis über Krankheiten, über Sex (und wenn auch nur im Zusammenhang Männer-Männer oder Frauen-Frauen), wir sprechen über Anschaffungen und Kollegen, über gute Bücher, Filme oder Musik. Aber wir reden nicht über Lohn.

Schon über Geld, denn wir vergleichen die Anschaffungspreise für DVDs oder Bücher, reden über Übernachtungskosten, ein gutes Essen oder Flüge. Aber wir reden nicht darüber, wie viel Prozent unseres Einkommens benutzt werden, um diesen Standard zu halten.

Ich habe es in den letzten Monaten ein paar Mal versucht, über Geld zu reden. Einfach, weil ich bestimmte Dinge nicht zahlen wollte oder konnte und nicht einsehe, warum ein großer Teil meiner Einnahmen für Dinge draufgeht, die ich nicht für wichtig halte (sondern nur für den Status-fördernd …). Also bot ich an, dass wir über Gehalt reden. Das ging überhaupt nicht. In zwei Fällen schaffte ich es, einen Austausch über Gehalt so hinzukriegen, dass wir beide (es waren immer Männer-Männer-Paarungen, da geht es für mich irgendwie besser) unser Einkommen auf einen Zettel schrieben und gleichzeitig dem anderen über den Tisch schoben. Das scheint die Bereitschaft zu mindern, das eigene Einkommen zu übertreiben, um den anderen zu übertreffen.

Das Tabu, das dahinter zu liegen scheint, verwirrt mich. Es scheint kein gesellschaftliches Tabu zu sein, denn bei Streikaufrufen liest man schon von erwarteten oder erkämpften (Mindest-)Löhnen, aber das sind Gruppenvergütungen, die nicht so einfach auf einen einzelnen Menschen heruntergebrochen werden können.

Ich denke, es halt sich um eine erworbene Eigenschaft, ein anerzogenes Tabu. Wenn wir alle glauben, dass wir genug verdienen, um zum Mittelstand zu gehören, glauben wir alle, dass wir mit der Gesellschaftsform zufrieden sein müssten. Wir glauben, dass wir akzeptabel verdienen, uns alles leisten können und verkaufen dafür unseren Willen, gegen das „System“ Widerwillen zu spüren.

 

Eine eigenartige Vorstellung, ich weiß, aber ich glaube, das sie richtig ist. Es gibt ein Lohn-Tabu, das uns klein hält – und jene groß, die nicht von Lohn (oder Arbeitslosengeld) leben müssen. Geld ist ohne Wichtigkeit für die spirituelle Entwicklung, Geld ist ohne Wichtigkeit für das nächste Leben, Geld ist ohne Wichtigkeit für das Seelenheil. Und Lohn ist Geld, nicht mehr und nicht weniger.

 

Ich werde da wohl noch ein wenig nachdenken müssen.

 

Dein Homo Magi

 

Das Geschenk der Akasha-Chronik

 

Hallo Salamander,

 

ich glaube eigentlich nicht daran, dass es irgendwo im Universum eine Chronik gibt, in der alles aufgezeichnet ist. Erstens bräuchte eine Speicherbank, der in der alles gespeichert ist, wegen der vergehenden Zeit und der Datenmenge, um den Kosmos in allen Zuständen abzubilden, mehr Platz als der Kosmos, den sie speichern will, außerdem wäre die Zukunft sicher, denn alle Daten sind bereits gespeichert. Das ist ein Konzept, mit dem ich mich nicht anfreunden kann.

Das Universum und das Göttliche offenbaren sich weder in Kornkreisen, noch in Palmblättern noch in Chroniken im Herzen der Milchstraße. Sollten sie das trotzdem tun, sind sie als Gottheiten für mich nicht interessant – aber bis jetzt habe ich Hoffnung, dass dem nicht so ist.

 

Vor ein paar Tagen saß ich im Kino in „Die Mondverschwörung“. Toller Film, da werden wirklich Esoteriker, Alt-Faschisten, Reichsflugscheibensucher, Alt-Reich-Anhänger, wirre Paranoiker und Antisemiten gezeigt, wie sie wirklich sind. Ohne Maske, ohne Hirn. Einige tun einem leid, andere machen einem Angst, wieder andere sind … völlig durch den Wind.

Es war ein Regiegespräch, der Filmemacher war im Kino und stellte nachher dem Publikum Fragen (ja, das war seine Vorbedingung, er wollte die Reaktionen des Publikums testen). Der erste Einwand aus dem Publikum war berechtigt – es ist kein Dokumentarfilm, sondern eher ein Lustspiel. Nach einem kleineren Wortgefecht ging der Kritiker und der Filmemacher stellte dem Publikum Fragen.

Erst wollte ich Frage 1 und 2 nicht beantworten, aber nachdem die so tolle Preise bekamen (eine Flasche Mondwasser beziehungsweise ein Glas, das Wasser energetisch auflädt) habe ich mich dann doch beteiligt. Frage Nummer 3 war „Wie heißt die uralte Chronik, die …“ – da schrie ich schon „Akasha!“ Ich bekam meinen Preis, ein Originalrequisit aus „Die Mondverschwörung“ gleich zum Mitnehmen vom Regisseur selbst in die Hand gedrückt – ein doppelter Kerzenhalter mit einem geflochtenen Mond am Ständer. Jetzt bin ich also der Akasha-Papst meiner Heimatstadt, weil ich in Kinos Fragen beantworten kann, an die sich sonst keiner herantraut. Mein Image sackt in den Keller, aber ich habe einen Kerzenständer.

 

Wow! Damit dürfte ich in meinem Bekanntenkreis der erste Mensch sein, dem die Akasha-Chronik wirklich einen Gewinn gebracht hat!

 

Dein Homo Magi

 

Eigenartige Meldungen

 

Lieber Salamander,

 

das Wochenende verbrachte ich damit, an einem großen Brettspiel teilzunehmen. Es heißt „Das Ewige Spiel“ und spielt auf der Fantasy-Welt „Magira“. Wikipedia hilft, um das Spiel kurz (na ja) zu beschreiben:

„(…) Auf der Spielplatte werden Hauptstädte, Städte und Märkte festgelegt, die gemeinsam als Handelszentren oder Rüstzentren bezeichnet werden. Spielziel ist es, möglichst viele dieser Handelszentren zu erobern. Das Land wird zu Spielbeginn entweder an die Spieler verteilt, oder jeder erhält nur ein kleines Urreich, und die anderen Handelszentren bilden Nicht-Spieler-Reiche, die erobert werden können.

Jeder Spieler erhält eine gleiche Zahl von Kriegern sowie Baueinheiten, die in Kriegsgerät und Gebäude umgewandelt werden können. Zur Auswahl stehen Tiere wie Pferde und Elefanten, Geräte wie Onager, Leitern, Belagerungstürme, Schiffe wie Segel- oder Langschiffe, Bauwerke wie Gräben, Mauern oder Türme. Die Magie kommt durch Fabelwesen und Zauberer ins Spiel.

In einer Runde kommt jeder Spieler an die Reihe: Er zieht erst seine Einheiten, dann können die Einheiten Handlungen ausführen und kämpfen. Unterschieden werden Nah- und Fernkampf. Figuren- und Geländeeigenschaften beeinflussen, welche Mindestwerte der Wurf mit drei Würfeln haben muss, damit ein bestimmtes Ergebnis erzielt wird: Sieg oder Überleben eines Kriegers, Untergang eines Schiffes, Zerstörung eines Turmes usw.

Der Kampf bildet die taktische Ebene. Die strategische Ebene besteht darin, dass die Spieler frei Bündnisse miteinander schließen können. Wenn man möchte, kann das taktische Kampfsystem in eine Weltsimulation eingebettet werden, das Regeln für ein Friedensspiel vorgibt. Jeder Spieler denkt sich für sein Reich eine Kultur aus, die an fantastische oder historische Vorbilder angelehnt sein kann oder völlig frei erfunden ist. Da die Spielregeln darauf ausgelegt sind, einen dauerhaften Sieg eines Spielers zu erschweren, dauert das Spiel leicht viele Spielabende, so dass zwischen den Spielen diese Kulturen ausgebaut werden können. Hierfür gibt es Erweiterungen der Regeln wie Großrunden, Geheimaufstellungen, Spähen, Rüsten, Jahreszeiten.

Das Ewige Spiel auf Magira wird jedes Jahr auf dem Fest der Fantasy weitergespielt, auf inzwischen vier Spielplatten, und auch nach vierzig Jahren ist ein Ende nicht in Sicht. Die Regeln des Ewigen Spiels werden jedes Jahr weiterentwickelt, entsprechen im Wesentlichen aber immer noch dem ursprünglichen Armageddon. (…)“

Die Welt „Magira“ hat sogar ebenfalls einen Wikipedia-Eintrag:

„Ursprünglich bestand Magira aus mehreren Kontinenten, die um ein Binnenmeer herum angeordnet und vom Endlosen Ozean umgeben sind. Die Welt enthielt viele verschiedene Länder und Kulturen, die unterschiedlichen Vorbildern aus Antike und Mittelalter nachempfunden sind. Dabei entspricht die geographische Anordnung der einzelnen Länder auf dem Urkontinent Magira in groben Zügen der geographischen Anordnung der Vorbildkulturen in der realen Welt. So liegt beispielsweise das dem frühmittelalterlichen Britannien ähnliche Land Albyon im Nordwesten Magiras, so wie das reale Britannien im Nordwesten der im Mittelalter bekannten Welt liegt. Aufgrund der Vergrößerung des Vereines und immer neuer Kulturen wurden im Laufe der Jahrzehnte mehrere weitere »Welten« hinzugefügt, die über den »Endlosen Ozean« miteinander verbunden sind. So gibt es die Yddia oder »Westliche Welt«, die Estliche sowie eine kleinere aus vielen Inseln bestehende »Randwelt« und einen Pol. Die Nähe zu realen irdischen Vorbildern wurde dabei immer mehr verlassen, inzwischen existieren auf der Welt Magira auch Zwergenreiche, Elfenwelten, geflügelte Humanoide, finstere Horden, Gestaltwandler u.v.m.“[50]

 

Das ist noch nicht das Thema meiner Geschichte, aber ein Einstieg. Spieler 1 war verhindert, also musste Spieler 2 für ihn eine Vertretung übernehmen. Spieler 1 war aber neugierig, wie es voranging, und bat daher Spieler 2, ihn per Meldungen auf das Handy zu informieren. Das Handy ist ein Teufelsinstrument, und wenn man die falsche Nummer wählt und der Besitzer keinen Namen auf seiner Mailbox hat, dann wird es eigenartig.

Die Meldung auf die fremde Mailbox war nämlich: „Du, ich habe Titica für dich erobert!“ Nun ist Titica eine Stadt auf dem Kontinent Hondanan der alten Welt, aber ob das unanständige Missverständnis, das sich bei dem Namen fast aufdrängt, dem Besitzer der Mailbox entgeht, wage ich zu bezweifeln. Jetzt bleiben nur zwei Hoffnungen: erstens keine Nummernübertragung, zweitens dass der Besitzer der Handy-Nummer keine Schwester und keine zwölf waffenfähigen Freunde hat.

Und das alles nur wegen eines Simulationsspiels …

 

Dein Homo Magi

 

Muttersprache

 

Hallo Salamander,

 

ich gebe es zu, ich habe einige klare Ideen im Kopf, was Wörter bedeuten mögen. Bei „Sommermärchen“ denke ich erst an Shakespeare und seinen „Mittsommernachtstraum“, dann kommt irgendwann mal Fußball gleichauf mit den Brüdern Grimm.

Aber die Broschüre, die ich am Wochenende in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ fand, war zwar mit „Sommermärchen“ überschrieben, titelte aber dann weiter: „Unterwegs zu den führenden Resorts und Destinationen“. Denglisch-Alarm, sinnlose Wörter, die englisch sind (oder sein könnten), aber Deutsch klingen sollen.

„Sommermärchen“, so ein wundervolles, unproblematisches Wort ohne geheime Nebenbedeutungen, dann die „Resorts“ und „Destinationen“. Immerhin ist „Re-Sort“ hier kein Pfandflaschensystem und „Destin-Ation“ hat nichts mit Schicksal („destiny“) zu tun. So wäre dann „Destin-Ation“ wohl Grabpflege … ist es aber nicht.

Ich bin kein Verteidiger einer reinen Sprache; Sprache verändert sich, adaptiert, mutiert. Ich verstehe aber nicht, warum der „Tolpatsch“ zwei „l“ haben muss, warum das gute alte „ß“ immer mehr verschwindet, oder warum es „Destinationen“ geben muss („Ziele“ hat nicht mehr gelangt, oder?). „Sommermärchen. Unterwegs zu den führenden Brain-Pains und Badnames“ – das wäre zumindest ehrlich.

Aber es gibt ja auch Magie und Magick (und Magic und Magik) im deutschen Heidentum, auch hier schöpft man versuchsweise ein Wort neu, um sich abzugrenzen – „Sommermagie – unterwegs zu den führenden Resorts und Destinationen“ klingt aber schon nach einer Marketing-Idee. Oder?

 

Dein Homo Magi

 

Heidnische Glücksspiele

 

Hallo Salamander,

 

kürzlich fiel mir bei einem Außentermin ein Hinweis auf ein Kuhroulette in die Finger. Ich wollte es nicht glauben, war da irgendwie unbedarft. Vielleicht fehlt mir die Nähe zum „Nährstand“, vielleicht ist es mein Unwillen, den Sinn der Menschen nach sinnloser Unterhaltung einschätzen zu wollen.

Aber ich habe meine Suche nicht weit führen müssen, denn schon der erste Treffer bei Google (www.kuhroulette.com/) war eindeutig. Es geht um Kuhfladen und den Abwurf derselben auf einem Feld. Da darf man vorher Geld drauf setzen.

Cool und sicherlich zutiefst heidnisch. Keine Technik, kein Plastik, kein moderner Schnickschnack. Sollte man auf einem Heidentreffen mal als Pflichtprogramm einführen – neben Schweinepoker, Hühner Mah-Jongg und Pferde-Skat. Wird sicher ein Renner.

 

Und tief in mir drinnen regt sich eine Stimme, die sich fragt, wer sich so etwas ausdenkt. Wahrscheinlich dieselben Gehirne, die bei Wettbewerben Schweine werfen lassen oder Hähne in eine Kampfarena stecken. Ich esse Fleisch, bin also für eine Tier-Kuschler-Fraktion nicht zu gewinnen und glaube weiterhin, dass Veganer von der Vega kommen, aber das geht irgendwie zu weit. Schluss mit dem Kuhroulette! Gebt den Kühen ihre Ehre wieder!

Lang lebe Klarabella Kuh![51] Sie sei unser gemeinsames Zeichen für Widerstand gegen die Entweihung der Kühe!

 

Dein Homo Magi

 

Amazing Grace

 

Hallo Salamander,

 

in den letzten Jahren bin ich zwei Mal gefragt worden, was ein Verstorbener zur Beerdigung gespielt haben möchte. Okay, ich bin da ein gebranntes Kind, seit vor vielen Jahren ein Freund aus dem Fantasy-Fandom für die Trauerfeier von seiner Witwe alles rausgestrichen bekam, was nach Fantasy klingt. Im Lebenslauf war kein Wort davon zu hören, im Nachruf war kein Wort davon zu hören … aber die Musik aus dem „Herr der Ringe“-Film, die hat sie wohl nicht erkannt. Und so weinten nur die 15 anwesenden Fantasy-Fans, als die Musik kam … der Rest der Kirche wusste nicht, was gerade geschah.

Schrecklich.

 

Als mein Vater starb, konnte ich meine Mutter irgendwie nicht überzeugen, ein Stück aus „Die Blume von Hawaii“ zu spielen, am besten „Bin nur ein Jonny“. Hätte gepasst, aber … so sangen wir Tersteegen und Schubert. Als jetzt ein guter Freund starb und mich die Familie fragte, entschied ich mich für „Von guten Mächten“ mit dem Text von Bonhoeffer.

Aber das nächste Mal, wenn ich gefragt werde, was jemand zur Beerdigung hören wollte – und wenn dann wieder alle glauben, dass sich es wissen müsste, weil der Verstorbene mir doch bestimmt gesagt hat, was … dann sage ich wie aus der Pistole geschossen „Amazing Grace“, und natürlich wollte der Verstorbene, dass es ein Dudelsackspieler mit Schottenrock am offenen Grab spielt. Ehrlich.

 

Also: Vorsicht! Wenn ihr mit mir an einem Grab steht und es läuft „Amazing Grace“ dann schaut nicht rüber, weil ich nicht weiß, ob ich meine Gesichtszüge kontrollieren kann und nicht vielleicht doch in mich hinein lächele.

 

Dein Homo Magi


 

Geruch des Todes

 

Hallo Salamander,

 

vor einigen Wochen verstarb ein enger Freund. Das Herz gab auf. Da er nicht zur Arbeit erschien, musste man seine Wohnung aufbrechen lassen. Da hatte er aber schon drei Tage tot in der Wohnung gelegen.

Nun liest man immer wieder von Leichengeruch, von Wohnungen, in denen Tote über Wochen gelesen haben. Das war hier nicht so. Der Tod trat an einem Sonntag ein, Dienstag kamen tagsüber Notarzt und Polizei. Diese nahmen die sterblichen Überreste mit. Mittwoch war ich dann in der Wohnung.

 

Vom Kopf her war ich auf alles vorbereitet. Ich hatte mir vorher ausgemalt, wie das werden würde. Was mich erwarten würde. Wie ich damit umgehen könne. Aber dann war doch alles anders. Der Geruch nach Tod – nicht nach süßer Verwesung, nicht nach Krankheit, es ist ein anderer Geruch, schwer zu beschreiben, weil man ihn sofort vergisst und nie vorher kannte und doch immer wieder weiß, was es war – ist wie ein Schlag in den Nacken. So, als würde das Großhirn kurz überbrückt und das Kleinhirn würde sofort umschalten und Bilder blitzen. „Aas“, „Tod“, „unrein“ oder so ähnlich könnten die Bilder lauten, die mein Kleinhirn an mein Großhirn funkte.

Alles rationale Denken wir in der Wirbelsäule wie abgeschnitten, im Kopf kamen nur noch Bilder an.

Fluchtreflex. Ekel. Abscheu.

Durchatmen.

Ekel. Abscheu.

Durchatmen.

Ekel.

Nicht darüber nachdenken, dass der Geruch alles ist, was von deinem Freund geblieben ist. Dann wird es langsam besser. Sehr langsam, aber es geht.

 

Wir haben unser Sterben in Kliniken verbannt, unseren Tod aus den Wohnungen geholt. Wir haben uns die Chance genommen, uns darauf vorzubereiten. Jetzt, wenn der Sensenmann in unser Leben tritt, kommt er unvermittelt und wir sind unvorbereitet.

Es sind nicht die großen Katastrophen, die unser Leben bedrohen. Es sind die kleinen Katastrophen, gegen die wir uns sichern wollen und gegen die wir uns daher nicht durch Erfahrung „impfen“. Umso schlimmer kommt es dann, wenn sie dennoch zuschlagen.

 

Dein Homo Magi


 

Bücher

 

Lieber Salamander,

 

kürzlich las ich mal wieder ein Buch. Mich von einer eigenartigen Seite aus nähernd kam ich in den Besitz von Martin P. Starrs „The Unknown God – W.T. Smith and the Thelemites“[52] (okay, es war ein Geschenk). Smith war ein Crowley-Schüler in den USA; die Beschreibung seines Lebens fand ich schon ausgesprochen interessant. Aber viel interessanter fand ich folgenden Satz: „Books were essential magical weapons.“[53] – „Bücher sind unverzichtbare magische Waffen.“ Dem kann ich mich anschließen.

Ich habe zwar einen Ritualdolch (das erste Werk eines sehr guten Messermachers, der mir einen Kirschholzgriff besorgte), eine Schale (wenn ich ein wenig wühle, finde ich sie auch), einen Umhang (der aber aussieht, als wäre ich Teil einer Laienaufführung eines beliebigen Shakespeare-Stückes), Rauchgut und Räucherkohle, aber wenn ich Magie wirken will, dann nehme ich Gegenstände nur wegen der Optik und halte mich an das „Magie nur mit den Händen“-Prinzip. Dieser Ansatz, liebevoll von den Lippen Vincent Prices gestohlen, hat mir die ganzen Jahre immer genützt.

Und diese Magie nur mit den Händen ist nur wirksam, wenn man vorher Geist und Hände mit Bildern, Worten und Gesten füllt. Bilder aus Büchern, aus Liedern, aus dem Theater, aus Gedichten, aus eigenen Erlebnissen und am Lagerfeuer erzählten Geschichten. „Bücher verlängern die gefühlte Lebenszeit“, so heißt der Spruch. Mir geht es genauso. Ich kann in Büchern versinken, sie fressen, in ihnen aufgehen – und sie sind magische Waffen. Erstens vermitteln sie gekonnt jedem Besucher das Gefühl, ich sei ein belesener Mensch. Und da die ganzen Nicht-Leser „belesen“ mit „weise“ gleichsetzen, komme ich damit ganz gut klar. Zweitens haben sie über die Jahrzehnte hinweg meinen Sprachschatz verbessert. Ich kann mich besser ausdrücken, habe einen größeren Wortschatz und wirke damit intelligenter. Der Zusammenhang „intelligent“ mit „weise“ kann aus obigem Punkt gefolgert werden. Drittens verlängern sie subjektiv die Lebenszeit. Da „älter“ und „weise“ … wir verstehen uns. Viertens kann man sie hervorragend werfen, wenn einen jemand nervt. Kein Zusammenhang mit „weise“, aber der „weise Narr“ ist eine wichtige magische Figur, die man durch solche Handlungen zumindest in der Wahrnehmung der Umwelt erreicht.

Also: Vier Gründe für Bücher als magische Waffen. Ich darf also weiter lesen.

 

Dein Homo Magi

 

Kommunikation auf Fahrrädern

 

Lieber Salamander,

 

immer, wenn man glaubt, dass man alles gesehen hat, fällt dem Schicksal etwas Neues ein. Gestern sah ich eine junge Frau auf einem Fahrrad, die ein Handy in der rechten Hand hielt und auf dem Handy eine SMS tippte.

Wenn ich schon mitteilen möchte, dass ich das telefonieren beim Fahrrad fahren für die Verkehrssicherheit abträglich finde (wie – nebenbei – auch beim Auto fahren), so ist das eine Steigerung der Möglichkeiten. Mit einer Hand am Lenker, die Augen auf dem Display – und dann kann man schon froh sein, wenn sie nicht zwei Stöpsel im Ohr hat und zusätzlich zur Blockierung der Augen nicht auch noch das Gehör blockiert.

 

Werde ich jetzt alt und spießig? Ist das der erste Schritt hin zu einem gekeiften „Früher gab es so etwas nicht?“

Seit einigen Jahren erwische ich mich dabei, dass ich (wenn auch netterweise leicht abgewandelt) Sätze zum Besten gebe, die meine Eltern früher mir mitgegeben haben. Nur ist der alte Satz von „Wir hatten ja nichts. Wir sind morgens mit Holzschuhen im Schneesturm über eine Stunde zur Schule gelaufen.“ abgewandelt worden in „Wir hatten ja nichts. In der Schule mussten wir ohne Computer lernen, es gab nur drei Fernsehprogramme und diese erst ab nachmittags und wir mussten unsere Freunde besuchen, wenn wir mit ihnen reden wollten.“ Der Kern bleibt derselbe, das Leiden jeder älteren Generation ist in keinster Weise mit dem Ringen der Nachkommenden zu vergleichen, weil bei einem selbst alles viel härter war.

So ist es wohl auch mit den Fahrradfahrern und dem Handy. Ich finde es Verkehrsgefährdung, richtig. Aber weniger clever war es auch, wie wir vor über zwanzig Jahren auf einem Ostblock-Moped ohne Helme, aber mit einem geschlossenen Kanister Federweißer hinter dem Rücken über die Landstraßen gerast sind – bis der Federweißer-Kanister explodierte, uns beide völlig zusaute und mit Karacho in die Böschung haute (weil mein Fahrer bei dem Knall den Lenker verriss).

 

Jeder Generation ihre eigenen Fehler. Vielleicht macht man das einfach in einem bestimmten Alter. Warum auch immer, es wächst sich hoffentlich aus. Und ja, ich werde älter. Aber hoffentlich nicht allzu spießig.

 

Dein alter, weiser Homo Magi

 

Getrennte Geschlechter

 

Hallo Salamander,

 

die Trennung zwischen zwei Geschlechtern halte ich weiterhin für schwierig. Solange es Formen uneindeutiger männlicher oder weiblicher Sexualität gibt, diskutiert man abweichende Sexualität eigentlich darüber, dass das Abweichungen von einer Norm sind.

Nur glaube ich nicht an die Norm. Ich glaube nicht daran, dass wir von Gott geschieden zwei Geschlechter sind, die sich sauber trennen lassen. Es gibt Mischformen, Überschneidungen, unklare Zuordnungen, Männer in Frauenkörpern, Hermaphroditen, Geschlechtslose … zu viele Formen, zu viele Arten, als dass eine 1:1-Trennung in Männer und Frauen realistisch wäre.

Sicherlich gibt es in diesem Bereich auch eine sehr hohe Dunkelziffer. Wer schaut schon jedem in die Hose, um seine primären Geschlechtsorgane mit der in der Gesellschaft gespielten Geschlechterrolle in Einklang zu bringen?

Es gab ein viktorianisches Partypiel, bei dem man beweisen sollte, zu welchem Geschlecht man gehört (möglichst, ohne sich komplett zu entkleiden). Für Männer war es schwierig, weil Nicht-Brüste sich schwerer dokumentieren lassen als Brüste. Bis einem Mann dann auffiel, dass der Adamsapfel (wenn er ausgeprägt genug ist) unproblematisch als sekundäres Geschlechtsmerkmal gelten kann.

Ich glaube, dass die operative Geschlechtsumwandlung vielen Menschen geholfen hat, in eine Rolle zu geraten, die ihnen ihre Seele vorgibt, aber ihr Körper nicht möglich gemacht hat. Die Frage ist, ob eine liberalere Gesellschaft mit solchen „Problemen“ (extra in Anführungsstrichen) nicht so umgehen könnte, dass die Operation an sich überflüssig ist. Diese Frage kann ich nicht beantworten.

Feststellen kann ich aber, dass die Trennung in zwei Geschlechter mit der Möglichkeit des Geschlechterwechsels dazu führt, dass einige Dinge eigenartig sind. Ich nehme sie mal als Anzeichen dafür, dass das zugrunde liegende System falsch ist. Eine einfache Frage: Frauen gehen 5 Jahre früher in Rente als Männer. Wenn ich also als Mann eine Geschlechtsumwandlung mache – sinkt dann mein Rentenalter um 5 Jahre? Wahrscheinlich schon.

Wäre doch mal ein Plan für die Bundesregierung – wir senken die Quote der älteren Arbeitslosen ab 57 dadurch, dass die alle eine bezahlte Geschlechtsumwandlung erhalten, so dass sie ab jetzt statt Arbeitslosen Rentner sind. Brillanter Plan.

Aber die Idee alleine wirft für mich ein eigenartiges Licht auf die darunter liegende Struktur.

 

Dein Homo Magi

 

Oger tötet 7 Menschen

 

Hallo Salamander,

 

„Oger tötet 7 Menschen“ könnte die Schlagzeile lauten, die heute durch Radio unter Internet geisterte:

„Chicago – Der Flüchtige stand unter dem Verdacht, sieben Menschen getötet zu haben: Nach einer Verfolgungsjagd mit der Polizei hat sich ein Mann im US-Bundesstaat Michigan selbst das Leben genommen. Zuvor hatte er sich mit drei Geiseln in einem Haus in der Stadt Grand Rapids verschanzt. Der Mann habe sich selbst erschossen, während Polizisten mit ihm am Telefon verhandelten, sagte der örtliche Polizeichef Kevin Belk.“[54]

Wie komme ich auf den Oger? Nun, ein Mensch war der Mörder nicht. Denn natürlich hat er nicht 7 Menschen getötet, sondern 8 – sich selbst zuletzt. Aber das war dann kein Töten mehr, oder? Das ist aber unwahrscheinlich, denn wer erschossen ist (sogar von sich selbst) ist getötet worden. Also war es kein Töten. Dann stimmt die Zählung nur, wenn man davon ausgeht, dass der achte Tote kein Mensch war – daher heißt es dann „tötet 7 Menschen“.

Aber ein Mensch war der Mörder nicht, also bleiben wenig Alternativen. Wer ist dafür bekannt, dass er Menschen tötet? Der Oger. Also war es ein Oger, der in Chicago 7 Menschen getötet hat.

 

Im Zeitalter von Harry Potter & Konsorten wäre das eine Schlagzeile, die untergehen würde, weil es viele solcher Schlagzeilen über Fantasyromane und Fantasy-Rollenspiele gibt. Dafür stand gestern im örtlichen „Oxfam“ der Fantasy-Roman „Die Elfen“ unter historische Romane einsortiert. Die Grenzen zwischen den Welten scheinen also zu verschwimmen …

 

Dein Homo Magi

Magier im Netz

 

Hallo Salamander,

 

natürlich ist das Internet ein schöner Platz, um Netzwerke zu erstellen. Selbst wenn der Begriff „social network“ mehr und mehr im Zusammenhang mit dem Internet gebraucht wird, so ist das nicht wahr. Ein Internet-Netzwerk kann ein reales „social network“ mit echten Menschen nur abzubilden versuchen, aber niemals selbst eines sein. Selbst wenn es einen Kontakt zwischen zwei echten Menschen initiiert, so wird das Netzwerk erst dadurch zum Netz, dass man es bei einem persönlichen Treffen schließt.

Eine Begriffsverwirrung, die uns Menschen eher zu trennen als zu verbinden scheint. Natürlich bin ich vereinsamt, wenn ich auf einem Polsterstuhl sitze, jeden Tag 18 Stunden online bin, aber arbeitslos und von Hartz IV bedroht. Ein noch so großes digitales „social network“ verhindert nicht, dass ich dann trotzdem allein bin. Noch mehr allein, als ich es unter Menschen wäre, umgeben von der reinen Illusion von Gesellschaft. Solange ich nicht sicher bin, ob jeder digitale Avatar ein echter Mensch ist, brauche ich nicht darüber nachzudenken, ob hier Freundschaften möglich sind. Viele tun es trotzdem und machen ihre Computerbekanntschaften zu Freunden – wir lachen, wenn Kinder von irrealen Freunden sprechen, die für uns unsichtbar bleiben oder sich mit ihren Stoffpuppen unterhalten … eine Wahrnehmung und Reaktion, die wir ärgerlicherweise nur gegenüber Kindern einsetzen.

Das von mir selbst angegebene Profil im Internet schildert und spiegelt doch nur meine Selbsteinschätzung, die durch keine Umwelt abgefedert/korrigiert wird. Auf einmal bin ich ein toller Hecht im Karpfenteich, wo meine Freunde mir mitteilen müssten, dass ich eigentlich nur ein Karpfen bin. Was ist so schlimm an Karpfen? Man kann auch ein netter Karpfen sein, eine Freundin/Frau finden, eine Arbeit haben, die einen ausfüllt, einen Bekanntenkreis, der einen mag, wie man ist. Aber man wäre so gerne Hecht und wenn man sich oft genug als Hecht ausgibt und nicht verbessert wird, dann glaubt man auch, ein Hecht zu sein – nur lernen die echten Hechte schnell, dass man ein Karpfen ist, und fressen einen. Oops.

Eigenartige Parabel, ich weiß. Aber wer meine Hecht-Karpfen-Geschichte nicht mag, aber glaubt, dass „social networks“ primär binär abgewickelt werden, der hat einen an der Klapse. Nicht mehr und nicht weniger.

 

Dein Homo Magi

 

Bauchredner für Jesus

 

Hallo Salamander,

auf einer von mir immer wieder gerne besuchten Website http://clockworker.de fand sich am 20.07.2011 ein Eintrag namens „Puppenspieler vergangener Zeiten“. Der Link führte zu http://gotopublicschool.com/photography-things/vaudeville-ventriloquist-dummy-portraits, wo mich dann folgendes Meisterwerk anlächelte:

 
Bauchredner
Mal ehrlich: kennt jemand einen Evangelisten, der mit einer Bauchrednerpuppe auftritt? Also habe ich mir die Arbeit gemacht und mich ein wenig über den Herrn eingelesen. Zuerst war es schwierig, ihn zu finden (der Name John Bishop ist nicht selten vertreten), und zu „Timmy“ findet man online nichts. Also musste ich im Netz ein wenig suchen, bis ich ihn und seine Frau fand – neue Frisur, keine Puppe mehr, aber sie sind es (http://godissogood.net/biography.htm).

Bauchredner 2

Mein Englisch ist eigentlich gut, aber ich musste mich dann doch durch die Website http://godisgood.net lesen, um ein paar wichtige Fakten zu finden. „I love him dearly, and I love hurting people”[55], also „Ich liebe ihn [Gott] innig und ich liebe es, Menschen weh zu tun?“ Nein, hier stimmt etwas nicht.

Die Bauchrednerpuppe bleibt nebenbei für den Rest der Geschichte verschwunden. Wer also sie sucht, sollte hier mit dem Lesen abbrechen.

Herr Bishop (sein Titel ist „Bro.“[56], cool, oder?) erkrankte 1995 und verlor sein Gedächtnis. „I had even forgot that were married or even what marriage was, but once I found out what it was, I sure did like it!“[57]

Ein Mann, der sein Gedächtnis verliert (und seine Bauchrednerpuppe) … da kann ich schon verstehen, dass man dann Prediger wird.

Bleibt nur die Frage, warum er Menschen gerne wehtut. Also musste ich wieder ein wenig auf der Homepage wühlen, aber man findet ja alles, wenn man heftig genug sucht: „I want to help the broken-hearted and hurting people of this world to see God’s goodness and righteousness, helping others (…). God may not always choose to heal, but He will never fail to help His children! [58] Er tut Menschen nicht gerne weh, zumindest wollte er das nicht aussagen. Er will Menschen helfen, die Schmerzen haben. Damit kann ich umgehen.

Und die Puppe? Ich bleibe dran.

Dein Homo Magi

 

Amerikas Grenzen

 

Lieber Salamander,

 

kürzlich hatte ich eine Unterhaltung mit einer gewiss nicht doofen amerikanischen Hexe. Wir saßen im Kreis, es war schon düster, wir unterhielten uns auf Englisch. Im Kreis verstanden die meisten Menschen gut Englisch, das Reden in Englisch fiel einigen von uns schwer, aber wir haben trotzdem verstanden, was sie uns sagen wollte.

Es ging um Amerika. Um die deutsch-amerikanische Freundschaft, die in den letzten zehn Jahren immer mehr und mehr den Bach runter geht. Um das Ende des Re-Education-Programms. Um die amerikanische Angst vor islamistischen Attacken in Deutschland. Um das Abriegeln der amerikanischen Kasernen nach den Anschlägen vom 11. September. Um viele Dinge. Sie wusste sehr wenig davon.

Sie wusste nichts von den Einreisehemmnissen in die USA. Sie wusste nichts von der Abriegelung der Kasernen in Deutschland. Sie wusste nichts von der Fragepolitik bei der Einreise. Sie wusste wenig von den UN-Einsätzen, sie wusste nichts von der deutschen Politik zu Kriegseinsätzen, sie wusste nichts …

Eine aufgeklärte, intelligente, charmante und politisch interessierte Hexe meines Alters. Eine Frau, die ich als persönlich integer und intelligent werte. Es geht nicht darum, dass sie doof ist. Überhaupt nicht, das absolute Gegenteil ist der Fall. Es geht darum, dass die USA scheinbar mehr und mehr zu einer Informations-Diktatur wird. Ein sterbendes Imperium, das sich aus den Kriegsschauplätzen zurückzieht und seine Truppen daheim einsetzt. Ein Land auf dem Wege in eine Diktatur.

Es war erschreckend.

 

Dein Homo Magi

 

Bauchredner für Jesus II

Hallo Salamander,

ich habe mir große Mühe gegeben, um etwas mehr über Timmy und seinen bauchrednerischen Prediger (oder war es umgekehrt?) herauszubekommen.

Mein Liebling ist der Hinweis auf eine ehebrecherische Beziehung zwischen Frau Bishop und der Puppe (http://houseofnonsense.tumblr.com/post/327096416/evangelist-john-bishop-was-remediated-to-a) – samt dem Hinweis auf die zerhackten Holz-Überreste von Timmy.

Auch schön finde ich die immer wieder in Foren gestellte Frage, wer von den Dreien denn die Handpuppe ist – ob es die Frau mit den zu vielen Zähnen und der Betonfrisur ist, oder der Herr mit dem schiefen Lächeln.

Aber ansonsten … keine Hinweise. Timmy könnte also auch ein Außerirdischer sein, der über die Familie Bishop versucht, unsere Zivilisation zu übernehmen. Natürlich, es gibt keinen einzigen Hinweis dafür – aber auch keinen dagegen, was an sich schon gefährlich genug ist.

Aber jetzt lasse ich das Thema auch ruhen (außer jemand erfährt, was aus Timmy geworden ist!).

Dein Homo Magi

 

Etaoin Shrdlu

 

Hallo Salamander,

mein Englisch ist eigentlich gut. Aber als ich kürzlich in einem Buch über einen Reporter las, er sei ein „Etaoin Shrdlu at heart“ gewesen, musste ich doch nachlesen.

Großartig! Was sich wie ein sumerischer Fluch spricht und wie eine griechische Beschwörung liest, ist viel mächtiger, viel kraftvoller viel unterhaltsamer als beide Theorien. Bei Qwertzu, wie konnte mir das entgehen!

Ich zitiere mal aus Wikipedia, dem Abgrund des Wissens:

„ETAOIN SHRDLU sind die zwölf am häufigsten genutzten Buchstaben der englischen Sprache. Dies ist leicht verschieden von der Buchstabenhäufigkeit in Wörterbucheinträgen. Die gesamte Sequenz ist

ETAOIN SHRDLU CMFWYP VBGKQJ XZ

ETAOIN SHRDLU waren die ersten beiden vertikalen Tastenreihen der Linotype-Setzmaschine, die nach der Buchstabenhäufigkeit der englischen Sprache angeordnet worden waren. Die Buchstabensetzer haben manchmal den Finger entlang der Tastenreihe gefahren, um eine Zeile, die bereits einen Fehler enthielt, mit Buchstaben zu füllen. Dieses Auffüllen war schneller und einfacher als eine fehlerhafte Zeile per Hand zu korrigieren. Diese Zeile mit Unsinn wurde dann beim Korrekturlesen entfernt. Manchmal erschienen diese Buchstaben auch versehentlich im Druckerzeugnis.

Dies passierte zumindest so häufig, dass die beiden Sechserfolgen als Worteintrag im Oxford English Dictionary erschienen, ebenso wie im Random House Webster’s Unabridged Dictionary. Scherzhaft wird die Sequenz auch wie zwei normale Worte Etaoin Shrdlu ausgesprochen.“

Die Schreibmaschine, der Computer – sie sind heute viel mächtiger als die Erinnerung an die sumerischen Götter, viel stärker als griechische Beschwörungen. Endlich gibt es einen Fluch, der einem die verbürgte Macht gibt, in die Tiefen von ASCII und Festplatte vorzudringen, Programme zu beeinflussen, Daten zu verändern: Etaoin Shrdlu über dich, du Widerling!

Bei Qwertzu, wir werden siegen!

Dein Homo Magi

High Noon an der Essensausgabe

Hallo Salamander,

gestern hatte ich einen Außentermin, der mich auf dem Rückweg zwischen 10 vor 12 und 2 vor 12 an zwei Restaurants vorbeikommen ließ.

Das erste Restaurant trägt einen bürgerlichen Namen und liegt verkehrsgünstig an einer Straßenbahnhaltestelle. Trotzdem hat es vor Jahren schließen müssen, so wie in der Umgebung Laden nach Laden schließen musste und es keine Laufkundschaft mehr gab. Jetzt ist es für die „Tafel“ vermietet worden; mittags werden hier Essen und Nahrungsmittel an Bedürftige ausgegeben.

An der Straßenbahnhaltestelle ist eine Ampel. Ich stand einige Minuten und konnte mir anschauen, wer vor der Tür stand. Menschen aus allen Altersgruppen, die darauf warteten, dass die Uhr um 12.00 Uhr geöffnet wird. Sie hatten schäbige Taschen dabei, trugen ältere Kleidungsstücke. Die Haare der Frauen waren noch frisiert, die Hände der Männer sauber. Aber meinem Blick wichen sie aus, stellten sich mit dem Gesicht zur Wand, um von der Straße aus nicht erkannt zu werden. Eine Scham, die aus Armut gespeist wird.

Zwei Ecken weiter musste ich an einer Fußgängerampel stehen bleiben. Ein weiteres Restaurant, das erst um 12.00 Uhr öffnet. Blümchen im Fenster, ein Schickimicki-Schild in der Tür. Davor Mitarbeiter eines Amts mit Plastikerkennungsschildern an Brust oder Gürtel. Frauen im Kostüm, Männer im Anzug. Blitzende Zähne, gut sitzende Frisuren, teure Uhren und teure Ringe. Eine Arroganz, die aus Reichtum gespeist wird.

 

High Noon in meiner Heimatstadt. Gebe Gott, dass ich nie dazwischenstehe, wenn die erste Gruppe auf die zweite Gruppe trifft und die erste Gruppe sich darüber klar ist, dass ihre Armut auch am Wegschauen und der inneren Distanz der zweiten Gruppe liegt.

 

Dein Homo Magi

 

Zwei Dutzend Jahre später

 

Hallo Salamander,

 

auf unserem Fantasy-Sommerfest hatte ich ein Erlebnis der dritten Art. Ich muss ein wenig ausholen, um das zu erklären; du wirst mir verzeihen müssen.

Auf dieses Fantasy-Sommerfest fahre ich mit wenigen Unterbrechungen seit fast 30 Jahren jeden Sommer. Und es gibt eine Kerngruppe von Leuten, die ich dort auch jedes Jahr wiedertreffe. Dabei sind – verstreut, aber auffindbar – auch Heiden aller Couleur. Das ist nicht ungewöhnlich – auf den „Science Fiction WorldCons“ gibt es immer wieder offiziell im Programm „pagan meetings“, beide Szenen (Heidentum und Phantastik) überschneiden sich schon länger und immer signifikant.

Also: Vor 24 Jahren wurde ich damals als Veranstalter des Sommerfestes eingeladen, an einem Ritual teilzunehmen. Ich war damals sozusagen der „Hausherr“ und die Höflichkeit gebot, mich auch einzuladen. Ich war begeistert, fasziniert, im Innersten berührt. Ich fragte am nächsten Morgen gleich nach der Möglichkeit einer „magischen“ Ausbildung. Die bekam ich, fast 12 Jahre lang lief alles gut. Ich durchlief alle (Wicca-)Grade, lernte über Magie, lernte über mich selbst und veränderte in vielen kleinen Schritten mein Leben.

Dann: Peng. Ein „fehlgelaufenes“ Ritual, der Vorwurf der Besessenheit durch Dämonen (nein, das ist kein Witz), privater Ärger und die Kündigung aller Freundschaften mit mir im „Kreis“. Ich war verdattert, hilflos, verletzt, fast unfähig, alleine weiter zu machen. Dann begannen die Jahre, die ich „versteckt in meinem Keller“ das deutsche (organisierte) Heidentum nur beobachtet habe; zu verletzt, um aus eigener Kraft wieder Kontakt aufzunehmen. Es waren andere, die mich da raus holten.

Es dauerte Jahre, bis ich mit meinem ehemaligen „Kreis“ wieder ins Gespräch kam – über ein „Guten Tag“ hinaus, wenn ich das mal so zaghaft umschreiben darf. Ich hatte den Eindruck, dass sich langsam aber sicher die Ansicht durchsetzte, dass ich vielleicht nicht von Dämonen übernommen worden war und auch nicht an „allem“ schuld war, was im Kreis schiefgelaufen war. Andere traf ebenso Schuld (nein, ich vergebe hier keine Wertungen), viele hatten nach meinem Weggang (der unfreiwillig war, wenn ich das mal betonen darf) auch Schaden genommen. Großen Schaden.

 

24 Jahre später stehe ich also wieder auf dem Sommerfest und will am Abend einen Nachruf auf meinen verstorbenen Freund organisieren. Zwei Freunde erklären mir, dass sie dann später kämen, weil sie noch zu dem Ritual gehen würden. Mir war das klar, kein Problem, mit beiden hatte ich schon relativ früh Frieden geschlossen. Aber dann kam von meiner ehemaligen Ausbilderin der Satz, dass man den Termin ja auch verschieben könne, wenn ich am Ritual teilnehmen wolle … Hey, da musste ich über zwölf Jahre drauf warten, es war zwar keine Einladung, sondern eher eine Einladung im Nebensatz, aber … einem geschenkten Ritual schaut man nicht ins Maul oder so ähnlich sagt der ältere Magier.

Man verschob, ich nahm Teil. Es war ein schönes Ritual, das will ich überhaupt nicht leugnen. Wir standen im Wald und ich schloss die Augen. Ließ die Namen an mir vorbeiziehen, die in den letzten 24 Jahren Teil dieses Kreises gewesen waren. Dachte an einen toten Freund, an eine verschollene Freundin, an viele gemeinsam verbrachte Tage, an Feiern unter dem Sternenlicht, in Burgmauern oder im Wald. Ich hörte Stimmen, die Texte sprachen, die ich schon vor 24 Jahren gehört hatte (und zum Teil noch mitsprechen konnte – das Gedächtnis des Menschen ist ein Verräter!).

Aber es war irgendwie … anders. Ich fühlte mich wie auf einem (magischen) Klassentreffen, hatte Freude, Teil der Gruppe zu sein, aber ich war nicht mehr Teil der Gemeinschaft. Mir war klar, dass das hier ein Abschied war. Ein Wiederkehren, um zu zeigen, dass die Wunden verheilt, aber vernarbt sind. Ich musste lange warten, bis man mir die Gelegenheit gab, wieder Teil der Runde zu sein – und wir brauchten diesen Moment, um zu begreifen, dass nicht alles heilbar ist. In den Jahren haben sich unsere Wege getrennt, sind unsere Pfade auseinander gelaufen. Ich bin weiter gelaufen, sie auch. Wir hätten gemeinsam gehen können oder uns immer wieder austauschen können, wie unsere Pfade aussehen. Haben wir aber nicht. Ich konnte nicht, sie wollten nicht.

 

Nicht alles löst sich in Liebe und Freude auf. Das war sicherlich die härteste Lektion in 24 Jahren Ausbildung. Aber da im Wald … da spürte ich in meinen Händen die Hände von Freunden, die mir in meinem Leben viel bedeutet haben und zum Teil noch viel bedeuten. Dafür: Danke.

 

Dein/Euer Homo Magi


 

In 80 Sitzungen um die Psyche

 

Hallo Salamander,

 

dir kann man es ja erzählen … ich habe jetzt heroisch mein Kontingent erfüllt und die 80 Sitzungen, die einem die Krankenkasse verschreibt, ohne dass man zugeben muss, einen größeren Dachschaden zu haben, abgeleistet. Auslöser waren vielen Dinge … ein wenig Stress, ein wenig Trauer, ein wenig Dinge, die man halt so mit sich herumschleppt.

Nun, es war schwierig genug eine Therapeutin zu finden, die mich nicht in eine Schwitzhütte schleppen oder mit Kristallen heilen wollte. Aber diese Ecke kenne ich, vielen Dank, es gibt Dinge, dafür sind diese Ansätze ganz toll … aber bei Problemen, die weltlich sind und nur weltlich, suche ich gerne nach einer weltlichen Lösung.

Und die habe ich gefunden. Einige Dinge haben sich klären lassen, andere nicht. Hey, ich bin aber wohl zu alt um noch darauf zu hoffen, dass mein Charakter völlig umgebaut und neu hergestellt wird. „Improved me“ oder so, „Homo Magi 2.0“. Alles unrealistisch. Man hat sich doch zu viele Kleinigkeiten angewöhnt, die bei näherer Betrachtung einfach schwer abzulegen sind. Immerhin ist der eigene Charakter ein wenig auch die Summe der eigenartigen Angewohnheiten.

Also: Ich habe es erledigt. Und im Prozess festgestellt, wie viele Menschen (gerade auch Männer) es gibt, die in meiner Altersgruppe so etwas schon hinter sich gebracht haben. Der Tod der Elterngeneration und die neue Rolle sind da Themen. Das habe ich also durch. Zumindest soweit, dass mir klar ist, wo meine Lücken sind.

Trotzdem glaube ich, dass die esoterische Heilung ihren Platz hat in meinem Leben. Aber eben für Aufgaben, bei denen sie etwas nützt. Ich würde nicht wegen Krebs oder einem Schnupfen zu einem Heiler gehen, sondern zum Arzt. Aber diese Gemengelage der Angebote macht das Leben doch interessanter und bunter, oder?

 

Dein Homo Magi

 

23 Jahre

 

Hallo Salamander,

 

kürzlich musste ich ein wenig nachrechnen, aber es stellte sich dann doch heraus, dass mein erster Schätzwert richtig war. Ich bin heute 46, der Autounfall, der mein Leben verändert hat, war mit 23.

Abgesehen von der tieferen Bedeutung der Zahl 23 (ich verweise nur ungern Nichtwissende auf die geheime Illuminaten-Verbindung und „23 skidoo“[59], da ich damit ein großes Geheimnis verrate) und meines somit nicht mehr geheimen Lebensalters ist es doch erstaunlich, dass ich jetzt die Hälfte meines Lebens damit lebe, ab und an mal einen Stock zum Gehen zu bemühen, obskure Medikamente in mich hineinzufressen und eigentlich einen Status zu haben, dass ich tot sein müsste, es aber – sehr zum Ärger oder der Verwunderung diverser Mediziner – nicht bin.

Zurück auf Feld 1. Mit 23 war ich Beifahrer bei einer Pizza-Abholung, die dazu führte, dass ich unter anderem einen unterhaltsamen Autounfall verpasst habe (der Schock hat das Gedächtnis gelöscht), ich danach für arbeitsunfähig gehalten wurde (und zwar erst einmal lebenslang) und dass ich – wie Zeugen sagen – am Telefon den unsterblichen Satz gesagt habe: „Ihr müsst die Pizza selber holen, die wird sonst kalt.“ Ich kann mich an nix erinnern, in Anbetracht der Schäden um mich herum und an mir auch kaum verwunderlich.

Nun, die nächsten 23 Jahre waren ein langer Weg zurück zur Gesundheit. Dass ich bei einem Unfall durch eine genetische Disposition zu den gefährdetsten Opfern gehören würde, das war mir klar. Kam ja auch so. Dass es so lange dauern würde, bis ich wieder laufen und am normalen Leben teilnehmen könnte … war mir nicht klar.

 

Jetzt ist also die zweite Hälfte durchlebt. Wenn ich mit 69 auf drei Drittel zurückschaue, hoffe ich sagen zu können, dass der Zustand im dritten Drittel nicht arg unterschiedlich von dem eines „normalen“ Mannes meines Alters war, was die Gesundheit betrifft. Auch wenn mich Ärzte immer wieder verwirrt anschauen, wenn sie meine Blutwerte mit meiner Krankengeschichte vergleichen. Wenn ich gefragt werde, wie ich das mache, gibt es zwei Möglichkeiten (je nach Laune). Entweder ich antworte, was Robert Bloch zu seinem 60. Geburtstag gesagt hat, als man ihn fragte, warum er so jung aussieht: „Ich habe das Herz eines Zwanzigjährigen! Es steht in einem Marmeladenglas auf der Anrichte.“ Oder ich sage, dass ich einfach damals beschlossen habe, nicht daran zu sterben. Und mein Dickkopf war schon immer mein Markenzeichen.

 

Dein Homo Magi

 

Draculas Fluch

 

Hallo Salamander,

 

früher war die Welt der Literatur noch einfacher, Klischees waren Klischees und böse Monster noch böse Monster. Wie anders ist folgende (klassische) Ankündigung eines Vampir-Taschenbuches zu verstehen:

„Gegen Dracula hatte Craig Weldon keine Chance. Er musste tun, was der Blutgraf von ihm verlangte. Und als er einen schmutzigen Trick besuchte, bezahlte er – bis zum letzten Blutstropfen. Professor Harmon, Cameron Sanchez und die geheimnisvolle Ktara waren mit von der Partie, als der Kampf gegen die Mafia-Gangster entbrannte …

Doch unversehens geht es um größere Dinge: Die Uralten haben ihre finsteren Machtansprüche über die Erde noch nicht aufgegeben – und so stellen sie sich gegen Ka-Zadok, den Zauberer, der mächtiger ist als die Mafia, aber auch erbarmungsloser …“

Alles wahr – das ist die von mir liebevoll abgetippte Ankündigung für Robert Lorys „Draculas Fluch“, angekündigt als „Vampir-Taschenbuch 53“ (und so auch erschienen), abgedruckt in „Das Haus des Grauens“ alias „Vampir-Taschenbuch 52“, Gruselstories von Robert E. Howard (1977).

Mafia-Gangster, Lovecrafts Uralte, ein Blutgraf, Ka-Zadok und Ktara, das klingt doch packend. Im englischen Original sind neun Bände erschienen, der neunte bietet sogar einen Wikinger auf dem Cover.[60] Auf Deutsch sind nur fünf Romane erschienen – bis „Draculas Todestrommeln“.[61] Irgendwie wundert es mich nicht, dass es hier dann keinen Kundenstamm für die fehlenden Romane gab. Uff.

 

Alles Grundlagen der Magie, die mir entgangen sind. Aber ein jugendlicher Leser, der damals (Ende der 70er Jahre) im praktischen Lesealter 14 bis 16 war, der ist immer noch in meiner Altersgruppe (sagen wir mal höflich: Alters-Korridor), geprägt von Romanen wie diesen, Filmen a la „Dracula jagt Minimädchen“ (ja, den gibt es wirklich) und frühen Hammer-Horror-Heulern. Kein Wunder, dass diese Menschen heute ein völlig anderes Verständnis von Magie und Esoterik haben als ich (und einige meiner Mit-Menschen). Während sie noch mit Ka-Zadok ringen und versuchen, willige Weiber den Fängen der Mafia zu entziehen, lese ich weiter die Art von Büchern, die mit der von ihnen gelesenen Art von Büchern ab und zu Überschneidungen hat … reicht ja auch, oder?

 

Dein Homo Magi

 

Gerüche

 

Hallo Salamander,

 

es ist auf jedem Fantasy- oder Heidentreffen dasselbe. Man sitzt abends lange am Feuer, es wird viel geraucht, getrunken und geredet. All das wäre kein Problem – wenn die körperliche Hygiene der entsprechenden Zielgruppen der meinigen entspräche. Tut sie aber nicht. Daher weiß man noch Tage später anhand von Bart (soweit vorhanden), Umhang und Hemd des Nachbar, was der vorgestern zum Abendessen hatte, was für einen Tabak er raucht und was für ein Holz in dem Feuer verbrannt ist, an dem er bis 2.26 Uhr morgens saß.

Nun gut, es mag Menschen geben, die das anziehend (gar „sexy“) finden. Ich nicht. Ich glaube, dass morgendliches Duschen – gerade als Teilnehmer in Gruppen, die viel aufeinander hängen – von Vorteil ist, um die eigenen sozialen Kontakte nicht zu verschrecken. Und ich glaube auch, dass Hygiene etwas mit Krankheitsübertragungen, Hautproblemen und der Chance auf Fortpflanzung zu tun hat. Es mag sein, dass ich damit alleine stehe (aber Gespräche, gerade mit Frauen, haben mir gezeigt, dass ich damit nicht alleine stehe, ich bin nur besonders „pienzig“).

Auf diesen Veranstaltungen gibt es dann immer ein großes „event“ als Höhepunkt – eine Zeremonie, ein Ritual, eine Aufführung. An diesem Tag geht es dann abends um die Anrufung der Götter, um Magie, um gemeinsame Rituale. Und auf einmal ist morgens der Duschraum voll mit Herren, die sich rasieren und ein wenig waschen (nein, ich kann den Zustand im Damenwaschraum morgens nicht beurteilen). Eine oberflächliche Sauberkeit wird hergestellt und dann kommt der unvermeidliche Griff in den Kulturbeutel – das Deo ist angesagt. Vor dem Ritual wird der Körpergeruch noch einmal schnell mit einem oder zwei Sprühern Chemie übertüncht, damit man abends den Götter wohlriechend entgegentreten kann – ein klassisches „in excelsis Deo“, denn in den Höhen der Götter lässt man sich nur mit Chemiegeruch blicken.

 

Puuuh.

 

Dein Homo Magi

Schnipsel

 

Hallo Salamander,

 

heute Nacht träumte ich von meiner Großmutter. Wir saßen in der Küche meiner Großtante, die scheinbar kurz vorher verstorben war, und unterhielten uns über die Jugend meiner Großmutter. Dann meinte meine Großmutter unvermittelt, dass sie wegen der geplanten Hochzeit mit meinem Großvater in der Familie Schwierigkeiten bekommen hätte, weil es ja mit ihr und meinem Großvater gewesen sei „wie mit Odin und dem Wasser“.

Dann lächelte sie mich liebevoll an. Aus ihrem Blick wurde mir klar, wie sehr sie meinen Großvater geliebt haben muss. Ich wachte mit einem angenehmen Gefühl im Magen auf und hatte klar das Bild meiner Großmutter und der Küche meiner Großtante vor Augen – so klar wie schon seit Jahren nicht mehr.

Dann fiel mir auf, dass ich keine Ahnung habe, was meine Großmutter mit „wie mit Odin und dem Wasser“ gemeint haben könnte. Dazu kommt, dass sie als überzeugte Christin nie nie nie den Namen „Odin“ in den Mund genommen hätte.

Rätsel über Rätsel.

 

Dein Homo Magi

 

Bahn

 

Hallo Salamander,

 

ich glaube ja, dass nicht alle Mitarbeiter bei der Bahn irre sind. Aber es hilft bestimmt, wenn man wahnsinnig ist, bevor man dort anfängt.

 

Zur Geschichte. Ich wollte zu einem Kongress reisen. Die Online-Buchung versprach mir eine Umstiegszeit von elf Minuten. Das klang total machbar, von daher buchte ich. Aber natürlich war mein ICE schon bei der Abfahrt zu spät. Im Zug versprach man uns aber, dass der Anschluss-ICE warten würde, sogar am Gleis gegenüber.

Ich sprang – wie so viele andere – aus dem Zug und rannte über den Bahnsteig. Die Schaffner riefen immer nur, dass wir uns beeilen sollten. Also konnte ich nicht mehr schauen, wo mein Zielwaggon war, sondern sprang einfach in den Zug, der auch wenige Sekunden später abfuhr.

„Wagen 13“. Das hätte mir zu denken geben soll; eigentlich glaube ich nicht an Zahlenmystik, aber … Mein Platz war in Wagen 2. Also machte ich mich – wieder in Begleitung von weiteren marodierenden Reisenden – auf die ausgesprochen lange Odyssee, quer mit dem Gepäck durch gefüllte Wagen hin zu Wagen 2. Es ging nur langsam voran, aber irgendwann hatte ich Wagen 3 erreicht. Und prallte gegen die Glaswand. Denn Wagen 3 war versiegelt – die Glastüren waren versperrt und drinnen war kein Mensch zu sehen.

Also sprangen wir am ersten Halt raus und wollten in Wagen 3 – aber die Versiegelung war rundherum, der Wagen war auch vom Bahnsteig her nicht erreichbar. Wir rannten alle mit dem ganzen Gepäck am Wagen vorbei und stiegen endlich in Wagen 2. Aber die Konsequenzen waren für den Rest der mehrstündigen Fahrt klar: kein Kaffeebringdienst, kein Durchkommen zum Restaurant, aber dafür auch kein Schaffner und keine Horden von Leuten, die durch unseren Wagen hin- und herliefen, weil sie mal schnell in die Cafeteria wollten. Aber der Verlust an Nerven hat den Gewinn an Ruhe nicht aufgewogen … über den mangelnden Nachschub an Kaffee nicht zu reden, oder?

Eigenartige Arten zu reisen; Abenteuer auf deutschen Strecken. Wow!

 

Dein Homo Magi

 

E-Mail-Sicherheit

 

Hallo Salamander,

 

heute Morgen bekam ich eine wunderschöne E-Mail:

„Sehr geehrtes Mitglied ClickandBuy,

 

Aufgrund der Online-Betrug, erhöhter ClickandBuy Sicherheitssysteme für alle Benutzer.

So aktualisieren Sie Ihr Konto mit der neuen Sicherheitsmaßnahmen laden Sie bitte das beigefügte Formular aus und befolgen Sie alle Schritte.

Wichtig: Wenn Sie nicht ausfüllen des Formulars, wird Ihr Konto eingeschränkt werden.

Danke für Ihr Verständnis,

 

Copyright 2011 ClickandBuy. Alle Rechte vorbehalten.“

 

Warum schreibe ich solche Dinge nicht zum vermarkten von magischen Lehrbüchern? Scheinbar ist das doch ein Erfolgskonzept, welches in Deutschland Geld macht (anders ist nicht zu erklären, dass subsaharische Ex-Minister immer noch versuchen, ihre Millionen über mich zu waschen). Also frisch ans Werk:

„Sehr geehrtes Leser Homomagi,

 

Aufgrund der magischen Bedrohung durch Mayas 2012, erhöhter magischer Schutz für alle Anwender.

So aktualisieren Sie Ihre Schutzkreise mit der neuen Zaubern, Sie können aufladen Ihre magische Kordel und Messer für das Ritual.

Befolgen Sie alle Schritte und überweisen Sie Geld auf mein Konto.

Wichtig: Wenn Sie nicht Überweisen auf mein Konto, wird Ihr magische Sicherheit eingeschränkt werden.

Danke für Ihr Verständnis,

 

Copyright 2011 HomoMagi. Alle Rechte vorbehalten.“

 

Bin mal gespannt.

 

Dein Homo Magi


 

Arbeitnehmerdatenschutz

 

Hallo Salamander,

 

kürzlich las ich in einem Fachbuch über „Arbeitnehmerdatenschutz“[62] folgenden Absatz in einem Kapitel über Genomanalyse:

„Als besondere Problematik kommt für den Betroffenen (…) zudem die Tatsache zum Tragen, dass die durch die Analyse frühzeitig erkannten Krankheiten zumeist nicht heilbar sind und der Betroffene ggf. unfreiwillig einen Blick in die entfernte Zukunft werfen muss, der seine Lebensdispositionen und -hoffnungen in Frage stellen kann, wobei darauf hinzuweisen ist, dass das Recht auf informationelle Selbstbestimmung auch ein Recht auf »Nichtwissen« gewährt: Zum Kernbereich des Persönlichkeitsrechts gehört die Freiheit, selbst darüber zu entscheiden, ob man in die eigene Zukunft schauen oder auf derartige Erkenntnisse verzichten will.“[63]

Wow, besser hätte ich das über Magie und den Blick in die Zukunft nicht formulieren können. Deshalb lasse ich es mal so stehen. Einfach so.

 

Dein Homo Magi

 

Noch einmal Arbeitsrecht

 

Hallo Salamander,

 

man kann nur erstaunt sein, wie viel esoterische Momente ihren Weg in das Arbeitsrecht gefunden haben. Weitere Blicke in das „Handbuch zum Arbeitnehmerdatenschutz“[64] erbrachten folgenden Absatz:

„Es steht dem Arbeitgeber frei, sofern er sich hiervon Erfolg verspricht, die Einstellungsentscheidung von dem Ergebnis einer Kristallkugelbefragung oder von einer astrologischen Begutachtung des Bewerbers abhängig zu machen.“[65]

Keine Fragen.

 

Dein Homo Magi

 

Lemuria singt

 

Hallo Salamander,

 

manche Artikel sind so unglaublich, dass man sich kurz überlegt, ob man sie gerade halluziniert hat. Aber es lässt sich leugnen, dass der Artikel „Heilung mit Lemurischen Matrix-Klangcodes“ in der Zeitschrift „newsage 5/2011“ erschienen ist.

Die Klangcode-Macherin (ihr Name bleibe das Geheimnis des Magazins und meines) gründete nicht nur ein „Galacticnetwork“, sondern sie channelt auch den „kosmischen Klangmeister Oano“. Durch ihn hat sie wohl gelernt, dass man Menschen in den „Gleichklang des heiligen Ur-Tons“ bringen kann, wenn man sie „rück-schwingt“. Ich zitiere:

„Matrix-Klangcodes sind Tonabfolgen, die eine immense Kraft und damit eine Informationscodierung auf die Seelenmatrix und die Zellintelligenz des Menschen ausüben.“

Seelenmatrix und Zellintelligenz, so so, aha. Meine Seele und meine Zellen summen also leise mit, wenn die Matrix die richtige Melodie im richtigen Klang pfeift, wahrscheinlich spüre ich dann erst die immense Kraft.

Immense Kraft, aha. Und damit diese nicht nur bei Menschen gezeigt werden kann, reist sie (ja sie, die Schülerin des kosmischen Klangmeister Oano) 2011 zum Tafelberg in Südafrika, der in Wirklichkeit eine „gigantische Festplatte“ ist, die „in den spätatlantischen Zeiten mit vielen Informationen dunkler Manipulationen angereichert wurde“. War mir irgendwie klar. Irgendwie. Jetzt reist sie (wir erinnern uns: die Oano-Schülerin) zwei Wochen dort hin, um ihn zu „entstören“. Vorher war sie schon in Machu Picchu, auf Hawai und in Australien – wahrscheinlich auch, um hier spätatlantische Informationen zu entstören.

 

Wie nannte man eigentlich heilige Orte, bevor man den Begriff der Festplatte hatte? Und was sagte man, bevor man wusste, dass man bestimmte Geräte entstören muss? Oder sind wir jetzt endlich auf einem Niveau der Technik, das es uns erlaubt, spätatlantische Technologie adäquat zu bezeichnen? Ich weiß es nicht. Die Hoffnung stirbt zuletzt.

Summ. Zwitscher. Pfeif. Trüdelü.

 

Dein spätatlantischer Homo Magi

 

Retz auf der Venus

 

Hallo Salamander,

 

„die Frau von der Venus“ alias Omnec Onec war schon vor einigen Jahrzehnten in der Eso-Szene ein Reißer. Ich habe das immer nur aus der Ferne beobachtet, aber auf der diesjährigen Buchmesse durfte ich „sie“ dann endlich live sehen.

Großartig.

Also habe ich (wieder) ein wenig zu ihr gelesen, denn im wunderbaren „Newsage 5/2011“ gibt es auch ein tolles Interview mit Omnec Onec. Ihr Leben liest sich schon interessant (schon gar, wenn man überlegt, dass das Interview nicht einmal zwei Seiten lang ist!).

Sie stammt von der Venus, deren Bewohner auf eine andere, feinere Schwingungsebene gehoben worden sind. Aber die venusische Stadt Retz existiert „sowohl auf der physischen als auch auf der astralen Ebene“ und diente ihr als Ausgangsbasis. Ihr Onkel Odin (!) flog sie samt physischem Körper in einem Raumschiff zur Erde. Kann man sich gut vorstellen – der alte Odin mit Wanderstab und Kutte fliegt seine Nichte Omnec aus Retz auf die Erde. Klar …

Da Omnec noch Aufgaben aus früheren Leben abzuarbeiten hatte, tauschte sie mit der amerikanischen Sheila Plätze. „Zunächst ging es nach Tibet. Dort gibt es eine Übergangsstation für Raumfahrer, die schon seit Jahrtausenden für die Akklimatisierung außerirdischer Besucher genutzt wird.“ Aha.

Ihre Bücher („Ich kam von der Venus“, „Engel weinen nicht“ und „Meine Botschaft“) sind jetzt wieder erhältlich; die Neuausgabe führt dann wohl dazu, dass ich in den nächsten Monaten wieder mehr über Omnec Onec lesen darf. Vielleicht erfahre ich dann, ob Odin beim Steuern des Raumschiffes auch einen physischen Körper hatte, ob Retz noch Partnerstädte hat (ich schlage Rotz auf dem Mars und Ratz auf dem Merkur vor) und wer die Übergangsstation in Tibet betreibt (Gelbkappenmönche?).

 

Wundervoll.

 

Dein Homo Magi

 

Unglaubliches aus Japan

 

Lieber Salamander,

 

manche Dinge sind unfassbar. Folgendes entstammt einer „Lehrrede“ von „Meister Ryuho Okawa“:

„Der vorletzte japanische Premierminister (…) besuchte Happy Science vor kurzer Zeit. (…) Er kam, um meine führenden Anhänger zu sehen, nicht mich. Er konnte mich nicht treffen, weil ich ein Großer Meister bin – die Position eines Großen Meisters ist höher als die eines japanischen Premierministers. Durch meine Anhänger gab ich ihm für ungefähr eine Stunde Rat. Ich lieferte ihm eine Strategie, wie er japanischer Premierminister werden kann. Er lernte viel und wurde Premierminister und reiste nach New York, um eine Rede vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen zu halten. Die Rede basiert genau auf dem, was ich ihm gesagt hatte. Ich bin also einer der Königmacher Japans. Ich kann einen japanischen Premierminister aussuchen und ihn nach einem Monat wieder zurücktreten lassen. Das ist ein verstecktes Geheimnis Japans. Der amerikanische CIA ist rückläufig, geschwächt, er kennt nicht die gegenwärtige Bedeutung von Happy Science. Doch Happy Science ist die einflussreichste Macht Japans. Wenn der amerikanische Präsident also eine gewisse diplomatische Politik nicht realisieren kann, braucht er nur mich zu fragen und ich kann es für ihn innerhalb einer Woche oder so erledigen. Das ist ein Geheimnis. In Japan haben Religionen mehr Macht als Politik.“

Erhalten habe ich das Heftlein auf der Buchmesse, wo ein Stand von „Happy Science“ dieses Magazin „für Ihr spirituelles Wohlbefinden und Glück“ vertreibt.

Ich zitiere weiter:

Okawa erzielte die „Große Erleuchtung und erwachte zum versteckten Teil seines Bewusstseins, El Cantare, dessen Mission ist es, der gesamten Menschheit Segen zu bringen.“

Dazu dann die Anzeige für einen Manga-Film, laut der Buddha nach 2500 Jahren „in einem Land im Osten“ wiedergeboren wird. Welches Land das wohl sein mag. Denn:

„Wenn die Welt in der Dunkelheit versinkt … wird Buddha wiedergeboren werden“.

Natürlich als El Cantare, wenn ich mal aus dem Zusammenhang folgern darf.


 

Aaah. Jetzt kann ich erst einmal nicht mehr Dean Martin hören, ohne an „Happy Science“ zu denken:

„Volare, oh oh

Cantare, oh oh oh oh

Let’s fly way up to the clouds

Away from the maddening crowds”

 

Dein Homo Magi


 

Aus Pfuhlen tönen Unkenrufe

 

Aus Pfuhlen tönen Unkenrufe

dunkle, alte, düst’re Kunde.

Nachts träum’ ich des Sleipnirs Hufe,

schau’ verwirrt in düst’re Runde –

einäugig und stolz erhaben,

starken Stock in seiner Hand,

seh’ die Banner, kenn’ die Farben,

doch nie betritt mein Fuß dies Land.

 

Asgards hohe, hehre Wälle

funkeln hell im Sternenschein,

draußen rauschen Wasserfälle

in das tiefe Nichts hinein.

Reifes Glitzern auf den Schilden,

neblig tropft das Wort vom Mund,

frostgeborene Gebilde

tröpfeln, tut man Worte kund.

 

Verlegen schau’ ich in die Reihen,

stumm neigt sich so manches Haupt,

scheinen mir gleich zu verzeihen,

dass mein Traum mich hier erlaubt.

Sehe drauß’ den Kreis der Wachen,

Wächterfeuer in der Nacht,

von ferne perlt ein leises Lachen,

Helden steh’n hier auf der Wacht.

 

Schweigend steht die ganze Runde,

da beginnt der Sonnenlauf.

Doch ich weiß die schweigend’ Kunde

als ich wach zuhause auf.

Denn ich weiß, dass sie dort standen,

weiß, das was ich sah wird sein.

Ich sterb’ tapfer – jenen Landen

will ich meine Kampfhand leih’n.


 

Die Dunkelheit mit klammen Fingern

 

Die Dunkelheit mit klammen Fingern

hält fest das Eis, tagaus, tagein,

die Sonne gibt nur Stippvisiten

und lugt nur ein paar Stunden rein.

 

Der Schnee liegt wie ein kaltes Laken

auf tief gefror’nem Erdengrund,

selbst der Riese Surtur zittert

tief in der klammen Gletscher Schlund.

 

Umwunden mit eiskalten Ketten

der Krokus träumt in dem Verlies,

das ihn die Schreckensmacht des Winters

für Monate beziehen ließ.

 

Doch weiß sogar der mächt’ge Winter,

dass seine Herrschaft ist auf Zeit,

denn in der Nacht ganz ohne Sonne

ist Sommerluft nicht wirklich weit.

 

Drei Mal rollt der Mond den Himmel,

dann ist der Winter schon passe!

Drei Mal rollt die weiße Scheibe,

und kein Mensch denkt mehr an Schnee.

 

Drei Mal rollt lunares Leuchten,

und das Grün weicht bunter Pracht.

Drei Mal noch die runde Kugel

– der Krokus träumt in kalter Nacht.


 

Reduzierungen

 

Wer Götter ständig reduziert

auf „Deutsch“ oder „Germanen“,

reduziert das Göttliche

herab auf lauter Namen.

 

Wer Altes dumm rekonstruiert,

und Edda-Silben zählet,

der leider statt Lebendigem

das Tote nur erwählet.

 

Wer Titel häuft auf seinem Haupt

aus ungebroch’nen Reihen,

der verwechselt Titel mit

des Götterodems Weihen.

 

Wer Wikinger tief rezipiert

– auch gerne deren Jugend –

für den ist Ehre Treue noch

und Gehorsam Tugend.

 

Die Götter selbst bleiben nicht steh’n,

sie leben durch die Zeiten.

Denn nur ein Gott, der heute ist,

der darf mich jetzt begleiten.


 

Wenn schneeige Massen

 

Wenn schneeige Massen

auf Straßen, den nassen,

Verkehrskavalkaden

im Gestöber abladen.

 

Wenn Wasser gefroren

an Nasen und Ohren,

wenn rutschige Gassen

den Verkehr stehen lassen.

 

Wenn Nebelwogen

durch Täler gezogen,

wenn grimmige Winde

ich überall finde.

 

Die nordischen Recken

tu neu ich entdecken,

denn ich steh den Sippen

viel näher als Krippen.


 

Wenn von Atlantis weisen Scharen

 

Wenn von Atlantis’ weisen Scharen,

die Herrscher in der Vorzeit waren,

die Recken landeten am Strand

und brachten Wissenschaft dem Land,

um Geist und Seele aufzuklaren;

 

Wenn von Atlantis’ klugen Weisen,

die endlos durch die Urzeit reisen,

das Wissen leuchtet wie ein Stern

(gepriesen wird es heut noch gern)

und uns’re Träume darum kreisen –

 

Atlantis, Reich der Hochmagie,

der Traum von dir, er endet nie.

So mancher als dein Sohn erkoren

zurzeit darum wiedergeboren –

hier ist oft Wissen Phantasie.

 

Denn oftmals ist’s nicht das Blut

das weckt in manchen Seelen Mut.

Es ist nur ein marmorner Traum

aus ‘nem erfund’nen Weltentraum,

weder Asche hier, noch Glut.

 

Was malt des Künstlers bunter Pinsel

von jener Unterwasserinsel –

in Farben, welche jeder kennt

und man zu Recht phantastisch nennt –

ist selten Fluss und oft Gerinsel.


 

Wilde Jagd

 

Es braust vom Berg ein Donnersausen,

und harter Hufe Funkenschlag,

mit Blitzen aus der Wetterwolke –

die wilde Jagd, nur einen Tag.

 

Die wilde Jagd, nur einen Tag

kündet der Raunächt’ Ende an.

Erst, wenn ihr Ritt durch’s Nächt’ge brandet,

das neue Jahr beginnen kann.

 

Das neue Jahr beginnen kann,

wenn die wilde Rotte ritt.

Mit auf ihren Geisterpferden

reitet meine Hoffnung mit.

 

Reitet meine Hoffnung mit

für ein friedensvolles Jahr,

weiß, dass nun kein Krieg beginnt,

weil der Ritt einnächtig war.

 

Weil der Ritt einnächtig war

Verbring’ ich eine Nacht im Grausen –

und hör’s das nächste Jahr erneut –

es braust vom Berg ein Donnersausen!



[14] Ja, das ist im Originaltext eine Lücke …

[17] Ich vermute, in den Zeichen „ und – sind geheime Informationen verborgen, die mir hier im Satz entgehen.

[23] S. 10; online findet sich folgender Hinweis, wobei ich darauf hinweisen möchte, dass „Rainer Schmidt“ kein wirklich seltener Name ist: „Diesen Vorwurf lässt Thor Steinar an sich abprallen. Rainer Schmidt, Leiter des Rechtsbüros bei Mediatex, sagte stern.de: »Wir können unseren Kunden nicht in die Köpfe gucken, und es interessiert uns auch nicht.«„ (http://www.stern.de/panorama/thor-steinar-versus-storch-heinar-rechter-angriff-auf-den-fuehrer-storch-1585270.html; 21.11.2010)

[24] S. 20

[25] S. 2

[26] S. 34

[27] S. 19; letzterer heißt wohl eigentlich „Kersken-Canbaz, findet sich unter www.kc-verlag.de im Netz und vertreibt auf der Startseite von Nemenyis „Kommentar zu den Götterliedern der Edda“ (21.11.2010).

[28] S. 172; der Text ist eine Kürzung des Textes des Wikipedia-Artikels (http://de.wikipedia.org/wiki/Germanische_Glaubens-Gemeinschaft_(Géza_von_Neményi) [24.11.2010])

[29] S. 174

[30] S. 30, S. 104 und S. 181

[31] S. 20

[32] S. 166

[33] S. 104

[35] S. 149

[37] S. 150

[39] S. 158

[40] S. 189

[41] S. 33

[42] S. 89

[43] S. 20

[44] S. 11

[45] S. 184

[46] S. 98

[47] S. 198

[52] Bolingbrook, Illinois, USA, 2003

[53] S. 138

[56] ebenda

[57] ebenda

[62] Peter Gola & Georg Wronka „Handbuch zum Arbeitnehmerdatenschutz“, 5. neu überarbeitete und erweiterte Auflage 2010

[63] Gola/Wronka, S. 171

[64] Peter Gola/Georg Wronka „Handbuch zum Arbeitnehmerdatenschutz“, 5. neu überarbeitete und erweiterte Auflage, 2010

[65] Gola/Wronka, S. 207

 

 

 

 


 

 

 


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