Homo Magi - Teambeitrag

Der Kurfürst

Das etwas andere Kurtagebuch

Tag 1

Tag 1

Hätte ich vorher gewusst, was es heißt, eine Kur zu absolvieren – hätte ich es trotzdem gewagt? Ich weiß es nicht. Im Nachhinein schaut man den Papierberg hinunter, den man ohne Atemgerät erklommen hat, und fragt sich zu Recht, wie man da hoch gekommen ist.

Ich habe es geschafft. Und als ich im Zug, bei der Anfahrt auf Wunselstein, die letzten Unterlagen ausfüllte, wurde mir beim Betrachten der Ankreuzfelder und Fragen wieder einmal klar, dass nur diejenigen, die wirkliches Leiden erfahren hatten, auch diese letzte Herausforderung meisterten.

„Welche Krankheiten sind bei Ihnen in der Familie bekannt?“ Souverän trug ich „Beulenpest, Cholera, Beri Beri“ und viele, viele andere Krankheiten ein, die bei uns in der Familie „bekannt“ sind. Okay, keiner meiner Verwandten hat eine dieser Krankheiten – aber wir haben davon gehört. Wer keine klaren Fragen stellen kann, der kriegt auch keine klaren Antworten.

„Sind sie schwanger? Ja Ÿ Nein Ÿ Ungewiss Ÿ“ Ruhig, fast zu beherrscht, machte ich mein Kreuzchen bei „Ungewiss“, warf dieses letzte Formular in meine Mappe zu seinen Geschwistern und schaute aus dem Fenster, wo die ersten Gipfel der Alpen zu erblicken waren.

Schon beim heimatlichen Blick in die Reiseführer war mir etwas Wichtiges über meinen Kurort klar geworden. Der liebe Gott hatte Wunselstein sicherlich in das bayerische Moor gesetzt, damit es versinken möge. So frei von anti-bayerischen Vorurteilen trat ich meine Reise an.

 

Ich weiß nicht, welcher Teufel mich ritt, als ich meine Kur so legen ließ, dass sie am Faschingsdienstag beginnen würde. Bis München verlief die Zugfahrt fast normal – „fast normal“ deswegen, weil etwa eine halbe Stunde vor der bayerischen Landeshauptstadt die ersten Karnevalisten den Zug betraten. Besonders apart fand ich die beiden Herren, die sich als Teufel und „Mann mit übler Brandverletzung“ verkleidet hatten. Der Teufel sah richtig gut aus – die Hörner waren mit irgendeinem Kosmetikkleber angebracht, so dass eine Halterung nicht sichtbar war. Auch die Brandverletzung war gut geschminkt – wenn es denn Schminke war. Vielleicht waren auch die betrieblichen Fahrtkosten in der Hölle zusammengestrichen worden, und Verstorbene mit langem Sündenregister wurden mit öffentlichen Verkehrsmitteln in die Unterwelt geleitet.

Ab München stieg ich in einen Regionalzug um, der mich nach Wunselstein bringen würde. Nach der Konfrontation mit dem Teufel im Zug war ich nicht wirklich überrascht, als auf dem Bahnsteig meines Zielbahnhofs eine Kindergruppe tobte, die sich als Teufel verkleidet hatte. Scheinbar ist das katholische Bayern gerade in Fastnachtszeiten darum bemüht, seine klerikale Freizügigkeit zu betonen.

 

Am Bahnhof wurde ich von einem Bus der Klinik abgeholt. Die Wagenfenster waren nicht vergittert, was mir erste Illusionen über meinen Aufenthalt raubte.

Ich meldete mich beim Empfang an. Eine freundliche Schwester nahm mich entgegen und geleitete mich in mein Zimmer. Dort warteten – Überraschung! – schon meine Koffer auf mich, die ich vorgestern mit einem Kurierdienst weggeschickt hatte. Es ist angenehm, wenn man nicht auf die Notunterhose und das Waschzeug im Handgepäck zurückgreifen muss ... und wenn das eigene Gepäck glücklich in Wunselstein statt in Wanselstein in der Tschechei oder Wondelsteen in Australien gelandet ist.

Man erklärte mir auch freundlich, wie man die Telefonkarte mit Geld auflädt (das tat ich, damit ich ab jetzt auch raustelefonieren konnte) und wie man einen Fernseher mietet (hierauf verzichtete ich, da ich die Zeit mit Lesen verbringen wollte).

Dann hatte ich ein kurzes, aber sehr nettes Gespräch mit der Stationsärztin, die mich verschiedene Dinge fragte. Unter anderem wollte sie von mir hören, welche Therapieformen ich mir wünschte. Leider fiel mir außer Massage und Krankengymnastik nichts aufregendes ein – jetzt wäre wahrscheinlich der Zeitpunkt gewesen, wo man Bungeejumping und Paragliding angeben kann. Ich verpasste diesen Punkt. Traurig war ich nur später, als ich erfuhr, dass es eine Volleyballgruppe gegeben hätte. Sie entging mir, weil ich damit beschäftigt war, mir zu überlegen, ob Paragliding jetzt eine passende Antwort wäre.

 

Zum Mittagessen kam ich dann zu spät. Aber man hatte mir ein Essen aufgehoben, so dass ich nicht verhungern würde. Wie in den osteuropäischen Hotels vor der Öffnung der Mauer darf man sich im Essensraum nicht selbst einen Platz suchen, sondern wird eingewiesen. „You will be seated“ hieß es dort immer so schön auf englisch (aber nur deswegen, weil ich kein tschechisch oder polnisch verständen hätte!).

Abends lernte ich dann meine Tischgemeinschaft kennen. Ein Herr Ende 40, der von Beruf – dem Äußeren nach zu schließen – Gemüse- oder Waffenhändler war, eine freundliche Wirtin Ende 50 und eine Dame aus Sachsen, deren Alter ich in der selben Marge angeben würde. Meinen Schock – das Alter meiner Tischnachbarn betreffend – überwand ich leichter als den Schock der Schlange am Abendbuffet. Nein, es war nicht das Essen, das mich verschreckte. Neben dem Buffet stand ein tragbares Radio, und während ich anstand, tönte die „Spider Murphy Gang“ aus demselben. Ich hätte noch am Tag vorher bei Gott geschworen, dass kein deutscher Radiosender mehr „Spider Murphy Gang“ spielt. Aber ich hätte diesen Schwur unwissentlich ohne Einbeziehung der bayerischen Radiostationen gemacht, deren musikalisches Spektrum sich zwar auf alle Stilrichtungen, aber nur in bayerischer Mundart zu beschränken scheint.

 

Als ich nach dem Essen noch einen Kaffee in der Cafeteria trinken wollte, musste ich feststellen, dass ich die Cafeteria zwar betreten, aber nicht mehr verlassen konnte. Ein freundlicher Geist gestikulierte von außen hinter der Glastür und zeigte mir, wo innen der Öffnungsmechanismus verborgen war. Okay, man fand ihn unproblematisch, wenn man vor der Tür einfach vier Meter zurückwich und dann den Kopf nach ganz rechts drehte. Ein weißer Schalter auf weißer Wand, über vier Meter von einer Glastür entfernt – cleverer Trick, um die Kunden zum weiteren Konsum an den Automaten zu bewegen!

In späteren Tagen gab ich diese Einführung gerne weiter und verhinderte, dass die Putzkommandos am nächsten Morgen verhungerte Patienten aus der Cafeteria beseitigen mussten.

Jede Woche fluten neue Menschen in die Klinik – Gestrandete, die nicht einmal einen festen Platz im Essenssaal haben, vom Schicksal verworfene, die sich nun allein dem Fremden gegenüber sehen – dem fremden Kaffeeautomaten, dem fremden Türöffner ...

 

 

Hermann Ritter

 

       

 

 

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