Homo Magi - Teambeitrag

Der Kurfürst

Das etwas andere Kurtagebuch

Tag 7-9

Tag 7

Vor der Frühgymnastik gab ich meinen Medikamentenzettel ab – leer, ich kann doch nicht den ganzen Dreck schlucken, den man mir hier eintrichtern will.

Nach der Frühgymnastik (dankenswerterweise die „Beatles“, statt „Cher“ oder der „Spider Murphy Gang“ ...) war es immer noch nicht Zeit für das Frühstück. Erst hatte Gott (oder wer auch immer hier die Terminverwaltung unter sich hatte) das Moorbad auf meinen Tagesplan gesetzt. Wenn man dann also nach diversen Gängen und Arbeiten zum Frühstück geht, ist man auch für trockenes Brot und ein Glas Wasser dankbar. Eine Maßnahme, die natürlich die Kosten der Behandlung senkt.

Beim Frühstück konnte ich dann dank der Hilfe meiner Mitgefangenen den Wahlzettel für das Essen ausfüllen – das ist nicht so einfach, wie es auf den ersten Blick klingen mag! Man hat die Wahl zwischen immerhin sechs Speisen. Okay, nach einer Weile hat man raus, dass man hier schrecklich verarscht wird. Aber die Wahlmöglichkeiten klingen beeindruckend. Drei Gerichte sind mit Fleisch, drei sind vegetarisch. Aber die vegetarische Version ist nichts anderes als das normale Essen, nur wird das Fleisch durch Gemüse oder Tofu ersetzt. Die beiden anderen Varianten sind „reduziert“ und „Diät“ – also hat man eigentlich immer die selben Zutaten, manchmal wenig oder viel („Diät“, „reduziert“ oder normal), manchmal mit Fleisch oder ohne. 60% des Angebotes sind bei allen sechs Wahlmöglichkeiten identisch. Die Welt will betrogen werden!

 

Nach dem Essen begann ich dann – vielleicht durch das Moorbad am frühen Morgen beeinflusst? – ein wenig zu halluzinieren. Das Treppenhaus roch nach Heu (wegen der Heubäder), Wasserautomat und Fahrstuhl waren kaputt (daher schleppte ich mich durstig die Treppe hoch). Scheinbar war das hier eine Belastungsprobe für meinen Kreislauf. Es war nicht sehr überraschend, dass ich dann in der Entspannungsgruppe nach wenigen Atemzügen auf der Couch eingeschlafen bin. Angeblich habe ich nicht geschnarcht und wurde wach, als die halbe Stunde vorbei war. Hierfür brauche ich aber eigentlich keine Entspannungstechnik zu erlernen – die Übermüdung langt!

Tag 8

„Keine Details!“, so müsste man diesen Absatz überschreiben. Oder minderjährige Leser bitten, ihn zu überspringen. Nun gut. Da bekommt man als Test für die Funktionen von Nieren und was auch immer einen riesigen Eimer (Plastik, durchsichtig, drei Liter) und eine Kanne (Plastik, durchsichtig, ein Liter) ausgehändigt, um über 24 Stunden hinweg die eigenen Urinmengen zu sammeln. Klingt verlockend – besonders wenn das heißt, dass man innerhalb der nächsten 24 Stunden nur in seinem WC und nur in diesen Eimer pinkeln darf. Wer mir nicht glauben will, dass das manchmal ganz schön belastend sein kann, der soll es mal ausprobieren ... um dann Harndrang zu spüren, wenn man am anderen Ende der Klinik ist.

Am nächsten Morgen stellt man den Eimer dann in einen Urinsammelraum (ja, so etwas gibt es in guten Kliniken) und wartet dann nervös auf die Ergebnisse. Obwohl ich mir große Mühe gegeben habe, immer brav in meinem Zimmer zum pinkeln verschwand und den ganzen Tag trank wie ein Kamel, hatte ich doch deutlich weniger als 1 ½ Liter zusammenbekommen. Und dann trägt man seine wertvollen Rohstoffe in den Urinsammelraum und stellt voller Schrecken fest, dass es Menschen zu geben scheint, die mit dem 3-Liter-Eimer nicht auskamen und auch noch das andere Behältnis füllen mussten. Entweder, diese Menschen haben den ganzen Tag getrunken oder sie haben Hilfspisser eingestellt, die bei ihnen in den Eimer pinkeln mussten. Hey, das ist doch nicht normal, oder?

Nicht genug, dass man Urin abgeben muss, wird danach auch noch das Blut verlangt. Scheinbar sammeln Klinikärzte gerne Körperflüssigkeiten. „So, wir hätten jetzt gerne von ihnen all ihr Urin, zwölf Kanülen Blut, 0,3 Liter Tränenflüssigkeit und füllen sie doch bitte diesen Luftballon mit Sperma!“ Das sind Träume, die einem wirklich Angst machen können.

Bis zum Nachmittag war ich dann soweit erholt, dass ich mich auf die beiden „Highlights“ des Tages vorbereiten konnte.

Das erste war die Wassergymnastik. Heute waren es mal keine Gummischlangen, die man sich zwischen die Schenkel stecken musste, sondern wir durften Ball spielen. Erst mussten wir den Ball unter Wasser zwischen den Beinen nach hinten reichen (was ultradoof aussieht), dann wurden wir in zwei Mannschaften eingeteilt und durften mit einem Ball, der mindestens einen Meter Durchmesser hat, Wasserball spielen. Damit meine Mannschaft – die sowieso durch meine geschmeidige Erscheinung jede Gewinnchance verspielt hatte – noch mehr gedemütigt wird, erhielt die gegnerische Mannschaft die Trainerin zur Verstärkung. Damit waren sie zu fünft, wir zu viert – und wir haben dann auch zu niemands Überraschung verloren. Es ist aber auch wirklich schwer, mit einem solchen riesigen Ball Spielzüge vorzubereiten und durchzuführen. Aber darum ging es wohl nicht. Eher ging es darum, uns auf allen Ebenen zu demütigen. Das ist gelungen.

Das zweite Highlight war das „Reinrotieren“ der neuen Gäste, liebevoll „Frischfleisch“ genannt. Am Abend wurden die leeren Plätze an den anderen Tischen mit neuen Patienten aufgefüllt. Und das Geschnatter, das sonst schon während der Speisen schwer zu ertragen war, wurde heute noch lauter als sonst.

Tag 9

Es ist schon erstaunlich, wie die Krankengymnastinnen und sonstigen Mitarbeiter, die einen den ganzen Tag lang von einer Anwendung zur nächsten hetzen, eine gemeinsame Sprache entwickeln. Der Satz „nun bilden wir ein Mini-Doppelkinn“ hätte mich fast dazu gebracht, die Domain www.mini-doppelkinn.de anzumieten. Schön sind auch Sätze wie „im Sprunggelenk anziehen“, „Bauch anspannen“ und „Füße hüftbreit“. Man lernt bald, welche Standardbewegungen zu diesen Standardsätzen gehören.

Und man lernt auch bald, welche Geräte dem Foltermeister zur Verfügung stehen, wenn man ihm nicht jeden Wunsch von den Lippen abliest. Da gibt es den Hocker, die bunten Bänder und die Stangen, die man hinter seinem Rücken fassen soll. Ich gebe ja zu, dass das wirklich hilft – aber warum können solche Dinge nicht ab und zu so eingesetzt werden, dass man sich nicht fühlt, als wäre man 6 Jahre alt und gerade die zweite Woche im Kinderturnen?

Natürlich ist es so, dass hier jeden Monat neue Patienten durchgereicht werden. Eine echte Bindung zwischen Mitarbeitern und Patienten kann nicht erfolgen, ist vom System her unmöglich. Also sparen die Mitarbeiter auch soviel Zuneigung wie möglich ein, weil sie wissen, dass diese an die Patienten verschwendet ist. Die verwendete Sprache wird verkürzt, vereinheitlicht. Und wenn man sowieso weiß, dass die Patienten in spätestens vier Wochen verschwunden sind, braucht man sich auch keine Mühe zu geben, nett zu klingen. Die Sprache wird bellend, fast zum Befehlston, angefüllt mit Sprachhülsen und -formeln.

Warum mir das an diesem Tag auffiel? Weil ich ganz unterschiedliche Anwendungen hatte – erst die Atemgruppe, dann die Entspannungsübung, die Gymnastikgruppe und dann das Fahrradergometertraining (schweres Wort). Die Anleiter hätten auch einfach gemeinsam erzogene eineiige Zwillinge sein können, so wie die sprachen.

Wahrscheinlich alles Klone, die nur unterschiedlich aussehen und unterschiedlich alt sind. Abzüge von der selben Verhaltensmatritze ...

 

 

Hermann Ritter

 

       

 

 

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