Homo Magi - Teambeitrag

Der Kurfürst

Das etwas andere Kurtagebuch

Tag 2-3

Tag 2

Die erste Anwendung fand ich noch problemlos. Scheinbar hatte ich Glück, weil sie nur zwei Treppenhäuser und einen langen Gang vom Essensraum entfernt war. Man gewöhnt sich erst nach einigen Tagen daran, dass die unterirdischen Behandlungsräumlichkeiten in einem sehr unklaren geographischen Verhältnis zu den oberirdischen Räumlichkeiten stehen. Beim Bau der Klinik hat man wahrscheinlich erst mehrere Meter tief das Erdreich beseitigt, um drei unterirdische Stockwerke bauen zu können. Dann baute man die drei oder vier Treppenhäuser als einzige Verbindung zur Oberwelt und schüttete das Erdreich wieder auf. Jetzt konnte man – völlig losgelöst vom unterirdischen Bauplan der Räumlichkeiten – Speisesaal, Unterbringung und ähnliche Räumlichkeiten oberirdisch anordnen.

Alles, was nach Gymnastik und ähnlichen Anwendungen klang, war im Bauch der Erde versteckt. Und ich brauchte wie gesagt Tage, um mich zurechtzufinden.

An diesem Morgen kam das Faktum störend hinzu, dass wir Aschermittwoch schrieben. Die Ausgangszeiten waren für Fastnacht verlängert worden (ja, hier gab es so etwas wie Ausgangszeiten – abends um 23.00 Uhr verlöschen die Lichter in den Gängen und die Nachtschwestern laufen mit Taschenlampen und Elektroschockern Patrouille), und die meisten Patienten sahen an diesem Morgen übernächtigt und restalkoholisiert aus. Schon die Morgengymnastik um 7.00 Uhr war eine echte Herausforderung – diverse Male hatte ich Angst, dass meine Nachbarn sich übergeben würden. Beim Frühstück gossen dann alle Unmengen Kaffee in sich hinein – das führte immerhin dazu, dass den Resttag über die meisten relativ wach aussahen.

 

Nach dem Frühstück stieg ich in den Keller hinab. Hier hatte ich das besondere Vergnügen, mich meinem ersten Moorbad widmen zu können. Die Einrichtung sah so aus, als wäre sie 1935 eingebaut worden. Später erfuhr ich anhand von alten Katalogen der Klinik, die in einem der Gänge aushingen, dass die unterirdischen Anlagen erst in den 60ern entstanden waren. Ehrlich: So sahen sie nicht aus.

Nachdem ich den Schock durch die Zinkbadewannen und die geschmacklosen Kacheln überstanden hatte, wurde ich gezwungen, unter der Ägide einer Dame, die sich sicherlich als gegnerische Nichtspielerfigur im Computerspiel „Assault on Castle Wolfenstein“ gut gemacht hätte, in die brühwarme Tunke zu klettern.

Nach 15 Minuten in dieser Masse, die auf den ersten Blick wie eine Mischung aus Gulasch und Elefantenkacke aussieht, war ich so kaputt, dass ich mich beim Abduschen mehrmals abstützen musste, um nicht umzufallen. Gierig fiel mein Blick auf das bereitstehende Ruhelager, auf dem ich mich jetzt lang ausstrecken und schlafen wollte. Doch Gerti – wie ich meine ältliche, blonde Pflegerin inzwischen mental liebevoll nannte – hatte anders entschieden. Wegen der heranrauschenden Frühstückspause für Mitarbeiter wurde ich aus dem Keller verjagt.

Draußen lehnte ich mich erst einmal eine Weile gegen die Wand, um nicht ohnmächtig zu werden. Der Service überraschte hier durch perfekte Planung und liebevollen Umgang. Das Moor tat seine Wirkung. Ich taumelte zum Fahrstuhl, überwand meine Klaustrophobie (die Treppe hätte ich nicht mehr geschafft) und fuhr zu meinem Zimmer, um dort für eine Stunde komatös zu schlafen.

Danach lief der restliche Tag etwas an mir vorbei. Ich sah sicherlich jenen Gestalten ähnlich, die am Tag vorher das nette Trinkspielchen „Ex oder Arschloch“ gefeiert hatten – nur war es hier das Moorbad, das mir jegliche Lebensenergie entzogen hatte.

Irgendwie schaffte ich es, bis zum Mittagessen noch eine Gruppengymnastik und ein EKG (mit erträglichen Werten) hinter mich zu bringen. Nachmittags hatte ich dann nur noch einen weiteren Arzttermin (bei dem ich fast eingeschlafen wäre) und einen Massagetermin (bei dem ich dann eingeschlafen bin).

Dieser Abend endete nach einem Abendessen frei von „Spider Murphy“ mit einem Besuch meines Bettes, während draußen noch die Sonne schien.

Tag 3

Nach einer Krankengymnastik zu nachtschlafender Zeit nahm ich dann morgens – vor dem Frühstück – an der Hausführung teil. Diese Führung sollte eigentlich alle Fragen seitens der Patienten beantworten, und daher bekam man alle wichtigen Räumlichkeiten gezeigt. Natürlich die Behandlungszimmer, die beiden Bewegungsbäder, die Waschmaschine und die Cafeteria. Danach hatte man erste Hinweise darauf, wie man sich im Gebäude zu orientieren hatte, und brauchte keine Angst mehr zu haben, in den Gängen verhungert gefunden zu werden. Trotzdem sah ich immer wieder Leute, die Notrationen mit sich herumschleppten. Ich vermute, dass sie dies taten, um in einem der langen Gänge überleben zu können, bis eine Suchmannschaft aus Schwestern und Ärzten sie finden würde.

Nach der Führung ging ich – wenn auch ein wenig gehetzt – frühstücken, da der nächste Termin schon drängte. Eigentlich zur Erholung hier, stellte ich immer wieder fest, dass mein Tagesablauf erstaunlich dicht mit Terminen gefüllt war.

 

Meine Atmungsgruppe wurde heute von jemandem angeleitet, den man nur als „kleine braunäugige Hüpfmaus“ beschreiben kann. Andauernd in Bewegung, andauernd am hüpfen – und wir sollten dann die Bewegungen mitmachen. Schon einmal versucht, andauernd auf und ab zu springen und dabei intensiv einzuatmen? Es ist eigentlich erstaunlich, dass wir nicht reihenweise ohnmächtig geworden sind.

Danach konnte ich mich noch schnell umziehen, dann ging es in das Moorbad. Ich schlief sofort ein – erst auf der Liege im Moorbad und dann wenige Minuten später im Bett auf meinem Zimmer. Der Wecker klingelte zwei Stunden später und erinnerte mich daran, dass ich noch zwei Termine vor dem Mittagessen hatte. Der erste war das Anstehen in der langen Schlange, welche aus Leuten bestand, die ihre Zuzahlung für die Kur leisten wollten.

Erst stellt man sich lange vor dem ersten Zimmer an, um dort dann berechnet zu bekommen, was man an Eigenanteil zu zahlen hat. In dem Zimmer saßen zwei Frauen. Die Bezeichnung „Damen“ kann ich leider wegen ihres Verhaltens nicht verwenden. Beide unterhielten sich nett miteinander, als ich endlich drankam. Sie schauten nicht auf, sondern nur auf ihren Rechnerbildschirm. „Name?“ Ich nannte höflich meinen Namen. „Stimmt das Geburtsdatum soundso?“ Ich bejahte. Dann kam ein Ausdruck aus dem Drucker. Diesen reichte die links sitzende Frau an die rechts sitzende Frau, diese streckte ihren Arm in Richtung Tür aus und meinte höflich „Da!“. Dann war ich entlassen. Ihre Unterhaltung haben sie nur an den nötigsten Stellen unterbrochen, um mir ihre Fragen zuzuraunzen. Ich hätte auch nackt oder mit einem Ashanti-Speer durch die Brust im Raum stehen können – es wäre ihnen nicht aufgefallen, weil sie mich nicht anschauten.

Dankbar, ihnen entkommen zu sein, verließ ich den Raum und reihte mich in die zweite Schlange ein. Nun dank des Papiers zur Zahlung berechtigt, musste ich jetzt die Zahlung nur noch leisten. Deutschland, was wärest du ohne deine Verwaltung!

Gerade noch rechtzeitig schaffte ich es nach dieser sinnlosen Verzögerung, meinen Lungenfunktionstest zu erreichen. Ich pustete ins Röhrchen und war dann endlich mit meinem Programm so weit durch, dass ich zum Mittagessen gehen konnte.

 

Nach dem Essen war wieder ein Jogging durch die Gänge angesagt, um mit Badekleidung rechtzeitig zur Wassergymnastik zu erscheinen. Langsam artete dieser Tag richtig in Stress aus.

Man stelle sich vor: Acht Männer mit Haltungsschäden stehen in einem Schwimmbecken, dessen Wasserspiegel ihnen gerade bis an oder etwas über die Hüften geht. Vorher sollte sich jeder eine „Plastikwurst“ holen – eine etwa armdicke Schaumgummischlange von circa einem Meter Länge. Diese Schaumgummischlangen gab es in den Modefarben pissgelb, ekliggrün und augenschmerzenrot. Diese Schlangen sollte man zwischen seinen Beinen hindurchziehen, so dass sie ungefähr in der Mitte saßen. Dann wurden damit mehrere Runden durch das Wasser gedreht.

Jetzt sagt man Männern nach, dass sie gerne etwas Großes zwischen den Beinen haben – aber müssen es bunte Plastikschlangen sein? Es war nicht so prickelnd, wie ich mir das gewünscht hätte. Und man sieht wirklich absolut bescheuert aus, wenn man mit einer wippenden und hin und her schwingenden gelben Plastikschlange zwischen den Beinen durch ein Kinderbecken stapft.

 

Dankbar war ich dann, als mit diesem Programmpunkt meine aktiven Tätigkeiten für diesen Tag vorbei waren. Jetzt blieben nur noch zwei Vorträge, die ich ertragen sollte, ohne einzuschlafen. Der erste handelte über den Zusammenhang zwischen Krankengymnastik, Kornkreisen und Kronkorken. Zumindest wäre das möglich, weil ich nach dem ersten Satz über Krankengymnastik die Augen nicht mehr aufhalten konnte. Ich habe nicht geschnarcht, aber wohl ein wenig geschlafen. Das hatte immerhin den Vorteil, dass ich zum zweiten Vortrag dann wach war. Dies war der Zwangsvortrag „Begrüßung“, den jeder über sich ergehen lassen musste. Ein Oberarzt pries die Vorzüge Wunselsteins und Bayerns, die Vorzüge des Kuraufenthalts und der ärztlichen Betreuung vor Ort. So stelle ich mir medizinische Kaffeefahrten vor ... Inhaltlich wäre es sicher klüger gewesen, wenn ich im zweiten Vortrag geschlafen hätte, um dafür den ersten zu hören. Aber man kann nicht immer Glück haben.

 

Wie gerädert wankte ich nach diesem Tag zum Abendessen. Danach wollte ich dann noch einen – wirklich nur einen! – Kaffee in der Cafeteria trinken, bevor ich meine tatsächlich wohlverdiente Nachtruhe antrat. Aber wie das so ist: In der Kur ist man von Leuten umgeben, die ein verstärktes Redeinteresse haben. Und so ist es nicht weiter verwunderlich, dass mein Nachbar und ich ins Gespräch kamen. Wenn ich das richtig verstanden habe (und ich war nach den Ereignissen des heutigen Tages rechtschaffen müde und spätestens seit den Gummischlangen der Ansicht, dass ich mich nicht mehr in meiner bekannten Realität befand), dann war er früher Flugzeugentführer. Er hat mit seiner Flugzeugentführung seine Freundin freipressen wollen, die in der Türkei wegen Drogenhandels verurteilt war.

Ich bin ihm in den nächsten Tagen noch mehrere Male in den Gängen begegnet, und er hat mich jedes Mal freundlich gegrüßt. Also kann ich wenigstens nicht ihn oder unser Gespräch halluziniert haben – bei dem Thema bin ich nicht so sicher ...

Aus verständlichen Gründen bin ich danach wie ein Sack Kartoffeln ins Bett gefallen und habe dann traumlos geschlafen.

 

 

Hermann Ritter

 

       

 

 

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