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Magi - Teambeitrag Der Kurfürst Das etwas andere Kurtagebuch Tag 10-12 |
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Tag 10„Zur Eröffnung der Klinik Wunselstein 1936
erschienen neben dem Reichsbademeister und dem Abt von St. Neptolyn, dem
Schutzengel der Moorleichen, auch der Reichsjägermeister und der Reichsrückenarzt.
Es war eine illustre Runde, die Wunselstein für die rückenkranken
Reichsdeutschen öffnete.“ Soweit lässt sich der Prospekt aus dem Jahre 1938,
der im Chefarzt-Flur hängt, über die Vergangenheit der Klinik aus. Es
gibt Tage (wie diesen), wo man gerne zu glauben bereit ist, dass seit 1936
auch keine Neuerungen mehr bei den Geräten stattgefunden haben. Die
ehrenwerten Zinkwannen, in denen man im Moor versenkt wird, atmen diesen
Charme noch aus. An diesem Nachmittag nahm ich an der Wanderung der
„kleinen Route“ teil. Ich möchte ehrlich nicht wissen, was die „große
Route“ gewesen wäre. Abends war ich dann gerade noch fit genug, um mich
mit ein paar Kurgenossen in die örtliche „Biker-Kneipe“ (okay, sie
hatte einen Kicker und einer der Gäste sah so aus, als könnte er ein
Motorrad von einem Roller unterscheiden) zu setzen. Kurz vor Schließung der Tore schafften wir es noch
zurück in die Hallen der Kurklinik. Leider konnten wir dem einen Trinker,
der um 22.59 Uhr eintreten wollte, nicht mehr helfen. Er stand vor der
Glastür, wir standen im Vorraum. Durch Gesten und Brüllen wollten wir
ihm erklären, wie er seinen Schlüssel einführen muss, damit sich die
Glastür für ihn öffnet. Erst schob er den Schlüssel in die falsche Öffnung,
dann schob er ihn falsch herum in den Schlitz. Zu spät stellte sich
heraus, dass er noch dazu in der falschen Klinik war ... Unsere
hilfreichen Kommentare von innen zur Einführung seiner Kennkarte in den
Schlitz waren also sinnlos. Nie im Leben hätte das in der einen Minute
noch geklappt, ihn in die richtige Unterkunft zu lotsen. Tag 11Dankenswerterweise hatte es morgens um 7.00 Uhr –7
C°, so dass wir ebenso dankenswerterweise morgens die Gymnastik im Gebäude
hatten – nicht auszudenken, wie der Raureif geknackt hätte, wenn wir
mit unseren ebenso knackenden Gelenken darauf herumgehüpft wären ... Nach dem Frühstück kam dann das immer wieder
erheiternde Moorbad. Zur Vorbereitung der Anwendung begab ich mich in
schon wieder in den Keller, um dort mit den anderen bestellten Patienten
auf den Beginn der Anwendung zu warten. Doch so einfach war das nicht:
Heute durften wir Patienten ein Kind aufsammeln, dass in den Gängen
unterwegs war. Der Klinik ist die Kinderbetreuung für den Nachwuchs der
hier kurenden Patienten im örtlichen Kindergarten zu teuer, weswegen die
Kinder im Spielzimmer „beschäftigt“ werden. Natürlich finden die
Kinder das nicht so schön und gehen dann stiften. Es ist ein schönes
Bild, wenn fünf Männer mit Bademänteln und Plastiklatschen einem Kind
hinterherlaufen, das in den Gängen herumtollt. Der Tag konnte nicht schlechter werden – so dachte
ich zumindest. Zur Gymnastikgruppe lief dann „Kuschelrock“. Zum
Kuscheln ist einem nicht zumute, wenn man damit beschäftigt ist,
nassgeschwitzt auf einer Matte seinem Körper Biegungen abzuverlangen, die
man ihm schon lange nicht mehr abverlangt hat. Aber: Was soll’s! Die
Gruppenleiterinnen sind nicht angestellt worden, weil sie ein tieferes
Gespür für die menschliche Psyche haben ... Am Anreisetag hatte ich eine weiße Stofftasche
erhalten, auf der Logo und Adresse der Klinik aufgedruckt waren. Es sieht
nicht nur bescheuert aus, wenn man mit dieser Tasche herumläuft (so wie
alle anderen Patienten, die es genauso machen) – man kann die Tasche
auch volltrunken vor Taxifahrern hochhalten, „Brgmnpf“ murmeln und
trotzdem heimgefahren werden. Vom Gruppendruck, der einen zu einem „von uns“
macht, wenn man diese hässliche Tasche trägt, ganz zu schweigen. Tag 12Ein Tag voller eigenartiger Vorkommnisse. Morgens klingelt, als ich gerade mit dem Duschen
fertig war, mein Telefon. Ich eile hin und erfahre, dass ich beim Duschen
irgendwie gegen den Alarmzug gekommen bin. Hätte ich das Telefon nicht
beantwortet, dann wären wenig später Arzt und Schwester bei mir
eingedrungen, um mein nicht gefährdetes Leben zu retten. Wieder einmal Glück
gehabt. Eine Bestandsaufnahme ergab, dass sich in meinen Räumlichkeiten
ein Notzug in der Dusche, einer neben dem Bett, einer neben dem WC und
einer neben der Tür befinden. Irgendwie bin ich ganz froh, dass nicht
noch bestimmte Teile des Teppichbodens mit Alarmkontakten verbunden sind
– ich würde sonst andauernd von Schwestern am Telefon belästigt, weil
ich mir nicht merken kann, welche Stellen der Wand und des Bodens bei Berührung
Alarm auslösen. Die müssen zu viel Zeit haben, diese Schwestern.
Anders ist das System nicht zu erklären, oder? Beim Frühstück hatte ich, als ich wieder einmal in
der Schlange für eine Kleinigkeit zu essen anstand, eine eigenartige
Vision. Ich hatte die Idee, dass die dicke Frau in der Schlange neben mir
auf einmal ihr leeres Geschirr fallen lässt, die Arme nach hinten wirft
und aus geöffnetem Rachen mit lauter Stimme „Die Nacht ist nicht allein
zum schlafen da“ zu singen beginnt. Ich hätte dann meine Sachen fallen
gelassen und danach „Flieger, grüß mir die Sonne!“ intoniert.
Irgendwie weckt dieser Frühstücksraum in mir eigenartige Assoziationen
auf leeren Magen. Vormittags wollte ich dann in die nächste Stadt
fahren, ein wenig konsumieren. Der Zug, dessen Verbindungsdaten man mir
dankbarerweise an der Rezeption meiner Kurklinik aus dem Internet
ausgedruckt hatte, verkehrte aber heute nicht. Eigentlich fährt der nie,
wenn man dem Fahrplan an der Bahnhofswand glauben schenken darf. Ich war
zum Glück nicht der einzige Patient, der auf diesen Phantomzug
hereingefallen ist. Außer mir – man hatte ja viel Zeit, die anderen
kennenzulernen – waren da noch zwei Paare aus den USA, die zu einer
Krebstherapie hier waren, zwei andere Deutsche, die sich mit Rheuma
herumplagten, und ein Eingeborener, dem man wahrscheinlich auch nicht erklärt
hatte, dass die Auskunft der Bahn via Internet geheime Gefahren birgt. Ich durfte 87 Minuten warten, weil ich der modernen
Technik vertraut habe. Computer helfen uns, Zeit zu sparen, die wir nicht
sparen müssten, wenn es keine Computer gäbe. Die Zeit, die uns der
Computer einsparen hilft, verwenden wir darauf, Programme zu installieren,
mit denen wir dann die Zeit sparen können ... Ein Teufelskreis, der uns
in die Abhängigkeit von Softwareherstellern treibt! Und der Slogan der Bahn ist scheinbar weiterhin:
„Genießen sie das Leben in vollen Zügen!“
Hermann Ritter
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