Homo Magi - Teambeitrag

Der Kurfürst

Das etwas andere Kurtagebuch

Tag 19-22

Tag 19

Am Wochenende gibt es immer „Kino“ in der Mehrzweckhalle. Das Wort „Kino“ steht deswegen in Anführungsstrichen, weil man davon eigentlich nicht sprechen kann. Die Sitze sind unbequem, die Tonqualität ist miserabel und das Bild wird auf eine knittrige Leinwand projiziert, damit jeder Versuch, den Film mit Genuss zu sehen, gleich vereitelt wird.

Außerdem werden hier Hollywood-Reißer durchgenudelt, die ungefähr 26 Monate vorher im Kino waren. Während Fluglinien Filme nehmen, die noch nicht wirklich jeder gesehen hat, ist hier scheinbar der Versuch gestartet worden, möglichst Filme zu wählen, die jeder schon einmal gesehen hat.

Am einzigen Abend, wo ich mich dann habe hinreißen lassen, das „Kino“ zu besuchen, war im Nachbarraum gerade ein Gesangsvortrag in Mundart. War schon irgendwie eigenartig – das zerknitterte Bild von „Pearl Harbour“ und dazu bayrische Volkslieder. Nein, länger als drei Minuten habe ich das nicht ausgehalten.

 

Tag 20

Die Wochenenden hier sind sowieso komisch. Eigentlich darf in der Kur niemand nach Hause fahren. Trotzdem beginnt jedes Wochenende die große „Landflucht“ aus Gängen und Fluren. Die Säle sind verwaist, die Hallen leer.

Da es nicht gestattet ist, die Kur zu unterbrechen, sind Horden von geheimen Wochenendheimfahrern unterwegs. Natürlich kneift die Hausverwaltung beide Augen zu, denn selbst einem mathematisch nur schwach begabten Menschen dürfte auffallen, dass bestimmte Menschen am Wochenende zu keiner der sechs Mahlzeiten erscheinen. Wenn sie im Gebäude bzw. wenigstens im Ort sind – warum erscheinen sie dann nicht zu den Mahlzeiten?

Die Gegenbewegung zu den Wochenendflüchtlingen sind die Familiensymbionten. Sie haben es verinnerlicht, dass sie die Kur nicht für ein Wochenende unterbrechen dürfen, und so verbringen sie die Wochenenden (oder zumindest einen Teil davon) im Kreis „ihrer Lieben“. Sie sitzen schon Samstag morgens in normaler Kleidung im Foyer und warten auf das Eintreffen von Frau und Kindern, Schwiegereltern und Onkeln. Die ersten Floskeln werden ausgetauscht („Du siehst aber gut aus!“, „Ja, Schatz, ich habe genug Wäsche mit“ und „Nein, ich kann jetzt keine Führung durch die ganze Anlage machen“), dann geht man im Ort „eine Kleinigkeit“ essen, küsst sich abends zum Abschied und schon ist man wieder alleine, um sich während der Kur zu erholen ...

 

Tag 21

Es ist erstaunlich, mit welcher Selbstverständlichkeit Kurgäste über ihre Behinderungen reden. Kaum sitzt man mit Leuten, die man vorher noch nie oder vielleicht nur zwei oder drei Mal kurzzeitig im Speisesaal gesehen hat, an einem Tisch in der Cafeteria, schon dreht sich das Gespräch um Krankheiten, Medikamente und Behandlungsmethoden. Und was wird hier nicht an Registern gezogen! Von unheilbaren Krankheiten im Bekanntenkreis über Medikamente ohne europäische Zulassung und Wunderkuren aus den USA bis hin zu Bestrahlungen, Arbeit mit wundertätigen Yogis und einer Diät, welche die „giftigen Zellen“ im Körper verhungern lässt, kriegt man hier alles geboten.

Ich bin nach solchen Gesprächen immer sehr dankbar, dass die Kur nicht dazu führt, dass man sich in der selben Offenheit über Ekzeme oder Form und Farbe des eigenen Stuhlgangs auslässt. Es gibt doch noch Grenzen des guten Geschmacks.

Im nahe gelegenen Tanzpalast hatten wir bei jedem Besuch die Gelegenheit, der kapitalistischen Variante von 40:60 zu lauschen. In der DDR stand 40:60 für die Einteilung „40 % Westmusik, 60 % Ostmusik“ bei Tanzveranstaltungen. Hier in Bayern hat sich dieses Prinzip ganz anders durchgesetzt. Auf 40 % tanzbare Titel kamen 60 % Gehörgangvernichter. Immer dann, wenn man gerade stand und tanzte, konnte man sicher sein, dass das nächste Stück jeden von der Tanzfläche vertrieb.

Ist wohl so in solchen Gegenden. Widerstand ist zwecklos.

Tag 22

Der Abreisetag. Uff. Endlich hatte ich es geschafft, die Kur hinter mich zu bringen. Die Abreisevorbereitungen waren dann noch stressiger als erwartet. Natürlich wollte man morgens noch mein Gewicht, meine Blutwerte und meine Größe. Als hätte man nichts besseres zu tun, wenn man am selben Tag abfahren will ...

Das Gepäck hatte ich rausgestellt und mit Aufklebern versehen. Es war auch wirklich am vereinbarten Tag bei mir daheim.

Am Tag vorher hatte ich schon das abschließende Doktorgespräch hinter mich gebracht. Überraschend war für mich keine der Erkenntnisse, die man mir hier präsentierte.

Als es dann mit dem klinikeigenen Bus zum Bahnhof ging, packte mich fast so etwas wie Wehmut. Seufz. Nach drei Wochen hier hatte ich mich schon fast an den schönen Blick und an die gute Luft gewöhnt. Aber der Dialekt – nein, für einen längeren Aufenthalt hier bin ich nicht gemacht. Froh war ich dann doch, als der Zug den Bahnhof verließ und ich Wunselstein, die Berge und meine Kur hinter mir lassen konnte.

 

 

 

Hermann Ritter

 

       

 

 

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